340 likes | 597 Views
Pieter Bruegel d.Ä., Die Parabel von den Blinden, 1568. Pieter Bruegel d.Ä., Die niederländischen Sprichwörter, 1559. Pieter Bruegel d.Ä., Die Parabel von den Blinden, 1568.
E N D
Pieter Bruegel d.Ä., Die niederländischen Sprichwörter, 1559
„Laßt sie! Sie sind blinde Führer von Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, so werden sie beide in die Grube fallen“ (Mt 15,13)
Catharina Regina von Greiffenberg, Ueber den gekreutzigten Jesus, 1662
Jetzt waren sechs Blinde in einer schiefen Reihe da, die einander an Stöcken oder bei der Schulter hielten. Der erste von ihnen, der sie anführte, lag schon im Wassergraben, der zweite, der daran war, ihm nachzustürzen, wandte dem Beschauer sein volles Gesicht zu: die leeren Augenhöhlen und den schreckensoffenen Mund mit den bleckenden Zähnen. Zwischen ihm und dem dritten war der größte Abstand dieses Bildes, noch hielten beide den Stock fest, der sie verband, aber der dritte hatte einen Ruck, eine unsichere Bewegung verspürt und stellte sich leicht zögernd auf die Fußspitzen, sein Gesicht, das man im Profil sieht – nur das eine blinde Auge –, verrät nicht Angst, aber den Ansatz einer Frage, während hinter ihm der vierte noch voller Vertrauen die Hand auf seiner Schulter liegen hat und das Gesicht zum Himmel hinauf gerichtet. Sein Mund ist weit offen, als erwarte er darin von oben etwas zu empfangen, das den Augen versagt ist. Den langen Stock in der Rechten hat er für sich allein, ohne sich auf ihn zu stützen. Das ist der Gläubigste der Sechs, zuversichtlich bis ins Rot seiner Strümpfe, die beiden letzten hinter ihm gehen ergeben seinen Weg, jeder der Trabant des Vordermanns. Auch ihr Mund ist offen, aber weniger, sie sind am weitesten vom Wassergraben weg und erwarten und befürchten nichts und haben keine Frage. (Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, 1980)
Da er nicht mehr sieht, was alles so vorhanden ist vor, über und hinter ihm […], vergißt er auch die Wörter dafür, so wie wir. […] Viele von denen, die er einmal kannte, die Wörter von früher, wie es heißt, also gut die Hälfte, hat Ripolus bereits vergessen. […] Er glaubt, daß, wenn erst einmal alle Wörter vergessen sind, auch über, unter, vor und in uns nichts mehr vorhanden ist. (33) Aber Ripolus kann sich nicht erinnern, er kennt das Wort nicht mehr. Ihm kommt nicht einmal der Gedanke, daß er es vielleicht vergessen hat. Nein, sagt er, das Wort gibt es nicht, hat es nie gegeben.(124)
Und wir reißen die Münder auf und schließen unsere Augen und hören unseren Schreien nach, jeder seinem eigenen. Und stellen uns das Gelände, den Raum um uns vor, von dem wir seit unserer Heimsuchung getrennt sind und den wir als einen dunklen Gang empfinden, durch den wir hindurch müssen, von unserem Geschrei eingehüllt. (107) Wie zum Beispiel ein Mund sich beim Schreien verändert, ja, das interessiert ihn schon. Auch ist er fasziniert von der Wölbung der Mundhöhle, der Stellung der Zähne, der Lage des Zahnfleischs, den Formen der Lippen, den Färbungen, Verfärbungen des Gaumens. (101)
Denn man reiße dem Laokoon nur in Gedanken den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine hässliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann. Die bloße weite Öffnung des Mundes, – beiseitegesetzt, wie gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, – ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut.
Eigenartig, daß er gerade uns malen will, denken wir. Weil uns die Leute ja nicht einmal ungemalt gerne sehen, also so, wie wir sind. […] Wenn es nach ihnen ginge, würden sie für uns ein tiefes Loch in der Erde graben und uns hineinwerfen und fest zudecken, damit wir weg sind, statt uns auch noch zu malen. (22) ‚Wer wird dich malen wollen, da dich niemand sehen will‘, sagt ein alter Epigrammist über einen höchst ungestaltenen Menschen. Mancher neuere Künstler würde sagen: ‚Sei so ungestalten wie möglich; ich will dich doch malen, insofern es ein beweis meiner Kunst ist, die ein solches Scheusal so ähnlich nachzubilden weiß.‘
Prosopopoia: „Personifikation“ Paul de Man: Autobiography as De-Facement (1979) Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka (2000)
Der ekphrastische Text [d. i. Hofmanns Erzählung] ist nicht gehorsamer Diener des Bildes, sondern wird zu seinem Ankläger, indem er sich der Stimme der Opfer bedient. Indem er die zu Erzählern macht, verleiht Hofmann vom ersten Satz an den rechtlosen Blinden, die sonst doppelt, sozial als Ausgestoßene wie auch medial durch die Verwandlung ins Bild, zum Verstummen gebracht werden, das Recht zur Rede. (Sabine Gross, 2000)