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LMU München 07.12.2012 Linguistische Germanistik HS Probleme der Morphologie PD Dr. Wolfgang Schindler WS 2012/2013 Referent: Maximilian Eberhardt Thema: Klitisierung.
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LMU München 07.12.2012 Linguistische GermanistikHS Probleme der MorphologiePD Dr. Wolfgang SchindlerWS 2012/2013Referent: Maximilian EberhardtThema: Klitisierung
Von in die über in‘n und ins bis im.Die Klitisierung von Präposition und Artikel als „Grammatikalisierungsbaustelle“ (Nübling D.)
1. Was bedeuten Klitisierung/Klitikon/Klise? • 1.1 Definition Klitikon: [Neutr., Pl. Klitika; aus griech. (en)klitikós >sich anlehnend<. – Auch: Stützwort] • Wort, das aus syntaktischer Sicht ein freies Morphem ist, aber phonetisch (und meist auch graphisch) ein gebundenes Morphem zu sein scheint (ist an einen Träger, Host gebunden) – [Lahne, Uni Konstanz] • Schwach betontes Morphem, das sich an einen benachbarten Ausdruck „anlehnt“, vgl. das zu einem Konsonanten reduzierte engl. do in d‘you know? - [Bußmann]
1.2 Zwei Typen der Klise (Proklise und Enklise) • Proklise: Anlehnung eines schwach oder nicht betonten Wortes (Proklitikon) an das folgende Wort, in der Regel unter gleichzeitiger phonetischer Abschwächung; Beispiele: frz. l’eau ‘das Wasser’, j’ai ‘ich habe’; engl. s’not ‘(es) ist nicht’; dt. s‘war für es war, ugspr. s’ist für es ist, dial. d’Suppnfür ‘die Suppe’ • Enklise: Anlehnung eines nicht oder schwach betonten Wortes(Enklitikon) an das vorangegangene Wort, bei gleichzeitiger Schwächung, z.B: kommstefür kommst du. engl. I’m ‘ich bin’, you’re ‘du bist’, they’ll ‘sie werden’; dt. dial. Haschesemgesaat? ‘hast du es ihm gesagt?’
1.3 Klitisierung • Klitisierung meint schließlich die phonologische Reduktion unter bestimmten Umständen (ABRAHAM & WIEGEL). • Klitisierung kann auch die sukzessive Entwicklung eines selbständigen Wortes zum Klitikon bezeichnen (NÜBLING 1992: 5ff.), wobei schon impliziert wird, dass es sich um einen diachronen Prozess handeln kann. • Beobachtung: • Klitisierung sieht auf den ersten Blick wie Affigierung aus: Sowohl bei Klitisierung als auch bei Affigierung wird ein Element, dass nicht allein stehen kann, an einen Träger angehängt.
1.4 Unterschied zwischen Klitisierung und Affigierung • Bei Affigierung wird ein gebundenes Morphem (=Wortbindungs- oder Flexionsmorphem) mit einem Träger (=Stamm) verbunden; • Bei Klitisierung wird ein freies Morphem, das einer lexikalischen Klasse angehört (=Verb, Substantiv, Pronomen, Präposition) mit einem Träger verbunden.
2. Klitisierung von Präposition und Artikel • Verschmelzungen bereits vor 1200 Jahren im Althochdeutschen • Keine klaren Klitisierungsregeln: nicht alle Artikelformen können klitisieren (z.B. die), nicht alle Präpositionen können als Basis fungieren (z.B. gegenüber, trotz); • Teilweise obligatorische Verschmelzungen, d.h. es liegt nicht nur im Ermessen der Sprecher (Sprechtempo, Herkunft, Stil, konzeptionelle Nähesprachlichkeit): das kommt vom (*von dem) Rauchen, sie wandert im (*in dem) Erzgebierge • Paradebeispiel für Grammatikalisierung im Vollzug; alle Verschmelzungsgrade sind vorhanden (Blockade---Obligatorik), besonders in geschriebener und gesprochener Sprache, insbesondere Dia- und Regiolekte • „Grammatikalisierungsbaustelle“ • Unterscheidung zwischen einfachen und speziellen Klitika
2.1 spezielle Klitika • Grammatikalisierte Verschmelzungsformen: im, am, zum, beim, vom, zur (ins, ans) • Vorstufe zu Flexiven, grammatikalisierter als einfache Klitika • nicht mehr austauschbar mit ihrer Vollform (vom /*von dem Rauchen) • bilden Verbindungen nur mit Maskulinum/Neutrum Dativ Singular-Artikel dem(beim, zum, im, am, vom), in nur einer einzigen Verbindung (zur) mit dem Feminin-Artikel der, in einigen Fällen auch der das-Artikel (ins, ans) • - Spektrum der einfachen Klitika um einiges breiter, ebenso das der basisfähigen Präpositionen (hinter, vor, über, unter, für, um, usw.) • - Frequenzebene/Häufigkeit: >90% zu <10% (zum:zu dem = 97,5%:2,5%) • - bei einfachen Klitika dominieren die Vollformen;
2.2 Verwendungsweisen spezieller Klitika im semantischen definiten Bereich • Zeitpunkte: am Montag (situatives Wissen) • Unika:die Fahrt zum Mond (Ein-Element-Klasse) • Eigennamen: zur Schweiz, im Iran, ins Engadin (monoreferent, inhärent definit und daher dennoch auch mit Artikel z.B. als fester Namensbestandteil Der Wendler oder im gesprochenen (Süd)Deutschen sie Susi, der Paul; in letzterem Falle ist der Artikel – da ohne spezielle Funktion - allerdings entbehrlich; • Substantive mit genitivischem Attribut: im (*in dem) Garten seines Bruders • Abstrakt-situative Verwendung: die Fahrt zum Papst, Sie geht ins Kino/zur Schule/zum Zahnarzt (Sprecherwissen) Konkretisierung=> Blockade: sie geht zu dem (*zum) Zahnarzt, der ihr empfohlen wurde; • Substantivierte Verben: er geht zum Schwimmen, kommt vom Autofahren; • Phraseologismen, Idiome, Funktionsverbgefüge: sich ins (*in das) Fäustchen lachen, etc. • Abstrakta und Stoffbezeichnungen: zur Belohnung, im Urlaub, zum Trost, im/am/beim Wasser • Konkreta in assoziativ-anaphorischer Verwendung: zur Oma, zum Bruder, im Garten • Generische Verwendung: vom Wolf zum Hund, Ausbildung zum Regisseur (Stellvertreterfunktion für Klasse)
2.3 Einfache Klitika • Äußerlich-formal ähnlich zu speziellen Klitika • Klitikon lässt sich noch mit Vollform austauschen (Variantenverhältnis) • Typenfrequenziell zahlreicher als spezielle Klitika: dem, das, den, der ebenso basisfähige Präpositionen hinter, vor, über, unter, für, um • Unverschmolzene Formen der(fem. Dativ Sing.), die(fem. Akk. Sing./Akk. Pl.), den(Dativ Plural-Artikel) und Präpositionen(statt, trotz); • Grenze zwischen speziellen und einfachen Klitika: Frequenzebene/Häufigkeit: >90% zu <10% (zum:zu dem = 97,5%:2,5%) bei speziellen Klitika; bei den einfachen Klitika dominieren die Vollformen • In geschriebener Alltagssprache ca. 25 verschiedene Verschmelzungsformen; • Starke Graduierung entlang des Verschmelzungsspektrums • In Schriftlichkeit äußert sich die Unsicherheit in häufiger Apostrophierung (für‘s…)
2.4 formale Aspekte der Klitisierung • Dativ wird am häufigsten gefordert (danach Akkusativ und schließlich Genitiv) von den häufigsten Präpositionen in, von, an zu, bei. • Der semantische Grammatikalisierungsgrad korreliert sehr stark mit dem formalen Fusionierungsgrad; die nasal auslautenden Präpositionen werden auf Ihren Vokal reduziert: i(n+de)m > i=m, a(n+de)m > a=m, vo(n+de)m > vo=m. [KEINE REGEL!] • Vor anderen Artikel-Klitika ist der Nasal stabil: in+das > in=s, an+das > an=s und es liegen echt agglutinierende Verhältnisse vor. • Kontaktstellung, Kookkurrenzfrequenz, Gebrauchsfrequenz, Sonorität des präpositionalen Auslauts • Flexionsform des Artikels (Kasus, Numerus und Genus wichtig, dennoch kein klares System!) • In allen Varietäten ist die Enklise des Akkusativ Plural-Artikels am stärksten blockiert. • Dativ wird präferiert; darf jedoch nicht mit fem. oder Pl. gekoppelt sein. • Grammatikalisierungsgrad der Präposition: alte, primäre und kurze P. drücken viele semantische Relationen aus (in, an, zu, von, bei) und verschmelzen viel öfter und stärker als komplexe, jüngere, spezifische P. (anstatt, wegen, dank, angesichts). • Grammatikalisierungsgrad des Artikels: Indefinitartikel gleichermaßen verschmelzungsfreudig in gesprochener Sprache: in+eine > in‘ne, auf+einem > auf‘nem usw. • Alter der Klitisierung: keine diachrone Untersuchung zur Präposition-Artikel-Enklise in älteren Sprachstufen des Deutschen, jedoch bereits im Althochdeutschen stark ausgeprägt;
2.5“Warum (Klitisierung) an der Präposition!?“ • Artikelaffigierung findet im Deutschen an der indeklinablen und nichtlexikalischen Basis (Präposition) ab, warum nicht an das Substantiv wie in den skandinavischen Sprachen oder im Rumänischen?
2.5“Warum (Klitisierung) an der Präposition!?“ Gründe: • Kontaktstellung/Kookurrenzfrequenz: zwischen Artikel und Substantiv kann ein Attribut die Kontaktstellung unterbrechen, nicht jedoch zwischen Präposition und Artikel! • Klammerstellung: Nominalklammer im Deutschen wichtiges typologisches Merkmal; KlammeröffnungsSignal in Präpositionalphrase;
3. Zusammenfassung • Präposition-Artikel-Enklise im Deutschen gibt Einblicke in Grammatikalisierungsprozesse • Keine klaren, zielorientierten Regeln/Abläufe • Morphologisierung des Artikels verläuft von Nichtverschmelzbarkeit bis hin zu (kurz vor Flexiven stehenden) obligatorisch verschmelzenden speziellen Klitika; • Bei Genitiv-Artikel hat eine Degrammatikalisierung stattgefunden. • Mittel- und frühneuhochdeutsche Verschriftungen lassen auf reichere Inventare an Klitisierungen deuten! • Übergang zwischen einfach und speziellen Klitika in sich abgestuft und weitaus komplexer als hier dargestellt; • „Betrachtung und Einbeziehung vieler Dialekte und vor allem der gesprochenen Umgangssprache könnte weiteren Aufschluss über die Ratio Grammatikalisierung liefern…sollten flektierende Präpositionen Ziel dieses Wandels sein, so hätte dies tiefgreifende Konsequenzen für die Grammatikschreibung.“ [Nübling]
Quellen: • Bußmann, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Alfred-Körner-Verlag • Nübling, D. (2005): Von in die über in'n und ins bis im: Die Klitisierung von Präposition und Artikel als "Grammatikalisierungsbaustelle". In: Leuschner, Torsten/ Mortelmans, Tanja/De Groodt, Sarah (eds.): Grammatikalisierung im Deutschen. Berlin/New York: De Gruyter, 105-131; hier online: http://www.germanistik.uni-mainz.de/Dateien/Nuebling_2005e.PDF • Nübling, D. (1992): Klitika im Deutschen − Schriftsprache, Umgangssprache, alemannische Dialekte. SCRIPTORALIA BAND 42. Tübingen: Narr. • ABRAHAM, Werner & Anko WIEGEL 1993. „Reduktionsformen und Kasussynkretismus bei deutschen und niederländischen Pronomina.“ In: ABRAHAM, Werner & Josef BAYER (Hrsg.). Dialektsyntax. Opladen: Westdeutscher Verlag: 12-49 • http://www.uni-koeln.de/phil-fak/ifl/_commons/ap/AP_44.pdf (Magisterarbeit René Schiering ISSN 1615-1496) • http://www.uni-konstanz.de/lahne/teaching/ss09/02_morph_grundbegriffe.pdf