370 likes | 761 Views
Ingeborg Bachmann (1926-1973). 25 Erklär mir, Liebe! 26 Wasser weiß zu reden, 27 die Welle nimmt die Welle an der Hand, 28 im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt. 29 So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus! 30 Ein Stein weiß einen anderen zu erweichen!
E N D
25 Erklär mir, Liebe! 26 Wasser weiß zu reden, 27 die Welle nimmt die Welle an der Hand, 28 im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt. 29 So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus! 30 Ein Stein weiß einen anderen zu erweichen! 31 Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann: 32 sollt ich die kurze schauerliche Zeit 33 nur mit Gedanken Umgang haben und allein 34 nicht Liebes kennen und nicht Liebes tun? 35 Muß einer denken? Wird er nicht vermißt? 36 Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn ... 37 Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander 38 durch jedes Feuer gehen. 39 Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts. 01 Erklär mir, Liebe (1954 entstanden) 02 Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind, 03 dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan, 04 dein Herz hat anderswo zu tun, 05 dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein, 06 das Zittergras im Land nimmt überhand, 07 Sternblumen bläst der Sommer an und aus, 08 von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, 09 du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, 10 was soll dir noch geschehen – 11 Erklär mir, Liebe! 12 Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad, 13 die Taube stellt den Federkragen hoch, 14 vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft, 15 der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt 16 das ganze Land, auch im gesetzten Park 17 hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt. 18 Der Fisch errötet, überholt den Schwarm 19 und stürzt durch Grotten ins Korallenbett. 20 Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion. 21 Der Käfer riecht die Herrlichste von weit; 22 hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch, 23 daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern, 24 und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!
Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt 1983
02 Dein Hutlüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind, 5 03 dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan, 6 04 deinHerz hat anderswo zu tun, 4 05 dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein, 5 06 das Zittergras im Land nimmt überhand, 5 07 Sternblumen bläst der Sommer an und aus, 5 08 von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, 5 09 du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, 5 10 was soll dir noch geschehen – 3
12 Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad, 13 die Taube stellt den Federkragen hoch, 14 vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft, 15 der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt 16 das ganze Land, auch im gesetzten Park 17 hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt. 18 Der Fischerrötet, überholt den Schwarm 19 und stürzt durch Grotten ins Korallenbett. 20 Zur Silbersandmusik tanzt scheuder Skorpion. 21 Der Käfer riecht die Herrlichste von weit; 22 hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch, 23 daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern, 24 und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!
Emblem 1592:Sonne/Schönheit des Pfaus = Gott/Tugend des Menschen
ICHTYS = Fisch Anagramm für „Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser“
Webarbeit, Ägypten, 3. Jhdt., LouvreFischschwarm als Fruchtbarkeitssymbol
26 Wasser weiß zu reden, 27 die Welle nimmt die Welle an der Hand, 28 im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt. 29 So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus! 30 Ein Stein weiß einen anderen zu erweichen! 31 Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann: 32 sollt ich die kurze schauerliche Zeit 33 nur mit Gedanken Umgang haben und allein 34 nicht Liebes kennen und nicht Liebes tun? 35 Muß einer denken? Wird er nicht vermißt? 36 Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn ... 37 Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander 38 durch jedes Feuer gehen. 39 Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.
08 von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, 09 du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, 10 was soll dir noch geschehen – 37 Ich seh den Salamander 38 durch jedes Feuer gehen. 39 Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.
Böhmen liegt am Meer (1964) Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern. Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. Bin ich’s, so ist’s ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren. Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal. Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.
William Shakespeare: • Ein Wintermärchen (böhmische Küste) • Verlorene Liebesmüh • Die drei Veroneser • Komödie der Irrungen
Giacomo Puccini: La Bohème (1896) • (nach dem gleichnamigen Roman von Henri Murger, 1851)
Ludwig Anzengruber: ‚Die Kreuzelschreiber‘ (1872) Der Steinklopferhanns: „Es kann dir nix g’schehen! Selbst die größt Marter zählt nimmer, wann vorbei is! Ob d’ jetzt gleich sechs Schuh tief unterm Rasen liegest oder ob d’ das vor dir noch viel tausendmal siehst – es kann dir nix g’schehn! Du ghörst zu dem alln, und dös alls ghört zu dir!“
‚Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte‘ (1953)
Der denkt, der gedacht hat, Hunderte von Jahren, um sich abzuhärten: Er wird nun vermißt. Die Brüderlichkeit, Natürlichkeit, Arglosigkeit, die er sich weggedacht, sie fehlen ihm nun doch. Merkt er noch, gestählt und gepanzert, wie er ist, ob es Feuer oder Kälte sind, durch die er geht? Er wird Instrumente mit sich führen, die Temperatur zu messen, denn was ihn umgibt, muß eindeutig sein. Dies bedenkend, bedauernd, beklagend auch, gibt das Gedicht selbst ein Beispiel von genauester Unbestimmtheit, klarster Vieldeutigkeit. So und nicht anders, sagt es, und zugleich – was logisch nicht zu denken ist –: So. Anders. Du bist ich, ich bin er, es ist nicht zu erklären. Grammatik der vielfachen gleichzeitigen Bezüge. Christa Wolf, Voraussetzungen einer Erzählung
Friedrich Schiller: Die Begegnung (1797) Noch seh ich sie, umringt von ihren Frauen, Die Herrlichste von allen stand sie da, Wie eine Sonne war sie anzuschauen, Ich stand von fern und wagte mich nicht nah, Es faßte mich mit wollustvollem Grauen, Als ich den Glanz vor mir verbreitet sah, Doch schnell, als hätten Flügel mich getragen, Ergriff es mich, die Saiten anzuschlagen. Was ich in jenem Augenblick empfunden, Und was ich sang, vergebens sinn ich nach, Ein neu Organ hatt ich in mir gefunden, Das meines Herzens heilge Regung sprach, Die Seele wars, die Jahre lang gebunden, Durch alle Fesseln jetzt auf einmal brach, Und Töne fand in ihren tiefsten Tiefen, Die ungeahnt und göttlich in ihr schliefen. […]