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Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose. Prof. Dr.med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin www.forensik-berlin.de. Verhaltensvorhersage.
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Mindestanforderungen an die psychiatrische Begutachtung zur Kriminalprognose Prof. Dr.med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin www.forensik-berlin.de
Verhaltensvorhersage Grundsätzlich ist die Vorhersage menschlichen Verhaltens keineswegs unmöglich: Menschen ändern sich. Aber Menschen bleiben sich auch in wesentlichen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften gleich. Beide Aussagen sind richtig. Unser ganzes Alltagsleben baut darauf, daß die uns umgebenden Menschen im wesentlichen gleich bleiben, daß der Ehepartner, der Arbeitskollege, daß die Bekannten im Verein sich auch morgen so verhalten werden, wie wir es von ihnen kennen und erwarten. Wäre das künftige Verhalten anderer nur unter hohem Risiko vorhersagbar, wir würden jeden Tag mit jenem Bangen aufstehen, das solche Menschen kennen, bei denen ein Familienangehöriger krankheitsbedingt unkalkulierbar geworden ist.
Verhaltensvorhersage Andererseits wissen wir und registrieren wir, daß Menschen sich verändern. Diese Veränderungsprozesse erfolgen in aller Regel langsam, in Kindheit und Jugend rascher und manchmal stürmischer. Späterhin erfolgen deutliche Änderungen in Verhalten, Einstellungen, Lebensweise nicht ganz selten als Folge von biographischen Krisen oder, häufiger, als Folge gewandelter Anforderungen.
Rechtliche Vorgaben ... verantwortet werden kann zu erproben, ob (§ 57, 57a StGB) ... erwartet werden kann, daß (§ 67d StGB) der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs/Maßregelvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird Bei der Entscheidung sind namentlich zu berücksichtigen • - die Persönlichkeit des Verurteilten, • - sein Vorleben, • - die Umstände seiner Tat, • - sein Verhalten im Vollzug, • - seine Lebensverhältnisse und • - die Wirkungen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.
BVerfG 5. Febr. 2004 (2 BvR 2029/01) Nach sachverständiger Beratung hat der Richter eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat. Diese Kontrolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen. Dabei müssen die Gutachter die für die Begutachtung maßgeblichen Einzelkriterien regelmäßig in einem sorgfältigen Verfahren erheben, das die Auswertung des Aktenmaterials, die eingehende Untersuchung des Probanden und die schriftliche Aufzeichnung des Gesprächsinhalts und des psychischen Befundes umfaßt und dessen Ergebnisse von einem Facharzt mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung gewichtet und in einen Gesamtzusammenhang eingestellt werden (vgl. Kröber, NStZ 1999, S. 593 <594 ff.>; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., S. 247).
BVerfG 5. Febr. 2004 (2 BvR 2029/01) Bevor der Richter das Prognoseergebnis aufgrund eigener Wertungen kritisch hinterfragen kann, hat er zu überprüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. So muß die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muß Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen offenlegen (vgl. im einzelnen BGHSt 45, 164 <178 f.>). Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage des § 67d Abs. 3 StGB eigenverantwortlich zu beantworten.
BVerfG 5. Febr. 2004 (2 BvR 2029/01) Neben dem Gebot der Transparenz gilt für das psychiatrische Prognosegutachten das Gebot hinreichend breiter Prognosebasis. Um dem Gericht eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu ermöglichen, muß das Gutachten verschiedene Hauptbereiche aus dem Lebenslängs- und –querschnitt des Verurteilten betrachten. Zu fordern ist insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem Anlaßdelikt, der prädeliktischen Persönlichkeit, der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung sowie dem sozialen Empfangsraum des Täter. Darüber hinaus hat der Gutachter bei Vorbereitung der - nach langjährigem Freiheitsentzug zu treffenden - Entscheidung gemäß § 67d Abs. 3 StGB besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, wie sich der Verurteilte bei etwaigen Vollzugslockerungen verhält. Denn gerade das Verhalten anläßlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für künftige Legalbewährung des Verurteilten dar.“
Typisierend (nomothetisch) Psychiatrische Diagnose (Zuordnung zu einem überindividuell bekannten Syndrom) Forensische Typisierung (Betrüger, Dealer, Verkehrsrowdy, Kindesmißbraucher, Skinhead, Bankräuber) Verlaufstypisierung (jugendlicher Intensivtäter, Späteinsteiger, Berufskrimineller, Verwahrlosungstäter) Modell Kleiderkammer: Paßt ! Individualisierend (idiographisch) (Wer und wie war Albert Speer?) Eine möglichst exakte, möglichst viele Informationen erfassende und auf ihren wesentlichen Gehalt konzentrierende (Ockham) Beschreibung der individuellen Funktionsweise eines Menschen (sein Skript, seine inneren Bewegungsgesetze, Grundeinstellungen, für ihn typischen Muster) Modell: Maßanzug Methodische Aspekte psychiatrischer Begutachtung im Strafrecht
Grundfragen des kriminalprognostischen Gutachtens 1. Worin bestand die zur Tat führende – die in den Taten zutage getretene - Gefährlichkeit? Einerseits: überdauernde, persönlichkeitseigene Faktoren Andererseits: eher vorübergehende, situative Faktoren Mehrgleisigkeit der Diagnostik: Delinquenzrisiko durch psychische Störungen, sexuelle Devianz Delinquenzrisiko durch Gewohnheit, Lebensstil, bewußte Entscheidung etc
Grundfragen des kriminalprognostischen Gutachtens 2. Was hat sich seit der Tat an dem Täter geändert, Wodurch, woran wird das sichtbar? Wie stabil sind diese Änderungen? Was hat sich nicht geändert? 3. Hat sich speziell an psychischen Risikofaktoren etwas geändert? 4. Beeinflussen die Veränderungen das Risiko erneuter Straftaten, oder sind sie dafür bedeutungslos?
Grundfragen des kriminalprognostischen Gutachtens 5. Wie ist die soziale Einbindung des Probanden, wie wäre seine soziale Lage nach der Entlassung? (Arbeit, Wohnen, Schulden, Beziehungen) 6. Welche Vorschläge gibt es zur weiteren Vollzugsgestaltung und die Zeit danach? Sind diese abgestimmt auf die realen Möglichkeiten? Sind sie geeignet zur Minderung des Delinquenzrisikos? Sind sie erforderlich?
Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten - Was ist das? • Der Proband ist bereits mehrfach als Straftäter ermittelt worden; er ist bereits mehrfach verurteilt worden. Er hat bereits mehrfach Strafen verbüßt. All das hat bei ihm keine Verhaltensänderung bewirkt. • Der Proband lebt im Einklang mit seinen Taten oder ist von ihnen unbeeindruckt oder hält sie für unvermeidlich. • Der Proband sieht keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Taten und Haftzeiten. • Kurzum: Der Proband hat – zumeist in Kindheit und Jugend – stabile dissoziale Kognitionen und Einstellungen erworben.
Juristische Fragestellung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung an den psychiatrischen Gutachter • Besteht ein erhöhtes Risiko, daß er wieder ernstlich straffällig wird? • Besteht bei dem Beschuldigten eine bleibende Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten? Gefährlichkeit? • Besteht vielleicht (auch) eine psychische Erkrankung, schwere Persönlichkeitsstörung, sexuelle Deviation? • Ist irgendeine der Erkenntnisse über seine Gefährlichkeit neu?
Basale Fragen der Kriminalprognose • 1. Worin bestand die zur Tat führende Gefährlichkeit? Einerseits: überdauernde, persönlichkeitseigene Faktoren Andererseits: eher vorübergehende, situative Faktoren Mehrgleisigkeit der Diagnostik: Delinquenzrisiko durch psychische Störungen Delinquenzrisiko durch Gewohnheit, Lebensstil, bewußte Entscheidung etc • 2. Was hat sich seit der Tat an dem Täter geändert? Wodurch, woran wird das sichtbar? Wie stabil sind diese Änderungen? Was hat sich nicht geändert? • 3. Hat sich speziell an psychischen Risikofaktoren etwas geändert? • 4. Beeinflussen die Veränderungen das Risiko erneuter Straftaten, oder sind sie dafür bedeutungslos? • 5. Wie ist die soziale Einbindung des Probanden, wie wäre seine soziale Lage nach der Entlassung?(Arbeit, Wohnen, Schulden, Beziehungen) • 6. Welche Interventionen könnten all dies ändern?
Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (1) 1. Beauftragung des Sachverständigen • durch wen (Behörde, StVK, StA, Anstalt)? • Mitteilung der vom Gutachter zu beantwortenden Fragen, • Zusendung der Akten: VH, GPA, (Sachakten) • Anforderung weiterer Akten (soweit vorhanden/erhältlich) durch den Sachverständigen.
Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (2) 2. Aktenstudium durch den Gutachter Auswertung des Akteninhalts (VH, Ermittlungsakten, Anstaltsakten, Krankenhausakten) im Hinblick auf die kriminalprognostischen Fragestellungen, insbes.: • - Lebens- und Delinquenzgeschichte (Frühdelinquenz, erste abgeurteilte Straftat, weiterer Delinquenzverlauf, Haftgeschichte sowie Integrationsgrad/-formen in Freiheit, Rückfallgeschwindigkeit, Intensitätsveränderungen, Konstanz/Veränderlichkeit des Tatbildes), • - Diagnostik- und Therapiegeschichte (päd., psychol., medizin. Befunde in der Kindheit und hernach, frühere Begutachtungen (Befunde!), frühere Behandlungen • - frühere Stellungnahmen des Probanden zu seinen Taten, zu sich selbst, zu wichtigen Bezugspersonen, seiner Lebensgeschichte etc. (z.B. in früheren Beschuldigtenvernehmungen)
Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (3) Weiter 2. Aktenstudium durch den Gutachter Besondere Aufmerksamkeit für den Vollzugsverlauf und „Nova“, für neue Erkenntnisse, inhaltlich (nicht nur nomenklatorisch) neue Befunde. • Wiedergewinnung verlorengegangener Informationen (Korrektur biographischer Legenden) • Schriftliche Zusammenfassung des beurteilungsrelevanten Akteninhalts
Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (4) 3. Untersuchung des Beschuldigten • In der Regel an mindestens 2 Terminen, je nach Schwierigkeitsgrad ca. 4-7 Stunden. • Spätestens das letzte ausführliche Gespräch in Kenntnis aller Aktenteile. • Eher passives Ertragen der primären Selbstdarstellung, selbstgewählte Ahnungslosigkeit. Gezieltes Nachfragen in einem weiteren Teil unter Offenbarung eigenen Wissens. Nach der systematischen Befragung unbedingt auch ein "freier Teil" des unstrukturierten, konfrontativen, kreativen Gesprächs.
II.1.4 Mehrdimensionale Untersuchung– Entwicklung und gegenwärtiges Bild der Persönlichkeit– Krankheits- und Störungsanamnese - Analyse der Delinquenzgeschichte und des Tatbildes Unter „mehrdimensionaler Untersuchung“ ist zu verstehen, daß themenbezogen drei elementare Bereiche exploriert werden: Person – Krankheit – Delinquenz. Eine Reduktion auf nur zwei oder eines dieser Themen macht das Gutachten insuffizient. Die drei Bereiche sind im individuellen Lebensverlauf zeitlich und sachlich verzahnt, was im Gespräch oft ein chronologisches Vorgehen nahe legt. Wenn die Prognosebegutachtung die erste forensische Begutachtung des Probanden ist, sollte man sich hinsichtlich der zu erhebenden Informationen an den „Mindestanforderungen für die Schuldfähigkeitsbegutachtung“ orientieren. Dies betrifft insbesondere die delikt- und diagnosenspezifische Exploration.
II.1.5 Umfassende Erhebung der relevanten Informationen (Herkunftsfamilie, Ersatzfamilie, Kindheit, Schule/Ausbildung/Beruf, finanzielle Situation, Erkrankungen [allgemein/ psychiatrisch], Suchtmittel, Sexualität, Partnerschaften, Freizeitgestaltung, Lebenszeit-Delinquenz [evtl. Benennung spezifischer Tatphänomene wie Progredienz, Gewaltbereitschaft, Tatmotive etc.], ggf. Vollzugs- und Therapieverlauf, soziale Bezüge, Lebenseinstellungen, Selbsteinschätzung, Umgang mit Konflikten, Zukunftsperspektive. Ausführliche Exploration insbesondere in Bezug auf die Lebenszeitdelinquenz [Delikteinsicht, Opferempathie, Veränderungsprozesse seit letztem Delikt, Einschätzung von zukünftigen Risiken und deren Management])
II.1.5 Umfassende Erhebung der relevanten Informationen - Fortsetzung • Erörterung von faktischen Diskrepanzen mit dem Probanden • Überprüfung der Stimmigkeit der gesammelten Informationen • Ansprechen von Widersprüchen zwischen Exploration und Akteninhalt • Da der Proband rechtskräftig abgeurteilt ist, kann und muß der Sachverständige von den Urteilsfeststellungen ausgehen und darf den Probanden mit den zugrunde liegenden Sachverhalten konfrontieren, ohne dass er sich damit dem Vorwurf der Befangenheit aussetzt. Einzelne Sachverhalte, insbesondere zur Delinquenzgeschichte, müssen gezielt erfragt werden, was Aktenkenntnis des Sachverständigen voraussetzt. Wenn der Proband Angaben macht, die deutlich von früheren Einlassungen oder von relevanten Akteninformationen abweichen, so sind diese Diskrepanzen anzusprechen. Wie die Probanden darauf reagieren, ist ein weiterer wichtiger Teil der Informationsgewinnung.
II.1.6 Beobachtung des Verhaltens während der Exploration, psychischer Befund, ausführliche Persönlichkeitsbeschreibung Unverzichtbar im Gutachten ist eine ausführliche und anschauliche Beschreibung des psychischen Ist-Zustandes des Probanden. Der Sachverständige soll das Interaktions-verhalten, die Selbstdarstellungsweisen, die emotionalen Reaktionsweisen, den Denkstil des Probanden in der Untersuchungssituation wahrnehmen, beschreiben und (persönlichkeits-)diagnostisch zuordnen. Es ist also wichtig, sich bald nach den Gesprächen nochmals alle Wahrnehmungen zu vergegenwärtigen und sie sprachlich zu fassen. Bei einem zweiten Untersuchungsgespräch können erste Eindrücke überprüft und eventuell korrigiert werden. Der „Psychische Befund“ ist durch die Wiedergabe testpsychologischer Ergebnisse nicht ersetzbar.
Gang der kriminalprognostischen Begutachtung (5) 4. Schriftliche Zusammenfassung der Gesprächsinhalte 5. Erarbeitung einer Beschreibung des Auftretens, der psychischen Verfassung des Beschuldigten und seines Verhaltens in der Interaktion ("psychischer Befund"); ggf. ergänzt um testpsychologische Befunde in einem gesonderten Abschnitt 6. Erörterung der Gutachtenfrage anhand von Akteninformationen, Gesprächsergebnissen, psychischen Befund und wissenschaftlichem Hintergrundwissen ("Beurteilung").
Gesichtspunkte im Untersuchungsgespräch • Authentizität, emotionale Konturierung, Anbiederung, Unterwerfung, Theatralik • Reaktion auf diesbezügliche Änderungsbemühungen • Wahrnehmung und Einbeziehung des Gesprächspartners • Aktuelles Nachdenken statt Abspulen von Erlerntem, Offenheit oder Zielgerichtetheit • Übereinstimmung oder Abweichung von früheren Aussagen, Aussagemustern, wiederkehrende Redemuster • Externalisieren, Internalisieren oder Differenzieren • Beschreibung der signifikanten Anderen im Lebensverlauf • Wahrnehmung typischer eigener Verhaltensmuster • eigene Gefühle und körperliche Sensationen, Möglichkeiten konstruktiver Verbalisierung • Selbstvertrauen, Optimismus, Verantwortungsübernahme, Frustrationstoleranz
II.1.7 Überprüfung des Vorhandenseins empirisch gesicherter, kriminologischer und psychiatrischer Risikovariablen, ggf. unter Anwendung geeigneter standardisierter Prognoseinstrumente Die Informationen aus Aktenstudium und Exploration werden erfaßt und partiell bewertet mit erfahrungs-wissenschaftlich fundierten, standardisierten Instrumenten zur Risikoeinschätzung. Diese Instrumente sind zunächst hilfreiche Checklisten um zu prüfen, ob die Exploration all jene Bereiche erfaßt hat, die in vielen Fällen kriminologisch relevant sind. Sie erfassen besonders wichtige und besonders häufige Risikofaktoren. Ein Ende der Entwicklung neuer standardisierter Verfahren ist nicht abzusehen. Insofern ist die Festlegung auf ein bestimmtes Verfahren weder sinnvoll noch notwendig.
II.1.7 Überprüfung des Vorhandenseins empirisch gesicherter, kriminologischer und psychiatrischer Risikovariablen, ggf. unter Anwendung geeigneter standardisierter Prognoseinstrumente Wird ein solches Verfahren (z.B. HCR-20, PCL-R etc.) genutzt, muß der Sachverständige darin ausgebildet und imstande sein, dieses auch kompetent anzu-wenden. Erforderlich ist, daß der Sachverständige ein korrektes, den Operationalisierungen entsprechendes Verständnis der Items und der Skalierung hat. Prognoseinstrumente ersetzen die hermeneutische oder hypothesengeleitete Individualprognose nicht, helfen aber, empirisches Wissen für die Prognose nutzbar zu machen und den internationalen Prognosestandard einzuhalten.
II.1.8 Indikationsgeleitete Durchführung testpsychologischer Diagnostik unter Beachtung der Validitätsprobleme, die sich aus der forensischen Situation ergebenIndikationsgeleitete Durchführung geeigneter anderer Zusatzuntersuchungen Testpsychologische Untersuchungen können, wenn sie Antworten auf nachvollziehbare Fragen liefern, nützlich sein, ebenso die Zweitsicht des Probanden durch einen Psychologen. Für Prognosegutachten sind die Eignung und die Validität psychologischer Tests von besonderer Bedeutung und müssen im Gutachten dargelegt werden. Entscheidende, gar objektive Hinweise zur Prognose sind aus testpsychologischen Aktualbefunden nicht ableitbar, insbesondere nicht durch den Abgleich mit testpsychologischen Befunddaten aus dem Erkenntnisverfahren, bei dem sich der Proband in einer ganz anderen psychischen Situation befand. Andere Zusatzuntersuchungen, z.B. mit bildgebenden Verfahren, sind sehr selten erforderlich.
II.2 Diagnose und Differentialdiagnose Die Erhebung der Informationen wird abgeschlossen mit der Benennung einer möglichst genauen Diagnose (orientiert gegenwärtig an ICD-10 oder DSM-IV-TR), sofern ein forensisch-psychiatrisch zu beschreibender Sachverhalt vorliegt. An dieser Stelle sind sogleich auch differentialdiagnostische Optionen zu benennen. Die eingehende Diskussion der Diagnose und der ihr zugrunde liegenden Sachverhalte sowie der Differentialdiagnose erfolgt dann hier oder im Rahmen der Beurteilung.
II.3.1 Konkretisierung der Gutachtensfrage aus sachverständiger Sicht, z.B. Rückfall nach Entlassung, Mißbrauch einer Lockerung Zu Beginn der gutachterlichen Schlußfolgerungen („Zusammenfassung und Beurteilung“) ist es sinnvoll, den Kern des Begutachtungsauftrags nochmals zu benennen und die dafür wichtigen Gesichtspunkte zu konkretisieren. Sicherlich macht es einen Unterschied, ob es um Entlassung oder aber Lockerungen geht, ob um die Begehung neuer Straftaten oder Flucht. Es gibt je nach Fragestellung und Fallgestaltung (Deliktsart, psychische Krankheit, Alter etc.) mehr oder weniger umfangreiche erfahrungswissenschaftliche Kriterien. Allemal aber geht es dann im ersten Schritt darum, aus der Rekonstruktion der Vorgeschichte die basale Problematik des Probanden zu analysieren.
II.3.2 Analyse der individuellen Delinquenz, ihrer Hintergründe und Ursachen (Verhaltensmuster, Einstellungen, Werthaltungen, Motivationen) Anhand der gewonnenen Erkenntnisse ist als erste Teilaufgabe die Frage zu klären, worin bei dieser Person ihre „in den Taten zutage getretene Gefährlichkeit“ besteht, was bei dieser Person die allgemeinen und besonderen Gründe ihrer Straffälligkeit sind. Es geht dabei um die Erfassung der verhaltenswirksamen Einstellungen, Werthaltungen, Motive, Intentionen sowie eingeschliffener Verhaltensmuster.
II.3.2 Analyse der individuellen Delinquenz, ihrer Hintergründe und Ursachen (Verhaltensmuster, Einstellungen, Werthaltungen, Motivationen) Ausgangspunkt jeder Prognose ist es, die bisherige delinquente Entwicklung dieses Menschen nachzuzeichnen und aufzuklären. Dies umfaßt die Rekonstruktion von Biographie und Delinquenzgeschichte und ggf. Krankheitsgeschichte, von Tatablauf und Tathintergründen des Anlaßdelikts sowie weiterer bedeutsamer Taten. Auf diese Weise soll eine ganz individuelle Theorie generiert werden, aus welchen Gründen gerade diese Person bislang straffällig geworden ist, was ggf. ihre Straffälligkeit aufrechterhalten und ausgeweitet hat.
Die „großen Vier“ der Rückfälligkeit(Andrews u. Bonta 1998, The psychology of criminal conduct; Cincinnati) • (1) Lange Vorgeschichte antisozialen und delinquenten Verhaltens, • (2) Ausgeprägte Merkmale der antisozialen Persönlichkeit, • (3) das Ausmaß antisozialer Kognitionen und Einstellungen sowie • (4) ein antisoziales Umfeld . • ((5)) Und außerdem noch diverse andere Täter.
II.3.3 Mehrdimensionale biografisch fundierte Analyse unter Berücksichtigung der individuellen Risikofaktorena. deliktspezifischb. krankheits- oder störungsspezifischc. persönlichkeitsspezifisch Aufgrund der der Analyse dieser drei Dimensionen soll vor dem Hintergrund empirischen Wissens eine individuelle Theorie generiert werden, wodurch die Straffälligkeit diese Person bislang gefördert wurde. Es geht um die persönlichen und situativen Bedingungsfaktoren der Straftaten und ihre zeitliche Stabilität. Dabei können die situativen Faktoren hochspezifisch und unwiederholbar oder aber überdauernd oder allgegenwärtig sein. Es ist also nicht nur zu erörtern, worin die in den bisherigen Taten zutage getretene Gefährlichkeit dieser Persönlichkeit bestanden hat, sondern auch, wie stabil und dauerhaft die der Rückfallgefahr zugrunde liegenden Faktoren sind. Hierzu bedarf es der Darlegung der empirischen Erkenntnis über die jeweiligen Risikofaktoren.
Standardisierte Instrumente? Anhaltspunkte und grobe Risikoeinschätzungen liefern dazu die standardisierten Instrumente (siehe II.1.7). Unter Bezugnahme auf deren Ergebnisse oder auch das kriminologische und forensisch-psychiatrische Erfahrungswissen ist eine grobe Zuordnung des Falles zu Risikogruppen möglich (in der Regel in Form einer Dreiteilung: hohes – mittleres - niedriges Risiko). Auf dieser Ebene klärbar sind am ehesten Fälle mit gruppenstatistisch belegtem sehr hohem oder sehr niedrigem Risiko. Entscheidend ist aber die Rekonstruktion der Gefährlichkeit und des Rückfallrisikos im Einzelfall, das von dem der Bezugsgruppe erheblich abweichen kann.
Weitere Erörterung in der Beurteilung • II.3.4 Abgleich mit dem empirischen Wissen über das Rückfallrisiko möglichst vergleichbarer Tätergruppen (Aufzeigen von Überstimmungen und Unterschieden) • II.3.5 Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung des Probanden seit der Anlasstat unter besonderer Berücksichtigung der Risikofaktoren, der protektiven Faktoren, des Behandlungsverlaufs und der Angemessenheit (Geeignetheit) der angewandten therapeutischen Verfahren
Weitere Erörterung in der Beurteilung • II.3.6 Auseinandersetzung mit Vorgutachten • II.3.7. Prognostische Einschätzung des künftigen Verhaltens und des Rückfallrisikos bzw. des Lockerungsmissbrauchs unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Empfangsraums, der Steuerungsmöglichkeiten in der Nachsorge und der zu erwartenden belastenden und stabilisierenden Faktoren (z.B. Arbeit, Partnerschaft) • II.3.8 Eingrenzung der Umstände, für welche die Prognose gelten soll und Aufzeigen der Maßnahmen, durch welche die Prognose abgesichert oder verbessert werden kann (Risikomanagement)
Welche Straftäter werden wiederholt rückfällig? • Stark dissozial geprägte Personen, häufig mit „polytroper“ Delinquenz (Eigentums-, Gewalt-, Sexual- und Verkehrsdelinquenz) • Menschen mit hohen Punktwerten in der Psychopathy-Checklist PCL (Hare) • Manche Betrüger und Hochstapler • Viele stabil Pädosexuelle, sofern sie bereits mehrfach straffällig geworden sind • Berufskriminelle (berufsmäßige Einbrecher, Drogenhändler, Zuhälter, Killer)
Bei welchen Deliktformen werden die Rückfallraten überschätzt? • Sexualstraftäter • Brandstifter - Wohl weil es Serientäter gibt (Serientäter ist etwas anderes als Rückfälligkeit) – wohl weil es Einzelfälle und Untergruppen mit sehr hoher Rückfälligkeit gibt - ohnehin: „den“ Sexualstraftäter gibt es nicht.
Einige Rückfälligkeitsfaktoren • anhaltende psychische Krankheit • krankheitsbedingte oder normalpsychologisch bedingte Noncompliance • fehlende therapeutische Unterstützung nach Entlassung • fehlende tagesstrukturierende Einbindung nach Entlassung • fehlendesoziale Einbindung nach Entlassung (Arbeit, Wohnen, enge Beziehungen, lockere Beziehungen, Freizeitgestaltung)
Einige Rückfälligkeitsfaktoren • - Impulsivität (rasche Rückfälligkeit, situative Verführbarkeit, evtl. Reizbarkeit, Substanzmißbrauch etc) • - fehlende Fremdwertgefühle (Gemütsarmut, fehlende Bindungsfähigkeit, hochgradige Egozentrik, Empathiemangel etc • - Haß und Sadismus (Straf- und Rachebedürfnisse, fehlendes Selbsterleben in Normalsituationen etc.) • - Berufskriminalität (gewählte kriminelle Laufbahn, ausschließlich kriminelle Sozialerfahrungen, Lebensstil) • - stabile ichsyntone sexuelle Devianz • - Gefährdung durch Substanzmißbrauch • - und manch anderes
Einige „klassische“ Risikofaktoren • Geringes Alter bei Delinquenzbeginn • Geringes Alter bei erster Gewalttat • Instabile Paarbeziehungen • Probleme im Arbeitsbereich • Substanzmißbrauch • Niedrige Intelligenz • Psychische Krankheit • Persönlichkeitsstörung • Sexuelle Deviation • Störung des Sozialverhaltens bereits in der Kindheit • Frühere Verstöße gegen Auflagen, Bewährungswiderruf • Erhöhte Werte in der Psychopathie-Checkliste (PCL) • Stets sehr rasche Rückfälligkeit • Nicht einmal in Haft Fähigkeit zur Anpassung, • etc. pp.
Leitsymptome „progredienter psychopathologischer Entwicklungen“ (E. Schorsch) I. Beobachtbare Verhaltensebene 1. Symptomhäufung 2. Ausgestaltung der Symptominszenierung 3. Intensitätsschwankungen des Symptoms 4. Lockerung/Verlust der personalen Einbindung II. Explorierbare Ebene qualitativen Erlebens 5. Zunehmende Okkupierung des Erlebens durch das Symptom 6. Verlust der reparativen Stabilisierungsfunktion des Symptoms 7. Vitalisierte Dekompensationszeichen III. Interpretative Ebene 8. Herabsetzung der Schwelle für die Symptomauslösung 9. Einengung der Realitätswahrnehmung auf Reizqualitäten des Symptoms 10. Angewiesensein auf das Symptom als „Rettungsanker“
Bei wem ist ein hohes Risiko recht zuverlässig feststellbar? • Täter mit langer, intensiver, polytroper Vorgeschichte • die – bei möglicherweise guter Formalanpassung - belehrungsresistent sind (mehrfach bestraft, stets rückfällig) • und auf hohe PCL-Werte kommen. • Auch Täter, die ihre eigene Rückfälligkeit prognostizieren.
Bei wem ist das Risiko schwer einschätzbar? • Bei jungen Tätern mit üblichen Taten. • Bei spät (als Erwachsener) beginnenden Tätern mit wenigen und nur einer – schweren - Tat. • Auch und gerade wenn diese Tat partiell eingebettet erscheint in eine Persönlichkeitsproblematik. • Die Persönlichkeitsproblematik kann auf Auflösbarkeit der kriminellen Disposition, aber auch auf deren Persistenz verweisen.
Wer hat wahrscheinlich auch ein hohes Rückfallrisiko? • Jugendliche und Heranwachsende, • die bereits sehr jung • qualifizierte sexuelle Gewaltdelikte begangen haben. Qualifiziert heißt: Vorphantasiert, vorüberlegt, vorbereitet, mit Werkzeugen (Fesseln, Waffen, Masken, Penetrationsutensilien), längerdauernd, …
Was tun mit Menschen mit hohem Rückfallrisiko? • Prüfen, obetwas getan werden kann, was getan werden kann, wo das getan werden kann. • Keine a priori insuffizienten „Therapien“, keine niederfrequenten Pseudotherapien für die Optik • Keine risikosteigernden Therapien, kein therapeutisches Kamikaze • So früh wie möglich, so illusionslos wie möglich • Jemanden notfalls irgendwann so lassen, wie er sein will – die Sicherungsverwahrung akzeptieren.
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