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Schulverweigererambulanz. Rheinische Kliniken Essen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Schulische Bildung: hohes gesellschaftliches Gut. schulischer (Miss)Erfolg determiniert in hohem Maße späteren sozialen und ökonomischen (Miss)Erfolg
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Schulverweigererambulanz Rheinische Kliniken Essen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Schulische Bildung: hohes gesellschaftliches Gut • schulischer (Miss)Erfolg determiniert in hohem Maße späteren sozialen und ökonomischen (Miss)Erfolg • Schulabbrecher haben kaum eine Chance auf einen qualifizierenden Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und steuern auf soziale und ökonomische Randständigkeit zu • ”Schulausstieg bedeutet fast immer schwer umkehrbare Desintegration. Schul- und Sozialkarriere sind nach wie vor fast untrennbar verknüpft.” Prof. C. Ohder et al.; Ergebnisse eines dreimonatigen Studienprojekts an der Fachhoch-schule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, 2004
Historische Aspekte 1 • 1717 in Preußen Einführung: allgemeine Schulpflicht • vielfach unterlaufen • Schulbesuch in Preußen im 19. Jahrhundert: • 1816 ca. 60 % • 1846 ca. 80 % • 1871 ca. 90 % aller Heranwachsenden • allgemeine Schulpflicht 1919 endgültig gesichert und verfassungsrechtlich garantiert (Art. 145 Weimarer Verfassung) u.a. Berg, 1991; Overmeyer et al., 1995
Historische Aspekte 2 • emotionale Störungen als Grund für Schulverweigerung • C.G. Jung, M. Klein, A. Freud – frühes 20. Jahrhundert • Fernbleiben von Schule mit/ohne Wissen der Eltern; Angst vor Schulbesuch (Broadwin, 1932) • wohl erzogene Kinder, die nicht zur Schule gehen und lieber bei ihrer Mutter bleiben (Partridge, 1939) • school phobia (Johnson et al., 1941): neurotische Ängste, die Mutter zu verlassen • Einteilung: • angloamerikanischer Sprachraum: „school refusal“ (Hersov, 1960) mit und ohne Wissen der Eltern • Deutschland: Schulangst, Schulphobie, Schulverweigerung (Nissen 1971) u.a. Berg, 1991; Overmeyer et al., 1995
Schulverweigerung • Schulangst: Angst vor konkreten Belastungen in der Schule • Schulphobie: Kindliche Trennungsangst als primär familiäres Beziehungsproblem und/oder Emotional- bzw. Angststörung (soziale Phobie) • Schulschwänzen: Symptom der Dissozialität; Verweigerung des Schulbesuchs ohne Wissen der Eltern; meist keine Angstsymptomatik; Schulunlust und Desinteresse gepaart mit schlechten Leistungen charakteristisch • Mischformen häufig! Nissen, 1971
Epidemiologie 1 • einheitliche, allgemeingültige Definition fehlt • in Deutschland einzelne regional repräsentative Untersuchungen • Schätzungen gehen von ca. 8 % der Schülern und Schülerinnen aus • mit zunehmendem Alter häufiger • Hauptschule und Sonderschule besonders betroffen • Tendenz zunehmend? • in den USA durchlaufen zwischen 5-28 % der Schüler im Laufe der Schulkarriere eine Phase der Schulverweigerung (J. School Health, 2006)
Epidemiologie 2 • 3% aller Schüler/Innen: sehr distanzierte Haltung gegenüber Schule • 1-2% ”harter Kern”: intensives Schwänzen (Kaiser 1983, Thimm 1998; Schreiber-Kittel und Schröpfer 2000) • Kriminologisches Institut Niedersachsen: Stichtag Schuljahr 1998/99; Rate unentschuldigter Hauptschüler/Innen: • Kiel, Hamburg oder Hannover > 10%, in Stuttgart 7%, in München 6%. • Befragung von 5.000 Kölner und Freiburger Schüler/Innen • 30% der 8- bis 10-Klässler bleiben sporadisch der Schule fern • 8% schwänzen regelmäßig; häufiger an Haupt- und Sonderschulen • Schulmotivation relevantester Faktor (Oberwittler et al. 2001) Prof. C. Ohder et al.; Ergebnisse eines dreimonatigen Studienprojekts an der Fachhoch-schule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, 2004
Epidemiologie 3 • Repräsentative Befragungen Brandenburger Schülern/Innen aus 9. und 10. Klassen (Sturzbecher und Hess, 2002) • 25% schwänzen bisweilen ganze Tage • 5-6% regelmäßig Stunden und/oder Tage • Landesschulamt Berlin (ca. 360.000 Schüler/Innen): • Schätzung des Landesschulamts: ca. 2.000 ”schuldistanziert” (0,6 %) • Inoffizielle Schätzungen: bis zu 8.000 Schüler/Innen (2,2 %), die mehr oder weniger regelmäßig Unterricht fernbleiben, hiervon ca. 3.000 ständig (0.8%) Prof. C. Ohder; Ergebnisse eines dreimonatigen Studienprojekts an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, 2004
Häufigkeit der Schulverweigerung bei kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten • Ambulante Patienten ca. 20% • Stationäre Patienten ca. 33% • Teilstationäre Patienten ca. 45%
Das Essener Konzept • Rasche diagnostische Abklärung: • Schulverweigererambulanz: nach Möglichkeit ein Termin in der Klinik • Erhebung: • psychiatrische Anamnese • schulische Laufbahn • testpsychologische Diagnostik in der Klinik • orientierende Leistungsdiagnostik (CFT-20 • Aufmerksamkeit und hyperkinetische Symptomatik (Qb-Test) • Emotionaldiagnostik (Angstfragebogen für Schüler • Einleitung therapeutischer Maßnahmen • falls psychiatrische Behandlung notwendig: • Entscheidung (Teil)Stationär, ambulant • ambulante Behandlung: niedergelassene Ki-JuPsychiater
Tagesklinik Kinder- und Jugendpsychiatrie Jugendhilfe Stationärer Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie 3 3 Nieder- gelassene Kinder- und Jugend- psychiater 2 Zentrale Ambulanz Schulverweigerung 2 1 Jugendliche Eltern Kinderärzte Allgemeinmediziner Lehrer Jugendhilfe Kinder- und Jugendpsychiater 3 Schule
Danksagung: T. Plassmann
Schüler- bzw. Patientenzahlen • Beginn des Projektes: 15.05.2006 • Bis 15.10.06: • 69 Anmeldungen, > 3 Anmeldungen/Woche • 39 Patienten zum Termin erschienen • 14 ohne Absage nicht erschienen • 16 mit Absage nicht erschienen Etwa 43 % Ausfallquote
Meist weiterführende Schulenn=34 • 31 Schüler einer weiterführenden Schule • Zwei Schüler während des Schulwechsels auf weiterführende Schule • Lediglich ein Schüler einer Grundschule (Schulunlust)
Schulanamnese • 23 Schüler haben bereits mindestens 1 Schuljahr wiederholt (68 %) • 11 Schüler wurden bereits in der Schulform runtergestuft (32 %)
Intelligenzdiagnostik(n=31) • 12 Patienten (39 %): IQ < 85 • 10 Patienten (32 %): IQ > 85 • 5 Patienten (16 %): Testung verweigert • 4 Patienten (13 %): aus anderen Gründen auf Testung verzichtet
Symptomatik (Angaben der Betroffenen) • mobbingähnliche Situationen (Schulangst) und ein schlechtes Klassenklima (n=8; 24 %) • körperliche Symptome vermutlich psychosomatischer Genese (n=6; 18%) • Trennungsängstlichkeit (Schulphobie) in der Vorgeschichte (n=4; 12 %) • 50% schwänzen (Schulschwänzen) den Unterricht ohne Wissen der Eltern • Im Angstfragebogen für Schüler erreichen etwa 44 % überdurchschnittliche Ergebnisse auf der Skala Schulunlust
Diagnosen • „Sonstige emotionale Störung mit Schulverweigerung“ n=22; 65% • Störung des Sozialverhaltens n=6; 18% • Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik n=2; 6% • Cannabisabhängigkeit n=1; 3% • Hyperkinetische Störung n=1; 3% • Posttraumatische Belastungsstörung n=1; 3% • Soziale Phobie n=1; 3%
Kasuistik 1 16,5 Jahre alter Jugendlicher, 10. Klasse Hauptschule 1996 Einschulung Regelgrundschule 1997 Vater suizidiert sich 2000 Mutter erkrankt an Krebs 2000 Wechsel zur Hauptschule 2004 Schulverweigerung beginnt in der 8. Klasse 2004 Suizidversuch durch Medikamente und Schneiden 12/2005 Mutter verstirbt 1/2006 Umzug in betreute Wohngruppe 5/2006 Schulwechsel auf andere Hauptschule 9/2006 nach den Herbstferien wieder regelmäßiger Schulbesuch, habe nun das Ziel, nach der 10. Klasse den Realschulabschluss nach zu holen und danach ggf. Erzieher zu werden Diagnose: Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43.21)
Kasuistik 2 15,1 Jahre alter Jugendlicher, 8. Klasse Hauptschule 1998 Einschulung Regelgrundschule 2002 Wechsel zur Realschule 2004 Trennung der Eltern 2005 Wiederholung der 7. Klasse, Beginn Schulverweigerung 2006 Wechsel zur Hauptschule Seit den Sommerferien 2006 fast keinen Schulbesuch mehr, zu müde um aufzustehen. Schlaf von 4.00 -17.00 Uhr. Schnarchen Familienanamnese: Vater und Oma ms. leiden an Schlaf-Apnoe Diagnose: Tag-Nacht-Umkehr (G47.2) und Hypersomnie (G47.1) bei V.a. Schlaf-Apnoe-Syndrom (G47.39) DD: psychogene Tag-Nacht-Umkehr (F51.2) Adipositas (E66.0)
Programme gegen Schulschwänzen • in den USA verfolgen Mehrzahl der Programme einen gemeinwesenorientierten Ansatz; • hierbei auch fast durchgängig repressive Elemente • Schulschwänzen: Risiko für die individuelle Entwicklung und Gefahr für die ”Communities” • Verbindung zwischen Schulschwänzen und schweren Formen der Jugendkriminalität • Maßnahmen: • Aufenthaltsverbot im öffentlichen Raum • Polizei darf Schulschwänzer festnehmen und gegen sie gerichtliche Sanktionen einleiten kann (z.B. Fahrverbot, Pflicht zur Teilnahme am Unterricht während der Sommerferien) • rigorose Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Sanktionierung der Eltern; ggf. Gesetzesänderungen • Geld- und Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten
Nürnberger Schulverweigererprogamm • 3. unentschuldigter Fehltag: Schule wird aktiv • Kontaktaufnahme mit Eltern; Forderung einer schriftlichen Entschuldigung; Angebot eines Beratungsgesprächs; Erteilung eines Verweises, Forderung, den versäumten Unterricht nachzuholen • 6. Fehltag: • verschärfter Verweis durch Schulleiter, Androhung der Durchführung des Schulzwangs, Information des Jugendamts und der Schulverbindungsbeamten • ab 9. Fehltag: • Schulleitung beantragt beim Schulamt Durchführung des Schulzwangs; Schulamt prüft die Vorführung des Schülers durch Polizei; Vorführung durch Jugend- bzw. Schulverbindungsbeamten, ggf. auch uniformierte Beamte; Übergabe des Schülers an den Klassenlehrer im Sekretariat
Nürnberger Schulverweigererprogamm • Streifenpolizisten kontrollieren in Zivil beliebte Jugendtreffpunkte • z.B. Elektronikabteilungen großer Kaufhäuser, Einkaufszentren, Spielhallen, Kneipen, öffentliche Plätze, Bahnhöfe • Überprüfung angetroffener Schüler; Abgleich der Angaben mit der Schule; • fehlt Schüler unentschuldigt, Übergabe an Schule oder Erziehungsberechtigten • zudem Meldung an alle beteiligten Behörden Prof. C. Ohder et al.; Ergebnisse eines dreimonatigen Studienprojekts an der Fachhoch-schule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, 2004
Nürnberger Schulverweigererprogamm • im Schuljahr 1998/99 Zuführung (Amtshilfe) von 59 Schüler durch Nürnberger Polizei; zusätzlich Aufgreifung von 117 Schüler • im Schuljahr 2001/02 136 Schüler, 80 durch Amtshilfe • Anzahl der Dauerschulschwänzer sank von 122 (1998) auf 36 (2002) Fälle • Kriminalstatistik: seit Einführung leichter Rückgang bei Ladendiebstählen während der Schulzeit • nach Einschätzungen aller beteiligten Stellen erfolgreich • Modellprojekt Vorbildcharakter; Planungen in Ballungsräume in Niedersachsen, Hessen und Saarland Prof. C. Ohder et al.; Ergebnisse eines dreimonatigen Studienprojekts an der Fachhoch-schule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, 2004
Zukünftige Planung • „Taskforce Schulverweigerung“: Schulamt, Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, ggf. Polizei • Frühe Intervention anstreben: • Öffentlichkeitsarbeit • Einbeziehung von Kinder- und Hausärzten • Einbeziehung von Polizei? • Entwicklung therapeutischer Module • Evaluation, Versorgungsforschung • auf Übertragbarkeit des Konzepts achten
Psychiatrische Störungen bei arbeitslosen jungen Erwachsenen • Akteure: Arbeitsagentur Essen, Gesundheitsamt, Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Kliniken an der Universität Duisburg-Essen • Etablierung einer psychiatrisch/psychologischen Beratung in der Arbeitsagentur Essen • Ziele: • psychiatrisch/psychologische Diagnostik • Motivationsaufbau: Kontaktaufnahme mit medizinischem Versorgungssystem • Beratung der Fallmanager: wer ist krank, wer nicht? • Forschung: Diagnosenspektrum, Überleitung ins Vorsorgungssystem, Rate erfolgreicher Vermittlungen • Finanzierung Arge Essen • 1 Arzt, 1 Psychologin, Sachmittel • Beginn: März 2007
Fazit • Gesellschaftspolitisch relevantes Thema • Kinder- und jugendpsychiatrische Störungen bei weit über 50% aller Schulverweigerer anzunehmen • fast gesamtes diagnostisches Spektrum • Bedeutung einer psychiatrischen Störung im Einzelfall unterschiedlich • Interdisziplinäre und Institutions-über-greifende Zusammenarbeit erforderlich