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Philosophische Fakultät – Institut für Kommunikationswissenschaft. Ringvorlesung Methoden der empirischen Sozialforschung II Sommersemester 2010. Ablauf. Vorlesung 21 Einführung in die standardisierte Befragung. Prof. Dr. Wolfgang Donsbach Institut für Kommunikationswissenschaft.
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Philosophische Fakultät – Institut für Kommunikationswissenschaft Ringvorlesung Methoden der empirischen Sozialforschung II Sommersemester 2010
Vorlesung 21Einführung in die standardisierte Befragung Prof. Dr. Wolfgang Donsbach Institut für Kommunikationswissenschaft
Gliederung • Demoskopie und öffentliche Meinung • Ursprünge • Beginn und Entwicklung der modernen Demoskopie • Nomenklatur • Unterscheidungskriterien für Befragungen • Fehlerquellen • Literatur
Legitimiert sich gegen Autorität Gemeinwohl Egalitär Rational Öffentliche Meinung bei Habermas: Grundannahmen Ende 16. Jhd./17. Jhd. Merkantilismus, Kapitalismus Aufstrebendes Bürgertum (noch) unpolitische Öffentlichkeit (dann) politische Themen Kaffeehäuser/Salons „topics of government“ England: frühes18. Jhd Denaturierung/ Strukturwandel
Aufmerksamkeitsregeln Entscheidungsregeln Öffentliche Meinung bei Luhmann: Grundannahmen Hoher Entscheidungs-bedarf von Gesellschaften Reduktion von Komplexität durch die öffentliche Meinung Gesellschaften sind komplex Aufmerksamkeit des Bürgers ist ein knappes Gut Meinungsbildung, u.a. in den entscheidungs- befugten Instanzen
Definition der öffentlichen Meinung bei Noelle-Neumann "Unter öffentlicher Meinung versteht man wertgeladene, insbesondere moralisch aufgeladene Meinungen und Verhaltensweisen, die man – wo es sich um festgewordene Übereinstimmung handelt, zum Beispiel Sitte, Dogma – öffentlich zeigen muss, wenn man sich nicht isolieren will; oder bei im Wandel begriffenem ‚flüssigen‘ Zustand öffentlich zeigen kann, ohne sich zu isolieren." Noelle-Neumann 1996
Person A Andere Eigene Meinung zu Thema X Wahrnehmung der Umwelt-meinung zum Thema X Keine Isolationsfurcht Reden konsonant dissonant Isolationsfurcht Schweigen Wahrnehmung der Umweltmeinung zu Thema X aktuell Zukunft Direkte Umwelt-wahrnehmung Zeitpunkt t2 Wahrnehmung aus Medien Zeitpunkt t1 Quelle: Donsbach 1987, 327
Dimensionen in den Definitionen von öffentlicher Meinung • Any opinion held by a majority of citizens • The opinion of elites, with intellectual capacity or powers to influence society • 3. Any opinion concerning public affairs (definitionbyobjectofopinion) • 4. An opinion reached through a public process of learning and consensus • Any opinion allowed to be expressed in public without fear of social isolation • Schönbach and Becker (1995)
Demoskopie als Streitpunkt • Ist Demoskopie = öffentliche Meinung? • Was ist öffentliche Meinung? • Normative Konzepte • Funktionale Konzepte • Soziologische und Sozialpsychologische Konzepte • Demoskopische Konzepte: Öffentliche Meinung = das, was die Demoskopie misst? • Trotz Definitions-Wirrwarr: Öffentliche Meinung ist Kernelement der Demokratie • Zwar: In repräsentativer Demokratie folgt aus Mehrheitsmeinung des Volkes kein direkter Auftrag an die Regierung • Aber: Indikator für Loyalitäts-Niveau für Regierung zwischen Wahlen
Gliederung • Demoskopie und öffentliche Meinung • Ursprünge • Beginn und Entwicklung der modernen Demoskopie • Nomenklatur • Unterscheidungskriterien für Befragungen • Fehlerquellen • Literatur
Elemente der modernen Meinungsforschung? Menschen zählen Denken in Variablen Menschen befragen Repräsen-tativität Moderne Umfrageforschung
Menschen zählen Frühformen von Erhebungen Altertum: bereits erste zahlenmäßige Erhebungen • Babylonien, Assyrien, Ägypten, Indien, China, Persien, Israel, Griechenland und das römische Reich: Volkszählungen(lat. census) • König David (um 1000 v. Chr.) Volkszählungen, (deswegen angeblich von Gott mit Pestepidemie bestraft, Samuel 24) • seit ServiusTullius (Wende zum 5. Jhd. v. Chr.): • Aufstellung von Bürgerlisten alle fünf Jahre • Zweck: Vermögensschätzungen, Wehrfähigkeit, Steuerkraft der Bürger Mittelalter: • vereinzelte Volkszählungen in Städten
Menschen zählen Denken in Variablen Menschen befragen Repräsen-tativität
„Politische Arithmetik“ Denken in Variablen • 17.Jhd. Durchführung bevölkerungspolitischer Studien basierend auf Londoner Sterberegister 1662: „Natural and Political Observation upon the Bills ofMortality“ → Berechnung erster Sterbetafeln Benutzung statistischer Daten (Sekundäranalysen, Primärerhebungen) 1676: Petty (engl. Arzt): „The Political AnatomyofIreland“ → erste systematisch empirische Soziographie (über irische Bevölkerung) basierend auf Reisebeobachtung 1741: Johann Süßmilch (Feldprediger, 1707-1767): „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts“ systematische Untersuchung von Heirats- und Geburtsraten, Fertilität und Mortalität im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße Quantifizierung von Menschen nach bestimmten Merkmalen
Denken in Variablen Moralstatistik • Begründer: Belgier Adolphe Quételet (1796-1874) • numerische Erfassung persönlicher Eigenschaften und sozialer Verhaltensweisen • Übertragen mathematischer Erkenntnisse auf Studium der Bevölkerung (z.B. Kriminalität) • Anwendung Wahrscheinlichkeitstheorie • Anwendung multivariater Tabellen • „l`hommemoyen“ • menschliches Verhalten in Zahlen ausdrücken
Einbettung in Geschichte der empirischenSozialforschung Friedrich Jonas (Geschichte der Soziologie): "Quetelet gibt damit die Zielvorstellung oder das Ideal für die empirische Sozialforschung, wie sie sich im 19. und beginnenden 20. Jhd. ausbreitet. Die vorurteilslose Erfassung und Beschreibung von Sozialtatsachen soll die Gesetzmäßigkeiten offenbaren, die hinter den Werten und Institutionen die menschlichen Gesellschaften zusammenhalten"
Denken in Variablen Aber Streit: Darf man Statistik auf Menschen anwenden? Adolph Wagner (1864): Statistisch-anthropologische Untersuchung der Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen. Hamburg 1864 PRO Wilhelm Drobisch (1867): Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit. Leipzig CONTRA Vgl. Noelle-Neumann & Petersen 2000: Einleitung; Oberschall, A. (1997): EmpirischeSozialforschung in Deutschland 1848-1914. Freiburg & München: Alber
Denken in Variablen Adolph Wagner (1864) erklärt den Unterschied zwischen normativen und statistischen Gesetzen Wennwir die Heiraten, die Selbstmorde, die Verbrechenuntersuchen und ihreGesetzeentwickeln, so könnenwirebenfallsmitgroßerGenauigkeitvorherbestimmen, wievieleHeiraten, Ehescheidungen, Selbstmorde, VerbrechenwerdenimnächstenJahrstattfinden, und wiewerdensiesichverteilen. Und die Resultate dieses JahreswerdenbeiderspäterenPrüfungebensogenauzutreffen, alswennwiruns in jenemfremdartigenStaatswesenbefänden. Das Merkwürdigstedabeiaberbleibt, daßwir in dieser Weise alsdienendeGliedereinesgroßenMechanismusfungieren, dennochabereineganzunbeschränktefreieBewegungbesitzen, welchediesenMechanismusnicht in seinemvorgezeichneten Gang stört“ (S.44ff.)
Menschen befragen (747-814): Karl der Große erste auf Fragebögen beruhende Umfragen, verschickte einheitliche Fragebögen an Bischöfe des Reiches (Vergleich ihrer Auffassung zu kirchlichen Streitfragen) 1558 – 1565: zweite bekannte Umfrage in Mexiko (span. Franziskanermönch FrayBernadino de Sahagún) • Bericht über Sprache und Sitten der Azteken • standardisierte Gespräche mit Einheimischen „das erste Projekt empirischer Sozialforschung in der Geschichte“ (Noelle-Neumann, Petersen 2000, S.39)
Menschen befragen • Ab Ende 18. Jhd.: Sozialumfragen zur Lage der Arbeiter durch einzelne Forscher • 1787: systematische Untersuchung mittels Fragebogen zum Budget der Landarbeiter durch Engländer David Davies • Demokratisierung → wachsende Öffentlichkeit → Wahl- und Parteiprogramme wurden mithilfe von Sozialumfragen an die Wählerschaft angeglichen • 19. Jhd.: Interesse an sozialen Problemen und politischen Einstellungen der gewöhnlichen Leute durch Regierung, Intellektuelle • 19./20. Jhd.: Bildung, Wahlrecht, Konsum → Zeitungen konkurrierten um Festlegung der öffentlichen Meinung • Werbetreibende: Informationen zu Vorlieben, Bedürfnisse, Konsumverhalten • → Markt-, Zielgruppen- und Meinungsumfragen
Menschen befragen • 1909-1911: Max Weber – Umfrage über physiologische Eigenschaften der Industriearbeiter in Dtl. („Nach wie vielen Stunden werden Sie müde?“) • 1912: Adolf Levenstein – erste große Einstellungsumfrage in Deutschland: • 8000 schriftliche Fragebögen an Gruben-, Stahl- und Textilarbeiter in Deutschland • Schneeball – Auswahlverfahren • 63% Rücklauf • 1920er USA: Gründung von 60 Umfrageinstituten (1916-1926)
Menschen zählen Denken in Variablen Menschen befragen Repräsen-tativität
Gliederung • Demoskopie und öffentliche Meinung • Ursprünge • Beginn und Entwicklung der modernen Demoskopie • Nomenklatur • Unterscheidungskriterien für Befragungen • Fehlerquellen • Literatur
Geburt der modernen Demoskopie: George Gallup „In 1933, the young George Gallup, who earned a PhD in psychology from a small mid-western university and who combined careers in academia and market research, decided to draw on both these fields to create public opinion polling. He collected and studied detailed voting records for the U.S. over a century, and sent out ballots to a small but carefully selected group of voters in each state based on his analysis of past electoral behavior. He estimated results for the 1934 congressional elections with great accuracy. He continued to experiment with these hybrid methods of choosing purposive samples of voters based on political geography, and founded the American Institute of Public Opinion (AIPO) in 1935 whose goal was “impartially to measure and report public opinion on political and social issues of the day without regard to the rightness and wisdom of the views expressed.” AIPO conducted national public opinion surveys using Gallup’s method of combining purposive sampling with quotas for relatively small sizes …whose results he distributed to subscribing newspapers in the form of press releases.“ Oberschall, A. (2008). The Historical Roots of Public Opinion Research. In: Donsbach, W. & Traugott, M.W. (eds.): The Sage Handbook of Public Opinion Research. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore: Sage Publications, pp.
Durchbruch: Gallup versus Literary Digest • Literary Digest • 10 Mio Fragebögen versandt • 2,3 Mio zurück • Landon: 55%, • Roosevelt: 41% • Tatsächliches Ergebnis: • Roosevelt: 61% • Landon: 37% • Gallup • 3000 persönl. Interviews • Richtige Voraussage • Ursachen: • Niedrige Ausschöpfung: 25 % • Verzerrte Ausschöpfung • Verzerrte Ausgangsstichprobe: Basierten auf eigenen Abonnenten sowie Adressen von Telefon- und Autobesitzern unterrepräsentierten ärmere Bevölkerungsschichten (mehr Wähler der Demokraten) • 1938: LD eingestellt Squire, P. (1988): Why the 1936 Literary Digest was wrong. POQ 52, 125-33
Stationen • Pioniere: George Gallup, Elmor Roper, Archibald Crossley: seit 20ern Marktforschung, seit 30ern politische Themen • 1937 Paul Lazarsfeld: Office of Radio Research, später Bureau of Applied Social Research • 1941 National Opinion Research Center (NORC) U of Chicago • 1944: Lazarsfeld, Paul F., Bernard Berelson & Hazel Gaudet: The People's Choice. New York • 1946: AmericanAssociationfor Public Opinion Research (AAPOR) • 1946 Survey Research Center U of Michigan • 1947: World Associationfor Public Opinion Research • 1947: InstitutfürDemoskopieAllensbach • 1948: Public Opinion Quarterly
Accumulation of Countries in Gallup International Association 1947-2004
Geschichte in Deutschland • GesellschaftfürKonsumforschung (GfK) 1935, aberersteRepräsentativbefragungen in den 50ern • EMNID 1945, aberanfangsnurAdressensammlung von Vertriebenen, ersteUmfragen 1948/49 • 1945 ersteRepräsentativbefragungen in Deutschland durch OMGUS (Office of Military Government US). • 1947 InstitutfürDemoskopieAllensbacherstesdeutschesUmfrageinstitut (aberebennicht das ältesteInstitutunterdenjenigen, die heuteUmfragendurchführen