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Fallverstehen:. Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein…. Priv. Doz . Dr. Menno Baumann. Kinder, die Systeme sprengen - „Systemsprenger“?. Hoch-Risiko-Klientel,. welches sich in einer durch . Brüche geprägten. negativen Interaktionsspirale.
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Fallverstehen: Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein… Priv. Doz. Dr. Menno Baumann
Kinder, die Systeme sprengen - „Systemsprenger“? Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestatet. (Baumann i.Vorb.)
Im wesentlichen trifft dies folgende Phänomene: Drogenkonsum und/ oder –handel auch in der Einrichtung Anhaltende Gewaltbereitschaft auch gegenüber Erwachsenen oder gegenüber jüngeren/ schwächeren Kindern Ständige Entweichungen, besonders in Kombination mit Prostitution
Bei aller Beschreibung bleibt die Frage: Warum Fallverstehen?
Fallverstehen kommt im Rahmen der Arbeit mit vermeintlichen „Systemsprengern“ eine dreifache Bedeutung zu: Verstehen macht belastbarer, weil es den jungen Menschen weniger unberechenbar erscheinen lässt! Verstehen hilft, ein Angebot zu planen, gegen das der junge Mensch nicht kämpfen muss. Verstehen ermöglicht, Rückzugsräume und Entlastungsmöglichkeiten zu sehen und zu nutzen.
Dabei bewegt sich Fallverstehen auf unterschiedlichen Ebenen: Ebene der institutionellen Eskalationslogik Ebene der Partizipation Ebene der verstehenden Diagnostik Ebene der Planung des nächsten Schrittes
1. Ebene der institutionellen Eskalationslogik Entlassung/ Rauswurf/ Beendigung der Maßnahme Rückkehr nach Hause mit erneuter niedrigschwelliger Hilfe Unterbringung in einer anderen Einrichtung Kinder- und Jugendpsychiatrie Straße Jugendvollzugsanstalt Suche nach intensiveren Maßnahmen (Pädagogischer Auslandsaufenthalt, geschlossene Unterbringung etc.)
Phasen des gesellschaftlichen Versuches, Jugendlichen in Strukturen zu zwingen Phasen des Rückzuges aus gesellschaftlichen Bezügen: Problem: Prozess beschleunigt sich!!! Straße (Obdachlosigkeit) Jgdl. Jugendhilfe KJP „offizieller“ Wohnort bei schwacher Anbindung und gleichzeitig deutlichem Bezug zu Milieu (Drogenszene, Jugendbanden, Rotlichtmilieu etc.) Justiz
Die Hoffnung, eine solche Karriere durch immer rigidere bis zu freiheitsentziehende Maßnahmen reichende „Lösungen“ unterbrechen zu können, stellt sich in den allermeisten Fällen als utopisch dar! Kernproblem: Es fehlt die Frage nach der Indikation! Eine „Verschärfung“ der Maßnahmen lediglich als „Ultima Ratio“ zu sehen, weil nichts anderes mehr geht, ist in der Regel keine gute Grundlage für eine Hilfeplanung „Mehr desselben“ ist nicht immer gleich „Besser“
Ein zweites schwerwiegendes Problem • Die zunehmende Differenzierung von Unterstützung führt also in vermeintlich schwierigen Fallverläufen gerade NICHT zu einer besseren Versorgung, sondern zu Prozessen • der Parallelität • des Nacheinanders • des Gegeneinanders von Hilfen und Professionen
Hypothese: Um zu der Frage, welches Hilfesetting den Jugendlichen (noch) erreichen könnte, eine Antwort zu geben, müssen die Helfer verstehen, welchem inneren Sinn das Verhalten, welches den jungen Menschen zum „Systemsprenger“ macht, folgt!
2. Ebene der Partizipation oder: sich am Jugendlichen orientieren Wichtig ist die „Gleichberechtigung“ dreier Faktoren in der Beschreibung und Bewertung des Verhaltens des jungen Menschen und seiner persönlichen Ziele: Fallverstehen!!! Aussagen des jungen Menschen: Was sagt er zu seinem Verhalten, seiner Situation, seinen Zielen? Verhalten des jungen Menschen: Was tut er, und in welchem Verhältnis steht das zum Verbalisierten? Äußere Rahmenbedingungen (Es gibt nur eine Autorität auf der Welt, und das ist die Realität, (Ruth Cohn))
3. Ebene der verstehenden Diagnostik Ein zentrales Ergebnis der Studie (vgl. Baumann 2010, 88 ff): Analysiert man die Ausgangslage der Kinder und Jugendlichen innerhalb ihres Bezugsmilieus, kommt man zu dem Punkt, dass alle „Systemsprenger“ über eine gewaltige innere Stärke gute Resilienzfaktoren und Lösungskompetenzen verfügen. Mit Blick auf die institutionelle Eskalationsdynamik und den Hilfeverlauf lässt sich zeigen, dass es DIESE RESILIENZFAKTOREN SIND, die den jungen Menschen immer wieder mit dem pädagogischen System in Konflikt bringen.
Das pädagogische System kämpft also gegen die innere Überlebenslogik des jungen Menschen Da die innere Not des gekränkten Kindes immer stärker ist als beruflich verordnete Konsequenz, ziehen wir in diesem Machtkampf zwangsläufig den Kürzeren! Eskalationslogik!
Aus den Fallanalysen konnte ein Motiv herausgearbeitet werden, das in unterschiedlichen Nuancen ein Rolle bei dieser Eskalationslogik spielt (vgl. Baumann 2010, Kap. 6): Kontrolle Kontrolle situativer Unsicherheiten Kontrolle über die Tragfähigkeit des umgebenen Netzes Kontrolle im Rahmen der eigenen Biographie über/ gegen das Hilfesystem
Kategorie „A“ Eskalation als Kontrolle akuter situativer Unsicherheit Ordnungsstrukturen der Umwelt/ Verhalten anderer Menschen nicht/ schwer durchschaubar; scheiternde Antizipation des Zukünftigen; -> Angst, Überforderung; Eskalation = Kausalität = Sicherheit • Typische Merkmale: • Erschaffung von Alternativen Lebensräumen/ • Eigenwelten • Erschaffung eigener Regel- und Gesetzmäßigkeiten • Nicht bewältigte Lebensbedingungen • Schwierige Kontaktaufnahmestrategien • häufig: Suchthaushalte oder schwere, unberechenbare • Gewalterfahrungen (gilt auch für andere Kategorien)
Kategorie „B“: Eskalation als Kampf um Autonomie gegen das Hilfesystem Kernmotiv: Hilfe wird als Übergriff gesehen; „Die wollen was von mir!“; Annehmen von Strukturen (anpassen) steht eigenen Zielen (ausbreiten) entgegen
Facetten der Kategorie „B“: • B1) • - teilweise bewusste Ziele d. Jugendlichen • - Enttäuschung über gescheitertes Familiensystem mischt sich mit Ablehnung des Hilfesystems • teilweise feste, das System erhaltende Rolle in der Familie; Machtkämpfe mit Eltern, die in die Einrichtung hineingetragen werden B2) - Jugdl. übernehmen Versorgungsauftrag für Mitglieder oder Strukturen in der Familie - Jugendhilfe steht dem selbst auferlegten Versorgungsauftrag entgegen - bei Aufgabe der Rolle Haltverlust - Versuchen, alte Ordnung zu verteidigen/ wiederherzustellen • B3) • unbewusste Ziele: Kontrolle über Erziehungshilfe-system nach erlebtem Kontrollverlust • Eskalation als Re –Inszenierung des Verlustes/ Abbruchs • - selektive Wahrnehmung der angebotenen Hilfe
Kategorie „C“: Eskalation als Frage an Helfer: „(Er-) Tragt Ihr mich?“ Kernmerkmale der Kategorie: Völlige Entwurzelung; Kein ‚gefühltes Zuhause’ identifizierbar/ benennbar; ‚Wo gehöre ich hin?’ Kernfamilie als Identitätsgrundlage unbrauchbar Verhaltensweisen, die Reaktion erzwingen: internalisierende Verhaltensweisen (Nahrungsverweigerung, Selbstverletzung) externalisierend: ausagierendes Verhalten, das Kontrolle und Kümmern verlangt, persönlich verletzendes Verhalten/ Respektlosigkeit hoher depressiver Anteil
4. Ebene der Planung des nächsten Schrittes Auf der Grundlage des Fallverstehens muss im Rahmen der weiteren Erziehungs-, Maßnahme- und Settingplanung eine Gleichberechtigung zweier Fragen erörtert werden: Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit der junge Mensch nicht dagegen kämpfen muss? Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit die Mitarbeiter(innen) und die Rahmung insgesamt den jungen Menschen aushalten kann?
Was brauche ich für die Arbeit mit „Systemsprengern“? Haltung, Professionsverständnis, Kompetenzerwerb situativ: Möglichkeiten der Deeskalation, des Aushaltens, des immer wieder neu Startens perspektivisch/ planerisch: Möglichkeiten der Diagnostik, des gemeinsam getragenen Fallverständnisses und der Ziel- und Perspektivplanung als unerlässlicher Rückhalt: Möglichkeiten des Luftholens, des Zeitgewinns und des Verteilens auf viele Schultern – Trotz Kontinuität
Literaturtipps: Baumann, M. (2012): Kinder, die Systeme sprengen – Band 1: Wenn Jugendlich und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) Baumann, M. (i.Vorb.): Kinder, die Systeme sprengen – Band 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) Fort- und Weiter-bildungen zum Thema: Infos bei: PD Dr. Menno Baumann info@leinerstift-akademie.de menno.baumann@uni-oldenburg.de