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Dichotomien lautsprachlicher Analyse und ihr Realitätsanspruch Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Phonetik. Klaus J. Kohler IPDS, Kiel. Präsentation in der Prosodiegruppe 7. Dezember 2004. 1 Die Atterer/Ladd -Experimente.
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Dichotomien lautsprachlicher Analyse und ihr RealitätsanspruchWissenschaftstheoretische Überlegungen zur Phonetik Klaus J. Kohler IPDS, Kiel Präsentation in der Prosodiegruppe 7. Dezember 2004
1 Die Atterer/Ladd -Experimente • On the phonetics and phonology of “segmental anchoring” of F0: evidence from German, JofPh 32 (2004), 177-197 • steht in der Tradition der Untersuchungen des alignment (Ladd, Arvaniti, Mennen, Schepman, Prieto) • die Bindung von L und H in pitch accents an die Struktur der akzentuierten Silbe • Synchronisierung von F0 mit C0, V0 und V1 in pränuklearen Akzenten, die als LH faßbar sind
erweitert auf Sprach- und Dialektvergleich • zwei Experimente • zwei deutsche Dialekte: nord/süddeutsch(=bayr) • informeller Vergleich mit englischen Daten gleicher segmenteller Struktur (Ladd et al 1999) • Aufnahme der englischen Sätze durch die beiden Gruppen in Experiment 2 • neben komparativer Beschreibung Entscheidung, ob kategoriale Klassen oder alignment-Kontinuum
Ergebnisse • in Experiment 1 beide Gruppen alignment von H mit nachfolgendem unakzentuierten Vokal • ähnlich wie in Griechisch, aber später als in Englisch oder Niederländisch • L ist noch deutlicher später • alignment später in Süddeutsch: L (C0/V0) hoch signifikant, H (V1) in gleicher Richtung, aber nicht signifikant (ANOVA) • englische Daten von Experiment 2 werden nur untereinander verglichen, nicht mit Exper. 1
Vergleich der englischen Daten aller deutschen Sprecher mit denen der englischen Sprecher: signifikant später für L (C0/V0) und H (V1) • die deutschen Gruppen untereinander: L (V0) signifikant später für die Süddeutschen, aber L (C0) und H (V1) verfehlen 5% • also übertragen sowohl Nord- als auch Süddeutsche ihr unterschiedliches alignment ins Englische in einer Leseaufgabe • ED zeigt durch Vergleich mit Daten aus Exp 1, daß andere Schlußfolgerung: Süddeutsche passen sich an, Norddeutsche nicht.
Interpretation: alignment-Kontinuum über Sprachen hinweg; phonetisch, nicht phonologisch • “in all four languages the speakers are confronted with similar sentences and treat the first major accent in similar ways” (p. 193) • “the ordinary accentual rise used spontaneously by speakers of English, Dutch, German and Greek on the first accented word of a read sentence is in some way “the same thing” cross-linguistically (p. 193)
2 Kritik am reinen Meßansatz • fragwürdige Dialekteinteilung “Nord/Süddeutsch” • “Süddeutsch” = Bewohner Bayerns • sie können nieder/oberbayrisch/oberfränkisch sein • unterschiedliche Grade der Dialektausprägung haben • “... A majority of the speakers can readily be assigned to the correct group on a few seconds‘ impressionistic listening...” - also nicht alle.
“Süddeutsch” muß bei vorliegender Frage vor allem den Südwesten einbeziehen, wo akzentuierte Silben zu tiefem Einsatz tendieren. • Auch “Norrddeutsch” ist nicht einheitlich. • Damit ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf “Nord- bzw. Süddeutsch” insgesamt bereits im Ansatz der Datenerhebung fragwürdig.
Ausschluß von 25% der Daten • “reading too fast and monotonously (which would make identification of F0 minima and maxima unreliable)” • methodisch unsauber, da Schlußfolgerungen über Dialekte insgesamt
ferner einzelne Realisierungen ausgeschlossen • “Occasionally, test sentences were discarded because the speaker used a completely different intonation contour from the one under investigation.” • “completely different” nicht definiert • “dasselbe Ding” LH wird im Labor ausgemessen, ohne unabhängige Prüfung der Identität
englische Basisdaten aus Ladd et al 1999 • Probanden verwendeten z.T. andere f0-Muster • Abb. minimal fee Gipfelkontur mit Einbuchtung • Abb. (in) Ermangelung (eines Lehrers) erster Teil eines Hutmusters • Unterschied kann frühere Gipfelposition im Englischen bedingen, weil im Bereich der akzentuierten Silbe wieder ein Abstieg erfolgt
Englisch überwiegend Adj + Sub, wo Gipfelfolge zu erwarten • Deutsch Sub + Genitivattr, wo Hutmuster typisch • Vergleichbarkeit vor Messung nicht geprüft a minmal fee (in) Ermangelung (eines Lehrers)
Umfeld phonologischer Oppositionen in verglichenen Sprachen nicht berücksichtigt • Wieviele verschiedene LH-Synchronisierungen? • mindestens 2- 3 in beiden Sprachen und Dialekten • Wie werden sprachliche alignment-Unterschiede in diese phonologischen Systeme eingebaut? • Verschiebung aller distinktiven LH-Synchron.? • Erfassung unterschiedlicher Oppositionsglieder? • Unterschiedliche Häufigkeit der Oppositions-glieder in den Sprachen > Lesedaten verschieden
Schlußfolgerungen der Autoren aus Datenerhebung und -analyse nicht nachvollziehbar • Selbst bei Stichhaltigkeit bliebe die Frage nach der perzeptorischen Relevanz der Verschiebungen von L und H, insbesondere auch gekoppelt in einer Kontur. • Abschließender Abschnitt führt zurück in das dunkle Mittelalter der experimentellen Phonetik: • feine instrumentelle Messung ersetzt bisherige phonetische Untersuchung • infinit besser, weil nur so Wahrheit erfaßt wird.
Diese wissenschaftliche Einstellung verbreitet sich • ausgehend von Ingenieuren • prägt Handbücher, Zeitschriften (z.B. JoPhon) • Studiengänge, die über Erlernen von Verfahren der Sprachverarbeitung nicht hinauskommen • nicht mehr hinführen zu Zusammenhängen laut-sprachlicher Kommunikation in soziokulturellen Kontexten
3 Das Paradigma der Laborphonologie • AM-Phonologie • ‘pitch accents’ • ‘boundary tones’ • jeweils L oder H • bitonale Einheiten • Vermittlung zwischen Bedeutung und Substanz • Direktbeziehung ausgeschlossen • paralinguistische Bedeutung eliminiert
phonologische Einheiten Akzentsilben zugeordnet • bitonale Einheiten wie mit Akzentsilbe assoziiert? • Einführung von * sowie ‘leading’/‘trailing’ tones • Differenzierung z.B. von L+H* und L*+H • aber zeitlos • phonologische Einheiten zur Messung ins Labor • der primär assoziierte Ton, z.B. in L+H*, erreicht nicht immer in Akzentsilbe f0-Maximum • sekundäre Assoziation zu Stellen in Silbenstruktur • weiterentwickelt von Prieto, Gili Fivela, d‘Imperio
Production experiment • 20 pairs of potentially ambiguous utterances which are only distinguished by word boundary location: Code Mirà batalles ‘(s)he watched battles’ wf Mirava talles ‘(s)he used to watch carvings’ nowf Comprà ventalls ‘(s)he bought XXX’ wf Compraven talls ‘they bought pieces’ nowf Buscà vanguàrdies ‘(s)he was looking for newspapers’ wf Buscaven guàrdies ‘they were looking for guards’ nowf • 3 speakers read a total of 40 ambiguous utterances four times (160 sentences per speaker, for a total of 480 utterances).
Comprà ventalls Comprà ventallets de vim Compraven talls Compraven tallets de vim
laborphonologische Messung ging weiter • Verankerung der Tonakzente mit Silbenstruktur • Messung löst sich von Tonansatz • entwickelt Eigenleben • Verhältnis von phonologischer Form zu phonetischer Substanz kehrt sich um • Messung primär • phonologischer Ansatz LH vs HL • Bezug zu sprachlicher Einheit/Funktion verloren • Prüfstatistik entscheidet über Kategorisierung
Rückkehr ins 19. Jh. • Rousselot, Scripture, Panconcelli-Calzia • alle sprachlichen Katgorien lösen sich auf • Ingenieure u. nacheifernde ‘modern speech scientists’ • Verlust der Aufgabe phonetischer Forschung • “Wie funktioniert lautsprachliche Kommunikation in Situationen menschlicher Interaktion, wie sind die Beziehungen zwischen kommunikativen Funktionen und phonetischen Signalen für Sprecher und Hörer in situativer Einbettung.”
4 Dichotomien lautsprachlicher Analyse • Phonetik vs Phonologie ist nicht tot zu kriegen • Naturwissenschaft vs Geisteswissenschaft • mal wird bei den einen die eine, mal bei den anderen die andere Disziplin höher gewichtet • Laborphonologie ist Füllung vorgegebener phonologischer Kategorien durch phonetische Messung: damit hat Phonologie Priorität. • Wenn Messung verselbständigt > Phonetik Priorität
Wissenschaftssoziologie • wissenschaftliche Revolutionen im Sinne Kuhns • Gegenrevolution, wenn Richtungszwänge eklatant • Überwindung der Dichotomie • muß zu funktionsorientierter experimenteller Phonetik führen, die Sprachverarbeitungstechniken im Forschungsfeld menschlicher Kommunikation einsetzt
linguistisch vs paralinguistisch weitere Dichotomie • nicht mehr haltbar • verbaut Einsicht in sprachliche Kommunikation und Kooperation mit Sozialwissenschaften • wird in der angestrebten funktionsorientierten Experimentalphonetik ebenfalls überwunden • Substanz vs Form und Form vs Funktion sind ebenfalls geheiligte Dichotomien der Linguistik, die zurechtgerückt werden müssen.
Produktion vs Perzeption müssen auch stärker integriert werden. • Spontansprache vs Laborsprache sind in einer zu entwickelnden Methodologie aneinander zu binden. • Segment vs Prosodie bedarf in beiden Richtungen der Korrektur sowie eine neue Grenzziehung • Segmentanalyse in prosodischem Rahmen • Prosodieanalyse in segmentellem Umfeld • auch artikulatorische Prosodien
Alle diese Dichotomien sind Heuristiken in phonetischer Forschung ohne ontologischen Status • sie haben damit einen praktischen Wert in der Ordnung von Phänomenbereichen • Phonologen bringen aber einen Großteil ihrer Zeit damit zu, den Realitätsanspruch für diese Dichotomien zu beweisen (siehe Gussenhoven) • Dichotomien werden jedoch irgend wann zum Hemmschuh der Erkenntnis, wenn sie nicht überwunden werden.
ganz besonders wichtig in der Prosodieforschung, wo uns die Dichotomieorientierung der ma(h)len-Generation nicht mehr voran bringt • Diese Prosodiegruppe kann dazu ihren Beitrag leisten. • Die neue Zielsetzung phonetischer Forschung wird Gegenstand eines Themenbandes in Phonetica sein:
Progress in Experimental Phonology From communicative function to phonetic substance and vice versa.