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Naturalismus und Menschenbild. Kölner Forum für Psychotherapie, Kunst und Philosophie 12. Januar 2009 Thomas Grundmann, Universität zu Köln. Das Manifest der Neurowissenschaftler. Gehirn & Geist 6/2004:
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Naturalismus und Menschenbild Kölner Forum für Psychotherapie, Kunst und Philosophie 12. Januar 2009 Thomas Grundmann, Universität zu Köln
Das Manifest der Neurowissenschaftler • Gehirn & Geist 6/2004: „man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“ „Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus.“ • Credo der Autoren: Die Naturalisierung des Geistes erfordert eine Revision unseres Menschenbildes und Selbstverständnisses. • Meine Gegenthese: Das ist ganz falsch! Nur die Realisierung des naturalistischen Programms kann unser Menschenbild bewahren!
Überblick • Alltägliches Weltbild und Wissenschaft • Alltägliches Selbstverständnis und naturwissenschaftliches Menschenbild • Der Konflikt beider Perspektiven • Konsequenzen für unser Selbstverständnis • Drei mögliche Auswege: Kant – Habermas - Naturalismus • Das Programm und die Aussichten des Naturalismus • Schlussbemerkung zu Libet • Fazit
1-1 Alltägliches Weltbild und Wissenschaft • Die Welt ist an sich (objektiv) nicht immer so, wie sie uns alltäglich und vortheoretisch erscheint. • Die Erscheinung der Welt beruht auch auf • perspektivischen Verzerrungen • Ideologien und psychologischen Voreingenommenheiten • Beitrag unserer Sinnesphysiologie zum Wahrnehmungsbild • Die Wissenschaft soll die Verzerrungen des alltäglichen Weltbildes korrigieren und zugleich erklären, welche Ursachen diese Verzerrungen haben (Objektivierung). • Dabei kann es sich um kollektive Verzerrungen handeln, in denen alle Menschen übereinstimmen. • Die Objektivierung ist wünschenswert, weil wir ein wahres Bild der Welt anstreben.
1-2 Alltägliches Weltbild und Wissenschaft • Beispiele für fehlerhafte Aspekte unseres alltäglichen Weltbildes: • „Die Sonne dreht sich um die Erde. Sie geht morgens auf und abends unter.“ Erst Kopernikus entdeckt, dass die Erde um die Sonne kreist und das sich der alltägliche Eindruck durch die Eigenbewegung des Beobachters erklären lässt. • „Die Dinge sind farbig, haben Geschmack und Geruch in genau demselben Sinne wie Form, Größe oder Festigkeit.“ Das wissenschaftliche Weltbild eliminiert sekundäre Eigenschaften aus der Außenwelt (sie haben keinen physikalischen Erklärungswert) und sieht in ihnen unsere Projektionen aufgrund unserer anthropologischen Wahrnehmungsausstattung.
1-3 Alltägliches Weltbild und Wissenschaft • Beispiele für fehlerhafte Aspekte unseres alltäglichen Weltbildes (Fortsetzug) 3. „Eine Erkältung bekomme ich, weil ich kalt geworden bin.“ Tatsächlich sind Frösteln und Fieber beides Symptome eines zugrunde liegenden Krankheitsgeschehens. Fehlschluss von der regelmäßigen Abfolge auf eine Kausalbeziehung. • „Auf der rechten Seite sind qualitativ bessere Waren ausgelegt.“ Psychologischer Positionseffekt: Alltagsmenschen erscheint Ware gleicher Qualität besser, wenn sie rechtsseitig ausliegt. Qualitätsurteile werden durch räumliche Position beeinflusst. Wir sollten unser alltägliches Weltbild durch Einsichten der Wissenschaften korrigieren.
2-1 Alltägliches Selbstbild • Aus der Perspektive der ersten Person erleben wir uns alltäglich als Subjekte: • Wir haben intentionale Zustände (Gedanken, Meinungen, Wahrnehmungen, Wünsche, Absichten). • Viele intentionale Zustände sind ich-zentriert („Vor mir sehe ich das interessierte Publikum“) • Ich habe phänomenales Bewusstsein (das eine subjektive Erlebnisqualität besitzt). • Wir sind Akteure: unser Verhalten wird durch unsere intentionalen Zustände verursacht und kontrolliert. • Wir sind verantwortliche Personen, die zwischen verschiedenen Optionen frei aufgrund von Gründen entscheiden.
2-2 Naturwissenschaftliches Menschenbild • Das naturwissenschaftliche Menschenbild beruht auf der Beobachterperspektive der 3. Person: • Der Mensch ist Teil der materiellen/physikalischen Welt. • Der Mensch ist ein körperliches Ding, das sich in seiner Umgebung verhält. • Sein Verhalten wird kausal durch neuronale Prozesse erklärt, die in ihm ablaufen und deren Strukturen durch biologische Prozesse und Umwelteinflüsse geformt werden. • Der Kausalzusammenhang der natürlichen Welt ist geschlossen: Prinzip kausaler Geschlossenheit: Jedes Ereignis in der natürlichen Welt (einschließlich des menschlichen Verhaltens) wird kausal vollständig durch natürliche Ursachen erklärt.
2-3 Naturwissenschaftliches Menschenbild • Ist das Prinzip der kausalen Geschlossenheit (PKG) der natürlichen Welt an eine deterministische Physik gebunden? • Determinismus: Die Vorgeschichte und die Naturgesetze erzwingen alle weiteren Ereignisse in der Welt. • Quantentheorie ist indeterministisch (nur Ereigniswahrscheinlichkeiten werden bestimmt). • Deterministische Version des PKG: Jedes natürliche Ereignis hat eine hinreichende natürliche Ursache. • Interdeterministische Version des PKG: Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein natürliches Ereignis auftritt, wird hinreichend durch die natürliche Ursache bestimmt.
3-1 Konflikt der Perspektiven • Die objektive naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt ist nicht vollständig. Nagel 1986, S. 5f.: „A succession of objective advances may take us to a new conception of reality that leaves the personal or merely human perspective further and further behind. But if what we want is to understand the whole world, we can‘t forget about those subjective starting points indefinitely; we and our personal perspectives belong to the world. One limit encountered by the pursuit of objectivity appears when it turns back on the self and tries to encompass subjectivity in its conception of the real. The recalcitrance of this material to objective understanding requires both a modification of the form of objectivity and a recognition that it cannot by itself provide a complete picture of the world.“
3-2 Konflikt der Perspektiven Argumente für die Unvollständigkeit der objek. Beschreibung: A1 Fehlende Zentrierung (Lewis): Nehmen Sie an, ich wäre gottgleich darin, dass ich alle objektiven Tatsachen der Welt kenne. Ich würde alle Gesetze kennen, alle singulären Tatsachen in der belebten und unbelebten Welt, einschließlich ihrer ganzen Geschichte. Ich würde alle Menschen kennen, darunter eine namens Thomas Grundmann. Ich wüsste von dieser Person, genau wie von jeder anderen, welche Biografie, Geschichte und welche gegenwärtigen Gedanken, Wünsche und Empfindungen sie hat. Ích wüsste aber eines nicht: dass ich Thomas Grundmann bin. Im Rahmen der objektiven Weltbeschreibung hätte ich micht nicht lokalisiert. Dass ich eine bsetimmte Person in der Welt bin, ist nichts, was die objektive Beschreibung der Welt enthält.
3-3 Konflikt der Perspektiven Argumente für die Unvollständigkeit der objek. Beschreibung: A2 Fehlen von phänomenalem Bewusstsein in der objektiven Beschreibung (Chalmers Zombie Argument). A3 Die objektive Beschreibung der Tatsachen lässt die Bedeutung unerfasst. Aber: Selbst wenn die objektive naturwissenschaftliche Weltbeschreibung unvollständig ist und wichtige Aspekte unseres Selbstverständnisses außer Acht lässt, bedeutet das nicht, dass beide Perspektiven im Konflikt steht. Das würde sich nur ergeben, wenn das naturwissenschaftliche Weltbild Vollständigkeit beansprucht (Naturalismus).
3-4 Konflikt der Perspektiven • Wenn subjektive Tatsachen nicht in den Bereich der natürlichen Welt gehören, dann sind sie kausal unwirksam. Das widerspricht unserem Selbstverständnis als Akteure. Arg. (P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen Tatsachen. (P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen Verhaltens) sind kausal geschlossen. ---- • Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten. (Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.)
3-5 Konflikt der Perspektiven • Alle bewussten Entscheidungen sind Wirkungen von unbewussten Gehirnprozessen und deshalb nicht frei. Das widerspricht unserem Selbstverständnis als verantwortliche Personen. Aus 2. und 3. zusammen ergibt sich, dass bewusste Entscheidungen epiphänomenal sind: Wirkungen von neuronalen Prozessen, die selbst keine Wirkungen haben.
3-6 Konflikt der Perspektiven Wolfgang Prinz 2004: • „Wir glauben, dass wir, wenn wir handeln, uns erst entscheiden und dann tätig werden. Ich als mentaler Akteur kommandiere meinen physischen Körper: Ich tue, was ich will. Die Wissenschaft erklärt unser Handeln anders. Der Interpretation des Libet-Versuchs zufolge findet eine Entscheidung früher im Gehirn als Im Bewusstsein einer Person statt.“ • „Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat (…).“ • Die Alltagspsychologie ist dualistisch: Sie unterscheidet zwischen mentalen und physischen Sachverhalten, und sie glaubt, dass der Geist den Körper regiert. Wenn wir wissenschaftlich denken, ist diese dualistische Position unhaltbar.“
4 Wie schlimm wäre die Revision unseres Menschenbildes? 1. Verantwortlichkeit wäre problematisch (Strafen ließe sich nur als Sozialtechnik rechtfertigen). 2. Im strengen Sinne gäbe es keine Handlung mehr (sondern nur Verhalten). • Wir wären nachträglich rationalisierende Beobachter unseres eigenen Verhaltens. • Epiphänomenalismus bewusster Gedanken ist keine stabile Position: • Es gibt keine echte Rationalität. • Unsere Aussagen über eigene mentale Zustände verlieren ihren Gehalt. • Selbstwissen wird problematisch.
5-1 Mögliche Lösungen des Konflikts (A) Kants Kompatibilismus der Perspektiven: (P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen Tatsachen. (P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen Verhaltens) sind kausal geschlossen. ---- (K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten. (Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.) • Nach Kant ist das Argument gar nicht gültig: Auch wenn die natürlichen Tatsachen kausal geschlossen (und sogar determiniert sind), kann es dennoch zugleich übernatürliche (freie) Ursachen natürlicher Tatsachen (Verhalten) geben.
5-2 Mögliche Lösungen des Konflikts • Kants Kompatibilismus der Perspektiven (Fortsetzung): Kant hält eine kausale Überdeterminierung des Verhaltens durch zwei voneinander unabhängige, jeweils hinreichende Ursachen für möglich. „Die Wirkung (das Verhalten, TG) kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden.“ (KrV, B 565) Für Kant ist Kausalität aus Freiheit möglich, aber nicht erkennbar.
5-3 Mögliche Lösungen des Konflikts Warum Kants Kompatibilismus nicht funktioniert: • Wenn Verhalten X durch die Natur kausal determiniert wird, dann ist es unmöglich, dass es (gegeben die natürliche Vorgeschichte) anders ausgefallen wäre. (Prämisse von Kant) • Jedes Verhalten wird durch die Natur kausal determiniert. (Prämisse von Kant) • Es ist unmöglich, dass (gegeben die natürliche Vorgeschichte) das Verhalten X anders ausgefallen wäre. (1), (2) • Wenn das Verhalten X durch eine intelligible Ursache (frei) verursacht wird, dann wäre es anders ausgefallen, wenn (trotz konstanter natürlicher Vorgeschichte) die intelligible Ursache (Entscheidung) anders ausgefallen wäre. • Verhalten X kann nicht durch eine intelligible Ursache verursacht werden. (3), (4)
5-4 Mögliche Lösungen des Konflikts • Habermas (2008) attackiert Prämisse (2): (P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen Tatsachen. (P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen Verhaltens) sind kausal geschlossen. ---- (K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten. (Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.) • Habermas 1: Die derzeitige Naturwissenschaft gibt noch keine lückenlose Kausalerklärung und hängt immer noch von lebensweltlichen Hintergrundannahmen ab. Deshalb ist (P2) falsch. • Habermas 2: Wenn wir ein monistisches Weltbild anstreben, dann wenigtens kein naturalistisches.
5-5 Mögliche Lösungen des Konflikts • Die Hintergrundargumentation von Habermas • Rationalität und Begründung lässt sich nicht naturalistisch objektivieren. • Rationalismus und Begründung werden aber von jeder wissenschaftlichen Theorie performativ vorausgesetzt. K Also ist eine vollständige wissenschaftliche Objektivierung der Welt (Naturalismus) nicht konsistent möglich. Kr. Dass (1) richtig ist, müsste erst noch gezeigt werden. Dagegen spricht der erkenntnistheoretische Naturalismus!
5-6 Mögliche Lösungen des Konflikts Warum Habermas‘ Argument gegen (P2) nicht überzeugt: • Die Wissenschaft ist niemals vollständig abgeschlossen. Daraus folgt aber nicht, dass die natürlichen Tatsachen kausal nicht geschlossen sind. • Für die kausale Geschlossenheit sprechen zwei Argumente: • Energieerhaltungssatz der Thermodynamik (2. Hauptsatz). • Methode der Physik: Es wird immer nur nach physikalischen Ursachen für physikalische Wirkungen gesucht.
5-7 Mögliche Lösungen des Konflikts • Naturalismus greift (P1) an: (P1) Subjektive Tatsachen gehören nicht in den Bereich der natürlichen Tatsachen. (P2) Die natürlichen Tatsachen (einschließlich des menschlichen Verhaltens) sind kausal geschlossen. ---- (K) Subjektive Tatsachen sind keine Ursachen von Verhalten. (Es ist eine Illusion, dass wir Akteure sind.) • Wenn sich subjektive Tatsachen (Intentionalität, phänomenales Bewusstsein und freie Entscheidungen) ontologisch auf natürliche Tatsachen zurückführen lassen (obwohl ihre Beschreibung sich nicht aus der objektiven Weltbeschreibung ableiten lässt), dann könnten sie auch Ursachen unseres Verhaltens sein.
5-8 Mögliche Lösungen des Konflikts • Bemerkungen zum Naturalismus: • Ontologischer Naturalismus: alle Tatsachen hängen ab von natürlichen (materiellen, physikalischen) Tatsachen. Keine Identität, sondern Supervenienz (lässt vielfache Realisierung zu). Supervenienz: Als Gott alle natürlichen Tatsachen geschaffen hatte, war er mit der Schöpfung fertig. Ontologische Supervenienz impliziert nicht, dass alle Sätze ableitbar sein müssen aus physikalischen Sätzen. 2. Bewahrender Naturalismus (im Unterschied zum eliminativen Naturalismus): alle Tatsachen haben eine physikalische Realisierung. Nicht: Es gibt nichts als physikalische Tatsachen.
5-9 Mögliche Lösungen des Konflikts • Bemerkungen zum Naturalismus: • Fehler von Wolfgang Prinz (2004): • Prinz nimmt einfach an, dass unsere Alltagspsychologie dualistisch ist. • Dafür wäre erst einmal eine Begriffsanalyse nötig, die gar nicht vorgenommen wird. • Prinz setzt auch voraus, dass Willensfreiheit das neue Anfangen einer Kausalkette impliziert (Erstursache). • Fazit: Unser Selbstverständnis und Menschenbild aus der Perspektive der ersten Person lässt sich nur retten, wenn sich das Programm des bewahrenden ontologischen Naturalismus für die subjektive Perspektive erfolgreich durchführen lässt.
6-1 Programm / Aussichten des Naturalismus • Naturalisierung der Bedeutung • Basale Geist-Weltbeziehung beruht auf Kausalrelationen zwischen Vorstellungen und Gegenständen. • Problem der Fehlrepräsentation oder Fehlanwendung von Begriffen: Die Repräsentation FLIEGE kann fälschlich auf eine kleine schwarze Kugel angewandt werden. Das lässt sich kausal nicht erklären (normative Dimension der Bedeutung). • Lösungsvorschlag: Repräsentationen erwerben ihre Bedeutung dadurch, dass sie in der Vergangenheit mit einer Tatsache korreliert waren, und davon der Benutzer (phylogenetisch oder ontogenetisch) profitiert hat. Weil der schwarze Punkt auf der Retina des Frosches immer mit Fliegen korreliert war, hat er ein erfolgreiches Fliegenfangverhalten des Frosches ausgelöst. Dadurch hat der Punkt auf der Retina historisch die Funktion erworben FLIEGEN anzuzeigen. Und zwar auch dann, wenn tatsächlich gar keine Fliege in der Umgebung vorhanden ist. (Biosemantik, Millikan 2004)
6-2 Programm / Aussichten des Naturalismus • Naturalisierung der Bedeutung (Fortsetzung) • Bedeutungen sind nicht im Gehirn! Wenn die geistige Bedeutung von Beziehungen zwischen neuronalen Zuständen und der Außenwelt abhängt (Kausalbeziehungen, evolutionäre Geschichte), dann ist die Bedeutung (der Geist) nicht im Gehirn (allein). • Die Supervenienzbasis schließt (historische) Beziehungen zur Umwelt mit ein. • Erklärungsversuche können also nicht an die Neurowissenschaften deligiert werden.
6-3 Programm / Aussichten des Naturalismus • Naturalisierung der Willensfreiheit • Freie Entscheidungen sollen Verantwortlichkeit der Person erklären. Wenn jedoch eine freie Entscheidung ein neuer Anfang einer Kausalkette wäre, die zur Handlung führt, dann wäre die Entscheidung gegenüber den rationalen Überlegungen der Person rein zufällig. Der Akteur kann für seine Entscheidung und die daraus resultierende Handlung nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn sie durch seine eigenen Überlegungen gebunden ist und ihm zuschreibbar ist. Das schließt Erstursächlichkeit aus!
6-4 Programm / Aussichten des Naturalismus • Naturalisierung der Willensfreiheit (Fortsetzung) • Normalerweise nehmen wir an, das folgendes Prinzip alternativer Möglichkeiten gilt: (PAP) Eine Person S ist für ihre Handlung X nur dann verantwortlich, wenn sie auch anders hätte entscheiden und handeln können. • PAP ist in einer kausal geschlossen natürlichen Welt nicht erfüllt.
6-5 Programm / Aussichten des Naturalismus • Naturalisierung der Willensfreiheit (Fortsetzung) • PAP ist unplausibel (Frankfurt 2001; S. 59ff) Ein Auftragsmörder Jones wird von Black beauftragt, einen Mord zu begehen. Um sicherzustellen, dass Jones den Mord in jedem Fall begeht, wird Jones, ohne dass er es merkt, ein Gerät ins Gehirn eingesetzt, mit dem Black die Entscheidung von Jones direkt manipulieren kann, wenn dieser die Entscheidung nicht von allein trifft. Nun trifft Jones seine Entscheidung von sich aus. Jede andere Entscheidung würde Black aber durch Manipulation verhindern. Wenn Black nicht eingreift, scheint Jones verantwortlich, obwohl er nicht anders entscheiden könnte.
6-6 Programm / Aussichten des Naturalismus • Naturalisierung der Willensfreiheit (Fortsetzung) • Negativ: Für Willensfreiheit sind also weder Erstursächlichkeit noch alternative Entscheidungsmöglichkeiten erforderlich. • Positiv: Eine Entscheidung ist frei, wenn sie dem entspricht, was eine Person wirklich will. Das hängt von ihren Gründen zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung und von ihrer Biografie ab. • Das schließt die Willensfreiheit in folgenden Fällen aus: • Sucht- oder Triebhandlung • Manipulation durch Gehirnwäsche
7-1 Schlussbemerkung zu Libet • Das klassische Experiment: Probanden werden gebeten, zu einem beliebigen Zeitpunkt die rechte Hand zu bewegen. Über EEG wird das Bereitschaftspotential im Kortex gemessen, das die Ursache für die Handlung sein soll. Gleichzeitig sollen sich die Versuchspersonen auf einer schnell laufenden Uhr merken, wann sie sich für die Bewegung entscheiden. • Überraschendes Resultat: Das Bereitschaftspotential tritt deutlich früher auf (-550ms) als die bewusste Entscheidung (-200ms). • Nahe liegende Interpretation: Die bewusste Entscheidung wird erst getroffen, nachdem das Gehirn unbewusst bereits die Handlung ausgelöst hat.
7-2 Schlussbemerkung zu Libet • Kritik dieser Interpretation: E1 Wenn das Bereitschaftspotential eine Ursache in der Kausalkette ist, dann schließt das die bewusste Entscheidung als Ursache nicht aus. E2 Vielleicht ist das Bereitschaftspotential gar nicht hinreichend für die Handlung, sondern nur eine Motivation, die Entscheidung zu treffen (steigender Erwartungsdruck etc.) Libet zeigt nicht, dass bewusste Entscheidungen Epiphänomene sind!
8 Fazit • Unser alltägliches Selbstverständnis von bewussten und freien Akteuren lässt sich nur dann bewahren, wenn sich das Programm des Naturalismus durchführen lässt. • Der bewahrende Naturalismus bedroht unser herkömmliches Menschenbild nicht, sondern stabilisiert es. • Wenn sich die wesentlichen Aspekte unseres alltäglichen Selbstverständnisses allerdings nicht naturalisieren lassen, dann stehen uns erhebliche Erschütterungen des Menschenbildes bevor. • Ob die Naturalisierung gelingt oder nicht, hängt nicht nur von den empirischen Tatsachen ab, sondern vor allem auch von der philosophischen Analyse der grundlegenden Aspekte der Subjektivität.
Literatur • Frankfurt, H.G. 2001: „Alternative Handlungsmöglichkeiten“ (1969), in: M. Betzler & M. Guckes, Freiheit und Selbstbestimmung, Berlin, 53-64. • Habermas, J. 2008: „Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit“, in: P. Janich, Naturalismus und Menschenbild, Hamburg: Meiner, 15-29. • Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Geist und Gehirn 6/2004, 30-37. • Millikan, R. 2004: Varieties of Meaning, MIT. • Nagel, T. 1986: The View from Nowhere, Oxford UP. • Prinz, W. 2004: „Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch“, in: C. Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt: suhrkamp, 20-26.