560 likes | 895 Views
Gramp Ein Mann altert und stirbt. Die Begegnung einer Familie mit der Wirklichkeit des Todes (1970-1974) Von Mark Jury und Dan Jury Aus dem Amerikanischen von Edwin Ortmann Berlin/Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 1982, 3. Auflage 1988. Frank Tugend (1892-1974). Einleitung.
E N D
Gramp Ein Mann altert und stirbt Die Begegnung einer Familie mit der Wirklichkeit des Todes (1970-1974) Von Mark Jury und Dan Jury Aus dem Amerikanischen von Edwin Ortmann Berlin/Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 1982, 3. Auflage 1988
Einleitung • Am 11. Februar 1974 nahm der einundachtzig-jährige Frank Tugend – geistig zweifellos verwirrt, körperlich jedoch völlig gesund – sein künstliches Gebiß aus dem Mund und erklärte, daß er nichts mehr essen oder trinken wolle. Er starb drei Wochen später, auf den Tag genau. • Sein Tod beendete eine drei Jahre währende Prüfung und eine ebenso lange Aufzeichnung eines schrittweisen, aber unwiderruflichen Verfalls. • Mit Fotoapparat und Tonbandgerät haben wir Frank Tugends Auseinandersetzung mit jenem Übel dokumentiert, das von den einen als Vergreisung, von den anderen als Arterien-verkalkung oder allgemeine Arteriosklerose bezeichnet wird.
Einleitung • Im Alltagsleben bedeutete es, daß Frank Tugend splitternackt vor dem Aussichtsfenster im Wohn-zimmer herumstand, daß er sich mit einem roten Riesenhasen unterhielt, der im Eisschrank lebte, oder daß er die Toilette nicht mehr rechtzeitig erreichte. • Doch nichts an diesen Ereignissen ist ungewöhn-lich – es gibt Abertausende von Familien in jedem Land, die sich in diesem Augenblick mit genau dem gleichen Problem herumschlagen.
Einleitung • Wir waren eine dieser Familien: Frank Tugend war unser Großvater. Während der letzten drei Jahre seines Lebens haben wir seine und unsere Erfahrungen festgehalten. • Und wir mußten uns – wenige Wochen vor seinem Tod – entscheiden, ob wir es zulassen sollten, daß er in ein Krankenhaus gebracht und dort künst-lich ernährt würde. • Aber nachdem Gramp unmißverständlich gezeigt hatte, daß er sterben wollte, beschlossen wir, daß er zu Hause sterben und seine menschliche Würde nicht verlieren sollte.
Einleitung • In den letzten Monaten, in denen die Leute aus unserer Gegend sicherlich glaubten, daß Gramp seinen „Verstand verloren“ hat, ließ sich bei den Tugends, wo sonst ein reges Kommen und Gehen war, kaum mehr als ein halbes Dutzend Besucher blicken. • In dieser Zeit lernten wir vieles über Gramp und vieles voneinander. Doch am meisten lernte jeder von uns über sich selbst.
Ein Fremder in seiner und unserer WeltJuli 1970 • Wann ES begonnen hat keiner von uns weiß es. • Blickt man zurück, so gab es sicherlich viele warnende Vorzeichen. • Dann kam der Tag, an dem Gramp seinen Wagen in die Garage fuhr und nie wieder anrührte. • Da Gramp ein sehr bescheidenes Leben führte, hielten sich die Schwierigkeiten, in die er durch seine „Vergeßlichkeit“ und Verwirrtheit geriet, in Grenzen.
Ein Fremder in seiner und unserer WeltJuli 1970 • In einem Zeitraum von ungefähr zwölf Monaten verwandelte sich Gramps Persönlichkeit – schrittweise zwar, aber dennoch endgültig. Der scheue und zuvorkommende Mann wurde aus-gesprochen grantig. • Wir versuchten, über solche Bemerkungen hin-weg zu gehen. Aber gleichzeitig waren wir mit einer Entwicklung konfrontiert, die unsere Besorgnis erregte. • Gramp passierte etwas, was wir sein „Malheur“ nannten – er schaffte es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette. • Er wurde ärgerlich und streitsüchtig, wenn die Rede darauf kam.
Ein Fremder in seiner und unserer WeltJuli 1970 • Als wir im Frühjahr den Garten herrichteten, war Gramp manchmal völlig verwirrt. • „Glaubst du, daß der Kerl was dagegen hat, wenn wir sein Land umgraben?“ fragte er mich ängstlich. • „Aber es ist doch dein Land, Gramp“, erwiderte ich. • „Gramp hat mich gefragt, was mit ihm los sei“, erzählte Dan. „Er sagte, er habe nicht gewußt, wer die Leute um ihn herum seien. Das habe ihm Angst gemacht.“
Angewiesen auf „die beiden Kerls“Juni 1971 • Gramps zunehmende Abhängigkeit von uns begriffen wir erst, als wir feststellten, daß er sich nicht mehr selbst rasieren konnte. • Gramps Probleme aber erschöpften sich nicht in seiner Unfähigkeit, sich zu rasieren. Immer häufiger erkannte er uns nicht mehr, wußte nicht mehr, wer wir waren. • Und da er seine eigene Bestürztheit in diesen Augenblicken nicht ertrug, zog er sich mehr und mehr zurück. • Es wurde immer sichtbarer, daß er unter schweren, zunehmenden Verhaltensänderungen litt.
Angewiesen auf „die beiden Kerls“Juni 1971 • Wir beschlossen, zu unserem Hausarzt zu gehen, um herauszufinden, ob Gramp medizinisch irgendwie zu helfen sei. • Gramp, bis dahin ungewöhnlich gesund, war mit seinen 78 Jahren nur ein einziges Mal beim Arzt gewesen – wegen eines verstauchten Hand-gelenks. • Beim Gespräch mit dem Arzt brachte Gramp Orte, Zeiten und Personen durcheinander. • Dr. Kline erklärte uns die Folgen einer Arterien-verkalkung und verschrieb Gramp ein Kreislauf-mittel. Schließlich warf er die Frage auf, ob Gramp nicht in ein Pflegeheim gehörte.
Angewiesen auf „die beiden Kerls“Juni 1971 • Ich erklärte ihm, daß wir Gramp nirgendwohingeben, sondern lediglich sichergehen wollten, daß auch in medizinischer Hinsicht alles für ihngetan würde. • Als wir im Begriff waren zu gehen, packte mich Gramp am Arm, schaute sich mit einem komplizenhaften Blick um und flüsterte mir zu: „Weißt du, der Kerl, dem dieser Laden gehört, der zieht einem wirklich das letzte Hemd aus, aber nimm‘s ihm nicht übel, er ist so freundlich dabei.“
Angewiesen auf „die beiden Kerls“Juni 1971 • Gramp schaute stundenlang aus dem großen Wohnzimmerfenster in eine Welt hinaus, die allein in seinem Kopf existierte.
Paprikaner, Mondschwänzler und ein paar FadenscheinisJuli 1972
Paprikaner, Mondschwänzler und ein paar FadenscheinisJuli 1972 • Wir lernten neben den roten Hasen eine bunte Fülle der verschiedenartigsten Geschöpfe kennen, die Gramps ureigene Welt bevölkerten. Sie hatten wundersame Namen – da gab es Paprikaner, Mondschwänzler, Fadenscheinis, Rülpsaugen und die allgegenwärtigen Aufderlauergeier. • Auch Gramps Art, sich anzuziehen, wurde immer fantasievoller. Einmal trug er über zwei paar Boxershorts zwei paar lange Hosen, die eine von innen nach außen gewendet. • Oder er benutzte einen Damenstrumpf als Schal, zu dem er sich als Kopfbedeckung ein Badetuch auserkoren hatte.
Paprikaner, Mondschwänzler und ein paar FadenscheinisJuli 1972 • In vieler Hinsicht wurde Gramp ebenso kindisch wie kindlich. Wenn er ganz einfache Dinge tat – die Post vom Briefkasten zu holen oder den Mülleimer rauszubringen –, so wollte er hinterher dafür gelobt werden. • Doch Nan (seine Frau) fand fast nie ein lobendes Wort für diesen erwachsenen Mann, der seine alltäglichen Pflichten „vernachlässigte“. • Gramps bizarre Art, sich anzuziehen, zusammen mit seinem unberechenbaren Verhalten bedeutete das Ende von jahrzehntelangen Freundschaften.
Paprikaner, Mondschwänzler und ein paar FadenscheinisJuli 1972 • Während Nan und Nink durch Gramp eine Anzahl alter Familienfreunde verloren, entdeckte eine Reihe von anderen Leuten diesen völlig ungezwungenen alten Gentleman für sich. • Meine Freunde, die bei uns Station machten, wenn sie in die Gegend kamen, fanden Gramps Gesellschaft hochinteressant, und Dan brachte einen neuen Freundeskreis mit nach Hause – lauter junge Leute, die den Frank Tugend von früher nicht gekannt hatten. • Und während ein Gramp-Satz wie „Komm zu mir mit einer Kappe in deiner Kanne und einem doppelten Aufderlauergeier mit einem Pferd in deinen Händen“ jenen Leuten wirklich Angst einjagte, die schon mit Gramp zusammen im Musikantenverein von Dalton gesungen hatten, so war der gleiche Satz für diese andere Gruppe von Leuten die reinste Poesie.
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973 • „Ich glaube, da kommt noch einiges auf uns zu“, sagte jemand aus der Familie, als wir Gramp dabei entdeckten, wie er sich die Hände im Toilettenbecken wusch. • Und so war es. Als Freunde von Nink zum Kaffee-trinken kamen, nahm Gramp sein künstliches Gebiß aus dem Mund, reichte es dem Mann neben ihm und bat, „Könnten Sie mir das wohl mit Butter bestreichen?“ • Gramp vergaß, wo sein Zimmer lag, und irrte unablässig im Haus herum, bis er völlig erschöpft war. Wo immer er dann auch zur Ruhe kam, fiel er in den tiefsten Schlaf. • Nichts war sicher vor seinen neugierigen Händen – er nahm den Ofen auseinander, warf den Weihnachtsbaum um, zerlegte die Stehlampen und montierte alle Türgriffe ab, die er dann auch prompt versteckte.
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973 • Selbst wenn Gramp in sein Zimmer gebracht und buchstäblich ins Bett gesteckt wurde, stand er mitten in der Nacht auf und brachte das ganze Zimmer durcheinander. • Er riß das Bettzeug herunter und verstreute es quer durch den Raum, er durchwühlte seine Kommode und leerte seinen Wandschrank völlig aus – all seine Kleidung und Habseligkeiten lagen im Zimmer umher. • Nacht für Nacht wiederholte er dieses „Ritual“.
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973 • „Aus irgendeinem Grund verwechseln die Leute, wenn sie senil werden – das heißt, wenn sie ein organisches Hirnsyndrom entwickeln – den Tag mit der Nacht. Sie irren dann die ganze Nacht umher. • Und darin liegt das eigentliche Problem des Alterns – die Familie muß sich buchstäblich rund um die Uhr als Krankenschwester betätigen. • Wäre der alternde Mensch immer nur am Tag oder immer nur sechs oder acht Stunden lang pflegebedürftig, so wäre das tragbar. • Doch es sind jeden Tag vierundzwanzig Stunden, und das macht es für die Familie so schwierig, für die Alten zu sorgen.“ Dr. Ben Kline, Hausarzt
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973 • Der Morgen war für Gramp die schwierigste Zeit. Im Vergleich zu seiner rastlosen Unruhe während der Nacht wirkte Gramp am Morgen oft wie betäubt. • Als er eines Morgens auf alle Versuche Ninks, ihn zu wecken, überhaupt nicht reagierte, begann seine Tochter sich zu ängstigen und rief: „Vater! Papa! Wach auf! Fehlt dir etwas?“ • Und Gramp wälzte sich herum, öffnete das eine Auge einen Spaltbreit und fragte: „Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?“
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973 • Gramp war nicht mehr in der Lage, sich anzu-ziehen. Immer wenn er aufstand, mußte einer von uns dabei sein. • Gewöhnlich suchten wir zuerst nach seinem Gebiß, das er fast jede Nacht versteckte. • Und wenn ihm wieder so ein „Mißgeschick“ passiert war, mußten wir ihn saubermachen. • Wir machten auch Frühstück für ihn und halfen ihm beim Essen. • War er einmal angezogen und hatte er gefrüh-stückt und schon etwas Gesellschaft gehabt, so kam er auf eine erstaunliche Weise wieder zu sich selbst und fand sich in seiner eigenen Welt zurecht.
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973 • Innerhalb nur weniger Monate fiel dieses morgendliche Wiederauftauchen immer kläglicher aus. • Außerdem zog Gramp sich jetzt von der Familie zurück. • Nachdem er zwei Jahre lang „tagtäglich auf Trab“ gewesen war, saß er jetzt am liebsten allein in seinem Zimmer. • Und da er nun während der Nacht auch aus dem Bett fiel, legten wir, um ihn vor Verletzungen zu bewahren, seine Matratze auf den Fußboden.
Haben sie den Osterhasen jetzt schon umgebracht?September 1973
Bei Gott, es ist eine qualvolle PrüfungFebruar 1974 • Gramp konnte seinen Stuhlgang nun überhaupt nicht mehr kontrollieren. • An einem einzigen unbeschreiblichen Tag verwan-delte sich der Haushalt der Tugends in eine Art von militärischem Operationsfeld, auf dem es nur noch um Windeln, Rollen von Toilettenpapier und die aufeinander abgestimmten „Einsatzkomman-dos“ ging, die ihn saubermachten, bevor das nächste „Mißgeschick“ passierte. • Diese Krise kam so unerwartet und brach so heftig über uns herein, daß keiner von uns so richtig merkte, daß die Zeit angebrochen war, vor der wir uns alle gefürchtet hatten. • An diesem Tag sprach Nan die Gefühle eines jeden von uns aus, als sie, zu niemand besonde-rem, sagte: „Bei Gott, es ist eine qualvolle Prüfung!“
Bei Gott, es ist eine qualvolle PrüfungFebruar 1974 • Gramp war über die Entwicklung der Dinge genauso verstört wie wir selbst. • Auf jedes „Mißgeschick“ reagierte Gramp mit einem irritierten Brummton. • Nachdem wir unzählige Male mit ihm auf der Toilette gewesen waren (an diesem Vormittag hatten wir nach dem neunten Mal aufgehört zu zählen), sagte Dee: • „Nein, bitte, Gramp, du hast doch nicht schon wieder in die Hosen gemacht, nicht wahr?“ • „Nein“, antwortete Gramp, „das war der andere Kerl.“
Bei Gott, es ist eine qualvolle PrüfungFebruar 1974 • „Der Tag, an dem Gramp völlig die Kontrolleverlor, hat sich mir deshalb eingeprägt, weil Gramp sich von da an nicht mehr wehrte, wenn ich seine Wäsche wechselte – er wollte nur davon befreit werden. • Früher – als er hin und wieder in die Hose pinkelte – hat er sich gesträubt, wenn ich ver-suchte, das festzustellen oder ihn auf die Toilette zu bringen. Er hatte noch dieses Schamgefühl, daß keine Frau damit was zu tun haben sollte, schon gar nicht auf der Toilette. • Aber als das nun passierte, schien er sich damit abzufinden, daß er es selbst nicht mehr schaffte, und so war es ihm nun egal, wer ihn sauber-machte und badete.“ Dee
Bei Gott, es ist eine qualvolle PrüfungFebruar 1974 • Wir riefen Dr. Kline an und berichteten ihm über Gramps jüngste Schwierigkeiten. Er kam und untersuchte ihn. Doch konnte auch er uns keine Patentlösung für unser Dilemma bieten. Er sagte bloß: „Ich glaube, Mister Tugend ist ein Kandidat für dieses und dieses Pflegeheim.“ • Doch er machte seinen Vorschlag so halbherzig, daß keiner von uns mit ihm darüber diskutierte. Trotzdem machte sich Nink die Mühe, die not-wendigen Informationen über das von ihm ge-nannte Heim einzuholen: es sollte 750 Dollar im Monat „zuzüglich Arzneimittel“ kosten. • Außerdem erfuhren wir, daß Gramp zweifellos in einem solchen Pflegeheim „ruhiggestellt“, in bestimmten Situationen am Bett festgeschnallt werden würde – sein ruheloses Auf- und Abgehen hätte man dort nicht geduldet.
Bei Gott, es ist eine qualvolle PrüfungFebruar 1974 • Ohne daß wir eine Lösung gefunden hatten, reiste ich ab; ich mußte nach Florida, um einige längst überfällige Fotoaufträge zu erledigen. • Wir waren jedoch übereingekommen, daß sich die Familie nach meiner Rückkehr zusammensetzen und einige für Gramp notwendige Entschlüsse fassen sollte. • In der Zwischenzeit zogen Dee und Dan zu den Tugends, um dort im Haus mitzuhelfen. • Ich rief von Florida aus an, um mich nach Gramp zu erkundigen. „Es geht ihm ganz gut“, berichtete Dan, „aber er hat sein Gebiß herausgenommen und es mir gegeben. Er sagt, daß er es nicht mehr braucht und daß er nichts mehr essen will.“ • „Er wird schon wieder essen, wenn‘s ihm besser geht und wenn er Hunger kriegt“, sagte ich.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • Gramps Zustand hatte sich verschlechtert. Er weigerte sich noch immer zu essen, trank sehr wenig und wurde jeden Tag etwas schwächer. • Da fiel mir ein, daß er vor einigen Monaten zu Dan gesagt hatte: „Laß uns von hier fortgehen. Sonst besiegen uns noch die Frauen der Jahreszeit.“ • Wenn ich Gramp jetzt ansah, erschien es mir, als habe er mit den unerträglichen Problemen abgeschlossen, die ihm das Leben aufgezwungen hatte. Er war bereit, besiegt zu werden.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • Die meiste Zeit zog er sich in sein Zimmer zurück und weigerte sich, zum Essen zu kommen. • Nink suchte Doktor Kline auf, der ihr erklärte, daß es keine Möglichkeit gebe, Gramp zum Essen zu bewegen – außer der Zwangsernährung in einem Krankenhaus. Ein Ausweg, den die Familie nie akzeptiert hatte. • Die Vorstellung war für uns alle unannehmbar, daß dieser zähe, freiheitsliebende, manchmal so ungemein anstrengende und doch so freundliche und bescheidene Mann, an den Armen Infusions-schläuche, festgeschnallt in einem Krankenhaus-bett liegen könnte.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • Wir setzten unsere Versuche fort, Gramp durch Betteleien, Bitten oder bloßen Zwang zum Essen zu bewegen. Doch er gab nicht nach. • Als Nink ihn anflehte, er solle sich doch zumindest zu uns an den Tisch setzen, erwiderte er: „Nein, ich bleibe hier liegen, bis es passiert.“ „So hat er noch nie geredet“, berichtete Nink. • Wenn Gramp also nicht zum Essen kommen wollte, dann sollte das Essen zu ihm kommen. Jedes Familienmitglied versuchte, ihn zum Essen zu bringen, was oft darauf hinauslief, daß man ihm quer durch den Raum hinterherlief. • Doch wenn Nink dann endlich dachte, Gramp habe ein wenig von dem stark proteinhaltigen „Raumfahrer-Frühstück“ hinuntergeschluckt, spuckte er die Flüssigkost plötzlich gurgelnd in die Tasse zurück.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • „Seit einer Woche hat Gramp jetzt nichts gegessen. In den ersten Tagen brachte ich ihn dazu, daß er sich zu uns an den Tisch setzte, weil ich glaubte, er könnte seinen Entschluß ändern und doch etwas essen. • Es war hoffnungslos, jetzt versuchen wir ihn so weit zu bringen, daß er Eierflips, stark proteinhaltige Flüssig-keiten und etwas Orangensaft zu sich nimmt. Ab und zu trinkt er auch einen kleinen Schluck, aber kaum hat er feste Nahrung im Mund, spuckt er sie wieder aus.“ Aus Dans Tagebuch • Gramps ständige Weigerung, feste oder flüssige Nahrung zu sich zu nehmen, bedeutete natürlich, daß er Tag für Tag schwächer wurde. Der Arzt sagte, daß Gramp zwar einige Zeit ohne Essen auskommen könnte, doch daß seine normalen Körperfunktionen wie das Schwitzen und Urinieren mehr Flüssigkeit verbrauchten, als er aufnehme.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • „An diesem Abend begriff ich zum ersten Mal, daß Gramp sterben würde. Es ist seltsam, daß man von etwas überwältigt sein kann, ohne daß man wirklich begreift, was es ist. Ich selbst – von den anderen weiß ich es nicht – habe ganz frei über Gramps unvermeidlichen Tod gesprochen. Und ich habe über ihn gesprochen, als redete ich von der Unvermeidlichkeit meines nächsten Geburtstages, als verdiente der Tod auch nicht mehr Beachtung. • Heute abend jedoch stand ich in Gramps Zimmertür, und plötzlich begriff ich, daß Gramp möglicherweise schon in wenigen Tagen jenen dunklen, ungewissen Ort aufsuchen würde, der jeden von uns beschäftigt – und den wir alle fürchten. Und ich fragte mich, ob Gramp sich bewußt sei, daß ihn der Tod erwarte. Sieht er den Tod vielleicht? Hat er sich mit ihm vertraut gemacht? Begreift er überhaupt, daß er dem Tode nahe ist? • Das Gefühl, daß Gramp geduldig auf den Tod wartet, fasziniert mich wahrscheinlich am meisten. Er liegt dort, rührt sich nicht, bittet um nichts, nicht einmal um Trinken und Essen, um den qualvollen Durst und die Möglichkeit zu verhungern zu beenden. • Nink erzählte mir eben von den Vorkehrungen, die für das Begräbnis von Gramp getroffen werden müßten. Ein Beweis dafür, daß diese Reise zügig dem Tod entgegen geht. Doch wird mir dann, wenn ich Gramps Leichnam sehe, immer noch alles als so einfach, als so selbstverständlicher Verlauf vorkommen? Ich frage mich, mit welchen Gefühlen ich darauf reagieren werde? Wird mich nach all diesen Monaten der Vorbereitung der Tod immer noch unerwartet treffen? • In einem Punkt bin ich mir sicher. Ganz gleich, wie oft ich Gramp saubermachen, füttern, schneuzen oder mitten in der Nacht, wenn mein Körper nichts mehr von ihm wissen will, versorgen muß, ich werde mich zuerst immer an die guten Zeiten mit ihm erinnern, bevor mir die schlechten einfallen.“ Aus Dans Tagebuch
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • Je schwächer Gramp wurde, desto einfacher wurde seine Pflege. Da er körperlich nun nicht mehr imstande war, sein Zimmer auf den Kopf zu stellen, konnte Nink (zum ersten Mal seit über einem Jahr) Gramps Bett neu beziehen. • Mit Windeln und Gummihöschen wurden wir der „Mißgeschicke“ Herr, und wir entdeckten auch, daß es unsinnig war, Gramp jeden Tag von neuem anzuziehen; sein Bademantel war nun sein einziges Kleidungsstück. • Gramp selbst döste fast den ganzen Tag über in einem Sessel vor sich hin.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • Zu unserer Überraschung setzte er sich eines Nach-mittags auf. Ich warf einen Blick in sein Zimmer und sah ihn auf dem Bettrand sitzen, wo er mit zufriede-nem Gesicht unsichtbare „Fadenscheinis“ in der Luft zusammenzwirnte. • Schließlich glitt Gramp in eine Art von Koma. Doktor Kline kam, um ihn zu untersuchen. Er stellte fest, daß Herz und Lunge nach wie vor einwandfrei funktio-nierten – was den Arzt zu der Bemerkung veranlaßte, daß man einen Menschen, der mit Hilfe von Infusions-schläuchen am Leben erhalten würde, als „Herz- und Lungenfall“ bezeichnete. • Doch der Standpunkt der Familie war unverrückbar: wenn Gramp es stoisch hingenommen hatte, daß seine Zunge wegen des Flüssigkeitsmangels rissig wurde und sein Gaumen sich abschälte, dann sahen wir keinen Weg mehr, ihm jetzt noch irgendwelche Nahrung einzuflößen.
Besiegt von den Frauen der JahreszeitMärz 1974 • „Das letzte Mal, als ich Mister Tugend untersuchte, lag ziem-lich klar auf der Hand, daß er nicht mehr leben wollte. Besonders ungewöhnlich ist das freilich nicht. Wirklich außer-gewöhnlich hingegen ist, daß er sein Gebiß herausnahm und erklärte: ,Da habt ihr es. Ich brauche es nicht mehr.‘ Das habe ich bei noch keinem Menschen erlebt. • Es war auch nicht ungewöhnlich, daß er sich klar darüber wurde, daß es Zeit für ihn geworden war, zu sterben. Es ist meine Überzeugung, daß die menschliche Würde auch im Sterben nicht verloren gehen darf. Und da er nun beschlossen hatte, daß er dieses entwürdigende Am-Leben-Sein nicht mehr ertragen wollte, lag es nicht mehr in unserer Hand, sein Leben zu erhalten. Es wäre, glaube ich, grausam, denn der Mensch hat Anspruch auf seine Würde; nicht bloß im Leben, sondern auch beim Sterben. • Als er seine Zähne herausnahm und sagte: ‚lch will nicht mehr leben‘, war es für mich keine Frage mehr – eine künstliche Ernährung und medikamentöse Überbrückung kam nicht mehr in Betracht. Ich wollte, daß er mit Würde sterben durfte.“ Dr. Ben Kline Hausarzt
Heute Nacht, morgen oder in einer WocheMärz 1974 • Als Doktor Kline im Gehen war, sprach Nink die Frage aus, die uns alle beschäftigte. „Wann wird es soweit sein“, fragte sie. „Ich meine, wann wird er ... fortgehen?“ • Doktor Kline zählte einige medizinische Unsicher-heitsfaktoren auf, die der versammelten Familie nichts sagten. Dann aber fügte er hinzu: „Ich weiß es nicht. Es kann heute Nacht sein oder morgen oder in einer Woche.“
Heute Nacht, morgen oder in einer WocheMärz 1974 • Dee war fest entschlossen, Gramp in diesen letzten paar Wochen seines Lebens jede Möglich-keit zu geben, seinen Entschluß zu ändern. Beharrlich bereitete sie viele Male am Tag etwas zu Essen zu und trug es in sein Zimmer, wo sie ihn geduldig und inständig bat, doch etwas zu essen und zu trinken. • Selbst wenn er zwischen Koma und Bewußtsein hin und her schwankte, versuchte Dee ihm etwas Flüssigkeit einzuflößen. Dan richtete ihn auf und hielt ihn fest, während Dee in Gramps ausge-trockneten Mund einen Teelöffel von Wasser flößte. • Die Folge war ein trockenes, würgendes Husten, das tief aus Gramps Körper heraufzukeuchen schien. Aber schließlich sagte Dan: „Machen wir uns doch nichts vor. Wir tun das nicht für Gramp. Wir tun es nur für unsselbst.“
Heute Nacht, morgen oder in einer WocheMärz 1974 • Was Gramp sich wirklich wünschte, war, daß immer jemand bei ihm sein sollte. Seine knochigen, aber immer noch kräftigen Finger umklammerten die Hand desjenigen, der ihm gerade Gesellschaft leistete. • Einmal, als ich bei Gramp war und den Eindruck hatte, daß er gar nicht mehr merkte, daß ich im Zimmer war, versuchte ich, meine Hand aus der seinen zu ziehen. Doch sofort schlossen sich seine sehnigen Finger fest um meine Hand.
Heute Nacht, morgen oder in einer WocheMärz 1974 • Am Ende fiel Gramp in einen sehr tiefen Schlaf. Neun oder zehn Stunden lang rührte er sich nicht. • Ich saß bei ihm im Zimmer, ganz in meine Gedanken versunken, als er plötzlich sehr lebhaft wurde. Er bewegte seine Arme und stöhnte leise. • Ich ging in die Küche und sagte zu Nan: „Ich bin sicher, daß Gramps Seele oder sein Leben oder wie man das nennt eben seinen Körper verlassen hat.“ • Als ich aus Gramps Zimmer kam, ging Nink gerade hinein. Und während ich Nan noch schilderte, was ich eben erlebt hatte, kam Nink in die Küche und sagte: „Ich glaube, Papa ist von uns gegangen.“
Heute Nacht, morgen oder in einer WocheMärz 1974 • Als der Bestattungsunternehmer gegangen war, betrachtete ich das leere Bett und begriff plötzlich: die Qual war vorbei. Drei Jahre lang hatte sich unser Leben – durch Babysitting, „Mißgeschicke“, Windelumlegen und ein ständiges Auf-dem-Trab-Sein – fast nur um dieses Zimmer gedreht. Jetzt war es leer. • Zu meiner Überraschung spürte ich keine große Erleichterung darüber, daß Gramp für immer fort war. Stattdessen empfand ich eine gewisse Leere, und ich hatte das Gefühl, daß uns seine Verrückt-heiten in unserem Leben fehlen würden – vor allem aber empfand ich eine große Hochachtung für diesen zähen alten Bergarbeiter. • „Du hast‘s geschafft, Gramp“, dachte ich, „jetzt hast du‘s wirklich geschafft.“