240 likes | 412 Views
Einführung in die Germanistische Linguistik. Sitzung Die Entstehung der Germanistischen Linguistik. Vorstufen.
E N D
Einführung in die Germanistische Linguistik Sitzung Die Entstehung der Germanistischen Linguistik
Vorstufen Seit der Konsolidierung der europäischen Nationalsprachen (Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch u.a.) als Kultur- und Wissenschafts-sprachen im 16. Jh. gab es kontinuierlich eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Sprache und ihrer Geschichte. Der erste Ansatz war normativ im Sinne einer Sprachreinigung, einer Verbesserung der deutschen Sprache. Die Sprachgesellschaften des 17. Jh. ahmten ähnliche Initiativen in Italien (Accademia della Crusca, 1582 gegründet) und Holland (Rederijkerkamers) nach und hatten so poetische Namen wie: • 1617 „Fruchtbringende Gesellschaft“ (Palmenorden) in Weimar • 1643 „Teutschgesinnte Genossenschaft“ in Hamburg • 1644 „Löblicher Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz/Pegnitzschäfer“ in Nürnberg • 1656 „Elbschwanenorden“ in Lübeck.
Diese Arbeit schlug sich außer in konkreten Vorschlägen zur Sprachreinigung und zur Poetik in Wörterbüchern und Grammatiken der (hoch)deutschen Sprache nieder. • So veröffentlichte 1641 Christian Gueintz mit Billigung der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ eine deutsche Grammatik unter dem Titel „Deutscher Sprachlehre Entwurf“. • Noch im gleichen Jahr legte Justus Georg Schottel seine umfangreiche „Teutsche Sprachkunst“ vor (Umfang ca. 1500 Seiten). Mehrfach ergänzt erschien sie 1663 unter dem Titel „Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache“. In dieser Schrift wird auch eine Genealogie des Deutschen versucht, d.h. eine Zusammenfügung verschiedener Entwicklungsperioden. Jakob Grimm wird diesen Gedanken im 19. Jh. wieder aufgreifen. • Die Tradition der Sprachgesellschaften und Sprachakademien wird heute durch die „Académie française“, die „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ und ähnliche Institutionen in anderen Ländern fortgesetzt.
Anfang des 18. Jh. schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz (noch in Französisch) seine « Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain », die erst posthum (1765) veröffentlicht wurden. Im Band über die Wörter wird auch die Gleichrangigkeit der deutschen mit den klassischen Sprachen behauptet und es werden Hinweise auf ihr Alter und ihre Verwandtschaft mit historischen Sprachstufen gegeben. • In die philosophische Debatte über den Ursprung der Sprache griff 1772 Johann Gottfried Herder ein und sein 1784-1791 entstandenes Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ entwirft eine Kulturanthropologie der Sprache. Gottfried Herder(1744-1803)
Die Grammatiker der deutschen Aufklärung schreiben in derselben Epoche auf der Basis der Literatur-sprache des 18. Jh. umfangreiche Grammatiken und Lexika. • 1781 Johann Christoph Adelung „Deutsche Sprachlehre“ • 1774-1786 Ders. „Versuch eines grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart, besonders aber der oberdeutschen“ (5 Bde.).
Die theoretische Diskussion des 19. und teilweise des 20. Jh. wurde durch das Werk des großen Typologen und vergleichenden Sprachwissenschaftlers und Sprach-philosophen Wilhelm von Humboldt (1767-1835) geprägt. Posthum erschien 1836 seine Schrift „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ • (Vgl. für eine Zusammenfassung der beschriebenen Entwicklungen Agricola u.a., 1969, Bd. 1: 240-246). Wilhelm von Humboldt(1767-1835)
Von der „romantischen Sprachwissenschaft“ zu den Junggrammatikern • Mit der Entdeckung der Verwandtschaft zwischen den klassischen Sprachen (Griechisch, Latein) und Deutsch einerseits und den nordindischen Sprachen andererseits (besonders dem historischen Sanskrit, d.h. Altindischen), entstand der Impuls zur historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, welche das 19. Jh. dominieren sollte. • Als Ausgangspunkt kann Friedrich von Schlegels Schrift von 1808 „Über die Sprache und Weisheit der Inder. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde“ gelten. Schlegel gilt als einer der Begründer der Indogermanistik. Im Laufe des Jahrhunderts wird das vergleichende Paradigma in der Germanistik und Romanistik mit großem Erfolg angewandt.
Die eigentlichen Begründer der sich konstituierenden Disziplin Germanistik ist für die Sprachwissenschaft (teilweise auch die Literaturwissen-schaft) Jakob Ludwig Carl Grimm (1785-1863). Gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm Carl Grimm (1786-1859) sammelte und publizierte er die „Kinder- und Hausmärchen“ (1812-1822). • Jacob Grimm legte mit einer Serie von Werken den Grundstein zu einer erneuerten Wissenschaft der deutschen Sprache und Kultur: 1816/1818 erschienen die „Deutschen Sagen“. Brüder Grimm, Gemälde
Seine Konzeption vom Gegenstand der Deutschen Sprachwissenschaft lässt sich aus der Vorrede zum ersten Band der Deutschen Grammatik, 1819, entnehmen (vgl. Arens, 1969, Bd. 1: 196 f.). • „Kein Volk auf Erden hat eine solche Geschichte für seine Sprache wie das deutsche. Zweitausend Jahre reichen die Quellen zurück in seine Vergangenheit, in diesen zwei-tausend ist kein Jahrhundert ohne Zeugnis und Denkmal. Welche ältere Sprache der Welt mag eine so lange Reihe von Begebenheiten aufweisen, und jede an sich betrachtet vollkommenere, wie die indische oder griechische, wird sie für das Leben und den Gang der Sprache überhaupt in gleicher Weise lehrreich sein?“
Germanistikstudium 1830 bei Jacob Grimm Nicht unerwähnt soll die politisch fortschrittliche, da demokratische Grundorientierung der beiden Gründungsväter bleiben.
Hauptwerke von Jakob Grimm • 1812 und 1815: Deutsche Märchen • 1816/1818: Deutsche Sagen • 1819/1837: Deutsche Grammatik • 1828: Deutsche Rechtsaltertümer • 1833: Deutsche Mythologie • 1840-1860: Deutsche Weistümer
Diese Richtung, die in ihren Fortsetzungen die „Germanische Philologie“ (vgl. den „Grundriß der Germanischen Philologie“, Trübner, Straßburg) bildete, prägte die deutsche Sprachwissenschaft bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Konzeptionen von Ferdinand de Saussure (1916), Bloomfield (1933) und des Europäischen Strukturalismus fanden nach dem 2. Weltkrieg erst langsam Eingang in die germanistischen Lehrpläne (konsequent erst in Folge der 68er „Revolution“). Seitdem hat die „Germanistische Sprach-wissenschaft“ andere Konturen erhalten, obwohl die Ergebnisse der Philologie ihren Wert behielten (sie verloren lediglich ihre ausschließliche Relevanz).
Behaghels „Geschichte der deutschen Sprache“, 1916, beschreibt den Gegenstand der deutschen Sprachwissenschaft wie folgt: • „Die Geschichte der deutschen Sprache befaßt sich mit der Entwicklung der Sprache bei denjenigen Volksstämmen, die zusammen mit den Engländern und Friesen den westgermanischen Sprachstamm gebildet haben. Ein Teil dieser Stämme gibt frühzeitig die heimische Volksart auf und ist dann nicht mehr Gegenstand unserer Darstellung.“ • Praktisch wird das Englische und das Friesische nicht berücksichtigt. • Das nordwestliche Sprachgebiet umfasst das Niederfränkische, das seit dem selbstständigen Mittelniederländischen und der politischen Ablösung der Niederlande im 16. Jh. ausgegrenzt wird. Der östliche Teil umfasst in Behaghels Terminologie das Niedersächsische (bis nach Preußen; vgl. die Karte in Behaghel, 1916). Er sagt: „Den östlichen Zweig bezeichnet man auch als plattdeutsch, oder man beschränkt auf ihn allein die Bezeichnung niederdeutsch“ (ibidem: 48). Behaghel schlägt „Niederdeutsch“ als Dachbegriff für Niederfränkisch und Niedersächsisch vor. (Hervorhebung W.W.)
Demnach steht für die Germanische Philologie die Geschichte der deutschen Sprache im Vordergrund. Germanisch heißt letztlich Westgermanisch mit Ausschluss des Englischen und Friesischen und (zu einem späteren) Zeitpunkt des Niederländischen. Das Plattdeutsche ist eindeutig Bestandteil des Gegenstandsfeldes. • Die historische Tiefe gibt Grimm mit 2 000 Jahren an, Behaghel (ibidem: 1) setzt mit dem 7. Jh. an: „(...) von da an besitzen wir Quellen der deutschen Sprache, die auf deutschem Boden geschrieben sind.“ Da die ersten Quellen recht dürftig sind (meist Namen, einzelne Wörter und Sätze), wird das Gotische (eine bereits im 1. Jahrtausend ausgestorbene ostgermanische Sprache) traditionellerweise in die Germanisten-Ausbildung miteinbezogen. Alternativ kann für eine alte Sprachstufe auf das Altnordische, das in isländischen Urkunden dokumentiert ist, zurückgegriffen werden. Es gehört aber zu den nordgermanischen Sprachen. • Als Nachbarsprachen nennt Behaghel (ibidem: 4 f.) die romanischen Sprachen im Westen und Süden (heute: Französisch, Rätoromanisch, Ladinisch, Italienisch), die slawischen Sprachen (sie begrenzen den Raum des Deutschen im Osten, wobei sich die Grenzverläufe historisch verändert haben) und einige Sprachinseln (etwa das Sorbische in der Lausitz und die [früheren] deutschen Sprachinseln in der Tschechischen Republik, Slowakei, Polen und Russland).
Beispiel für eine Sprachinsel Die Lage der Gemeinde Saterland
Im Nordosten grenzte das Deutsche an die baltischen Sprachen, wobei in den Städten historisch eine Zweisprachigkeit Deutsch/Litauisch oder Deutsch/Lettisch herrschte (bis 1945). Eine Sprachinsel im Slawischen stellt das Ungarische dar, das zu den Finno-ugrischen Sprachen gehört. Deutsch grenzt im Osten des heutigen Österreich an das Ungarische. • Im Norden wird das Deutsche vom Englischen (jenseits der Nordsee), vom Friesischen (auf den nordfriesischen Inseln) und vom Dänischen begrenzt. • Das Hochdeutsche, die heutige Schriftsprache, ist in einem komplizierten Ausgleichsprozess in den ostdeutschen Siedlungsgebieten (Meißnerisch), aus den überregional aktiven Kanzleien, den Druckersprachen (Ostmitteldeutsch und Gemeines Deutsch) hervorgegangen. Die ostmitteldeutsche Druckersprache wurde durch die Sprache der Luther-Bibel weiter geformt und ausgebreitet.
Einteilung der deutschen Dialekte und Regional-sprachen (zur Zeit des deutschen Sprachatlas, d.h. um 1920)
Das Deutsche als Konstrukt • Die in der nationalen Besinnung auf die deutsche Sprache seit den Humanisten beschworene Kontinuität des Deutschen ist jedoch ein Konstrukt oder, positiv ausgedrückt, eine identitätsstiftende Schöpfung. • In althochdeutscher Zeit (ab 800 n. Chr.) gab es neben den immer vorhandenen kleinräumigen Sprechdialekten nur so genannte Schreibdialekte mit schwacher Normierung. • Das Mittelhochdeutsche war (ebenfalls mir regionalen Variationen) eine Literatursprache der Ritterhöfe und fahrenden Sänger und war längst ausgestorben und vergessen, als das Hochdeutsche ab dem 15. Jh. entwickelt wurde (es wurde in der Romantik wieder entdeckt).
Dazwischen gab es das Mittelniederdeutsche als Schreibsprache der Hanse im Spätmittelalter, das sich am Lübbischen (Schreibsprache von Lübeck) orientierte. Es stellt die erste politisch relevante Spracheinheit im Gebiet der Hanse und Norddeutschlands dar. • Diese Sprachform wurde dann als Schreibnorm im 16. und 17. Jh. von der ostmitteldeutschen Schriftsprache verdrängt. • Bis zur Mitte des 19. Jh., also bis zu Einführung und Umsetzung der allgemeinen Schulpflicht mit dem Hochdeutschen als Schriftsprache, gab es eine hochdeutsche Sprechsprache nur in sozialen Schichten, die sich aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen in ihrer Sprechsprache an der Schriftsprache orientierten (selbst Goethe hat mit Frankfurter Akzent gesprochen). • Die so genannte Spracheinheit ist also eine Erscheinung, die in etwa zeitlich mit der nationalen Einheit (1871) Gestalt annimmt.
Bremer Bürgereid in Plattdeutsch bis 1815 Hamburger Bürgereid in Plattdeutsch von 1835
Die germanischen Sprachen (rot) im Kontext der Verteilung der großen Sprachfamilien