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Hanauer Modell Perspektiven für die psychiatrische Versorgung in Deutschland. Thomas Schillen Monika Thiex-Kreye. Psychiatrie-Reform in Deutschland seit Jahren stehen geblieben.
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Hanauer Modell Perspektiven für die psychiatrische Versorgung in Deutschland Thomas Schillen Monika Thiex-Kreye
Psychiatrie-Reform in Deutschland seit Jahren stehen geblieben • Schwer und chronisch psychisch Kranke haben immer noch die höchsten Hürden beim Zugang zu qualifizierten, evidenzbasierten Therapien. • Assertive Community Treatment, Home-Treatment oder Krisenteams sind weder nach BPflV noch nach PEPP finanziert. • Zugang zu Psychotherapie bei Psychosen ist verschwindend gering. • Evidenzen für Effizienz und Effektivität einer sektorübergreifenden Versorgung (Ausland, Regional-psychiatriebudgets, IV- und §64b-Projekte) finden keinen Eingang in das Entgeltsystem.
Reform psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgungskonzepte dringend erforderlich • Seit Jahren steigende Patientenzahlen und Versorgungsdefizite • Fragmentierung des Gesamtsystems nach Behandlungssektoren und Zuständigkeiten verschiedener Sozialgesetzbücher schlechtere Behandlungsqualität, zusätzliche Kosten • Reformbemühungen einer neuen jahresbezogenen Entgeltentwicklung singulär im stationären Sektor (PEPP) können diese zentralen Mängel nicht beseitigen. • Eine grundlegende Verbesserung von Behandlung und Ressourcenallokation erfordert die Integration ambulanter und stationäre Behandlungssektoren.
Fehlallokation von Therapieressourcen durch Budgetbindung an das stationäre Bett 180 250 Klinik Tagesklinik Klinik Klinik Hanauer Modell Stations- äquivalente Akutbehandlung Vergütung Therapiebedarf Tagesklinik PIA 2 1 KV PIA 0,50 0,25 [min/d] [€/d] Symptomschwere
Hanauer Modell – Umsetzung im §140a-Vertrag mit AOK HE & TK • 06.2011 IV-Vertrag mit AOK HE und TK: Volle Flexibilität sektorübergreifender Leistungen • 09.2011 Schließung von 6 Betten auf 3 Stationen. Mentoring der PIA auf den Stationen, Fallmanagement, Krisenpläne, Hausbesuche, … • 06.2012 Schließung von 22 Betten, Ablösung durch Stationsäquivalente Ambulante Akutbehandlung
Stationsäquivalente Ambulante Akutbehandlung • Ambulante Versorgung bei stationärer Behandlungs-indikation des bisherigen Versorgungssystems • Verkürzung stationärer Behandlungen • Störungsspezifische Behandlung nach individuellem Bedarf (need-adapted-treatment, assertive community treatment, systemische Therapie, Hausbesuche, home treatment, Krisenteam). • Ambulante Akutbehandlung an 7 Tagen / Woche Personalressourcen einer Station ohne Nachtwachen • Autonomie und Ressourcen des Patienten und seines sozialen Systems • Freiwillige Entscheidung des Patienten, kein Zwang, kaum aggressive Reaktionen
Fallvignetten 1 • Stationsverkürzend 44♂, Schizophrenie, PolytoxikomanieBeziehungswahn, akustische Halluzinationen, aggressiv, Suchtdruck. 6 Tage stationär, dann AAB: mehrere Kontakte täglich, Mutter eng einbezogen, Medikamenteneinnahme konnte erreicht werden, Patient bei akuten Krisen zu Hause abgeholt. Zunehmende Besserung, Kontaktfrequenz reduziert. Nach 4 Wochen AAB Überleitung in PIA. • Stationsäquivalent 38♂, Schizoaffektive Störung, Alkohol, Benzodiazepine, Suizidalität21 teil/stationäre Aufenthalte 1997 – 2012, davon 14 seit 2011. 08/2012 AAB: Beziehungsaufbau. Im Wechsel Phasen hoher und niedriger Behandlungsintensität. Dauer reduzierter Behandlungsdichte ausgeweitet. Kurz nach AAB-Aufnahme noch einmal 4 Tage stationär, seit 15 Monaten nicht mehr stationär.
Fallvignetten 2 • Home-Treatment 79♀, Delir bei Parkinson, Anpassungsstörung, OSH-Fraktur. Massive Unruhe, nächtliche Verwirrtheit, Halluzinationen, Ängste. 4 Wochen Home-Treatment im Altenheim + Coaching Pflegeteam Gute Remission, keine stationäre Aufnahme. • Langzeitbehandlung 50♀, chronische Psychose, rezidivierende Fremdaggression im sozialen Umfeld. Regelmäßig stationäre Unterbringung durch die Polizei, keine medikamentöse Adhärenz, Behandlungsabbruch bald nach Entlassung. 07/2012 AAB: Längerfristig tragfähige therapeutische Beziehung. Die Patientin kommt bei Teilremission der Psychose freiwillig alle 2 Wochen zur Depotmedikation. Seit 1½ Jahre keine Zwangseinweisung mehr.
Stationäre BT Ist – Sollalle Krankenkassen pro Tag pro Jahr kumuliert
Stationäre Berechnungstage pro Fall 9,9 pro Patient §140a AOK HE & TK §64b GKV
Hanauer Modell – Umsetzung als §64b-Vertrag mit allen Kassen • 09.2013 Erstes §64b-Modellvorhaben in Deutschland • Sektorübergreifendes Gesamtbudget aller Behandlungssektoren mit 100% Minder- und Mehrerlösausgleich • Wahl des Behandlungssektors nach dem Bedarf des Patienten • Identische Entgelte für alle GKV-Versicherten(Modell- und 4% Nicht-Modell-Krankenkassen) • Identische Behandlungspfade für alle 3800 Patientenunserer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Hanauer Modell – nächste Schritte • Schließung weiterer 18 Betten ab Sommer 2014 • Ausweitung der bisherigen AAB und Aufteilung in 2 Teams • Störungsspezifische AAB nach Funktionsniveau • Erprobung einer OE mit 10 offenen Betten + PTK + AAB + PIA in einer Hand ohne klinikinterne Schnittstelle
Hanauer Modell – Bettenmessziffern 125 (0,58) Betten (BMZ ST) 25 25 6 6 10 22 22 22 46 (0,47) 12 40 40 (0,41) 24 (0,24) 36 (0,37) 100 (0,47) 94 (0,44) 78 (0,37) 78 (0,37) 54 (0,47) 54 (0,47) 54 (0,47) 60 (0,28) 42 (0,37) 01.2011 09.2011 06.2012 09.2013 07.2014 AOK HE & TK Rest KT Alle KT Konstant Plätze: 20, PMZ TS: 0,09
Ausweitung von Modellprojekten wird blockiert • Eine ganze Reihe von Kliniken würden das Hanauer Modell gerne übernehmen. • Bundesweit unterschiedlichste Krankenkassen suchen die Ausweitung von Modellvorhaben zu verhindern. • Einige Kassen propagieren sehr entschieden das PEPP-System, weil sie darauf spekulieren, mit ihrem Patienten-spektrum PEPP-Gewinner im Wettbewerb der Kassen zu sein. • Andere Kassen setzten auf KV-Verträge, um ihre stationären Psychiatriekosten zu reduzieren. • Ein neues Entgeltsystem für eine einzelne Komponente des Versorgungssystems führt zwangsläufig dazu, dass Kostenträger und Leistungserbringer sich partikular betriebswirtschaftlich in genau diesem Segment anpassen.
Krankenhauskosten F0 – F9 in Deutschland:BPflV, PEPP vs. Hanauer Modell BPflV / PEPP Modell + 0,98 G€ Betten für 90% 4,4 G€ ST TS 8,8 G€ ST TS 100% 7,4 G€ ST TS 100% 4,4 G€ AM ST : Stationär, TS : Teilstationär, AM: Ambulant Quelle: destatis
Hanauer Modell – Fazit 1 • Sektorübergreifendes Gesamtbudget Voraussetzung für Flexibilisierung der patientenorientierten Versorgung (RPB) • Weitreichende Veränderung der Versorgungskonzepte (IV) • Relevantes Finanzvolumen zur Ambulantisierung aus dem bestehenden Klinikbudget, statt IV-Zusatzfinanzierung • Ambulantisierung ändert die Qualität der psychiatrischen Versorgung von Grund auf: • Begleitung selbstbestimmter Patienten anstatt Zwangsbehandlung • Reduzierung aggressiver Reaktion • Therapeutische Beziehung mehr zentraler Faktor der Behandlung • Verhandeln statt behandeln • Psychotherapie erhält gleichwertig Raum neben einer ggfs. indizierten Psychopharmakotherapie
Hanauer Modell – Fazit 2 • Wir müssen Inhalte und Ziele der Psychiatrie-Enquête für den betroffenen Menschen wieder in den Blick nehmen. • Wir sollten die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung nicht dem strategischen Marktverhalten einzelner Krankenkassen und Klinikkonzerne überlassen. • Die Zeit drängt: Neue Bettenhäuser werden die nächsten 20 Jahre mit stationären Patienten belegt sein. • Projekte wie das Hanauer Modell bieten die Chance einer weitreichenden Veränderung der Kliniken zu einer sektorübergreifenden patientenorientierten Psychiatrie auch in Deutschland.
Hanauer Modell – Fazit 3 • Die sektorübergreifende Versorgung passt die Klinik dem Patienten an und nicht den Patienten der Klinik. • Die hohe Kompetenz der Klinik für die komplexe Begleitung gerade der schwer und chronisch Kranken mit den Mitteln des Krankenhauses wird damit unabhängig vom stationären Bett. • Diese Entwicklung kann den Menschen und sein soziales System als Ganzes in den Blick nehmen. • Netzwerk vieler Modellprojekte, die diese Entwicklung evidenzbasiert und nach best practice vorantreiben. • Politik: Fehlentwicklung des PEPP-Systems beseitigen, Stationsäquivalente Akutbehandlung durch Krankenhaus ohne Bett gesetzlich festlegen.
Nationaler Aktionsplan Psychiatrie • Expertenkommission • Erst die Ziele der psychiatrischen Versorgung in Deutschland festlegen, • dann das dafür geeignete Entgeltsystem.
Kerbe 2 | 2014 Themenschwerpunkt Schillen T, Thiex-Kreye M Das Hanauer ModellPerspektiven für die psychiatrische Versorgung in Deutschland. Kerbe 2014, 2: 11 – 15