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Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: „Medizinische Psychologie“ / SS 2006. Intensiv- und Notfallmedizin. I) Intensivmedizin: Psychische Belastungsfaktoren von Patienten auf einer Intensivstation. Einlieferung trifft den Patienten unvorbereitet
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Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: „Medizinische Psychologie“ / SS 2006 Intensiv- undNotfallmedizin
I) Intensivmedizin:Psychische Belastungsfaktoren von Patienten auf einer Intensivstation
Einlieferung trifft den Patienten unvorbereitet • Symptome wie Schmerzen, Atemnot und / oder Verlust lebensnotwendiger Funktionen des Körpers bzw. Einschränkungen des Bewegungsapparates mobilisieren beim Patienten Ängste und Sorgen um seine Zukunft bzw. vor dem Tod • Erleben von Kontroll- und Autonomieverlust infolge der Abhängigkeit von Apparaten und Personal, wenn der Patient seine Körperfunktionen nicht mehr selbständig regulieren kann • Evtl. Störungen der zeitlichen und örtlichen Orientierungsowie der kognitiven Leistungsfähigkeit des Patienten durch Medikamente, körperliche Schwäche und eine Störung des Gleichgewichts • Eingeschränkte Mobilität, bleibende Schäden, eine Behinderung oder Amputation verletzen das Körperbild und die Körperintegrität des Patienten Belastungsfaktoren durch eine vitalenbedrohliche Erkrankung:
Störung des Tag-Nacht-Rhythmus durch engmaschige Kontrollen der Vitalfunktionen, häufige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen oder permanente Beleuchtung • Permanente Reizüberflutung durch unbekannte Geräusche medizinischer Geräte etc. • Fehlende Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre • Deprivation natürlicher sensorischer Bedürfnisse, wie Berührungen, Hören von Lieblingsmusik, Riechen angenehmer Gerüche etc. Belastungen durch das therapeutische Setting auf einer Intensivstation:
Trotz z.T. wiederholter Visiten am gleichen Tag mangelnde Information des Patienten über weitere Behandlungs-maßnahmen: Patienten können nur selten Fragen stellen, da sie nicht aktiv in die Visite miteinbezogen werden (über statt mit dem Patienten reden) • Bisherige Lebensbezüge werden unterbrochen, d.h. die frühere soziale Rolle des Patienten gilt auf der Intensivstation nicht und er ist mit unbekannten, impliziten Verhaltensregeln konfrontiert • Kommunikationsdefizit trotz permanenter Anwesenheit des Personals, Fehlen von konstanten, engen Beziehungen infolge häufigem Personalwechsels • Kommunikationsfähigkeit des Patienten ist infolge künstlicher Beatmung o.ä. häufig zwischenzeitlich eingeschränkt; misslingende nonverbale Signalisierungsversuche können zu Schamgefühlen sowie Frustration, Ärger und evt. letztlich zur Resignation seitens des Patienten führen Belastungen interaktioneller Art auf einer Intensivstation:
Prävalenz: ca. 36,8% der Pat. auf einer Intensivstation • Beginn: meist am 2.-3. Tag nach einer Operation oder nach längerer Liegedauer • Symptomatik: • Abrupte Stimmungswechsel mit depressiven, aggressiven, ängstlichen oder manischen Episoden • Verlangsamung des Denkens und geringe Merkfähigkeit • Verwirrtheit mit optischen Halluzinationen (Wahnbildern) • Evtl. Störung der zeitlichen Orientierung • Evtl. Ängste infolge Realitätsverkennung und infolge Gefahr von Eigen- oder Fremdgefährdung Intensiv-Care-Unit-Syndrom (ICU-Syndrom)(auch: „Durchgangssyndrom“ oder „Funktionspsychose“):
Medizinische Faktoren: Schwere der Operation Narkosemittel Arzneimittelnebenwirkungen Neurologische Erkrankungen Ausfall von Organfunktionen wie Leber und / oder Niere Soziale Faktoren: Aktuelle Lebenssituation, z.B. Anhäufung kritischer Lebensereignisse (life events) Mangel an sozialer Unterstützung Psychische Faktoren: Alle bereits genannten psychische Belastungsfaktoren, die mit der Erkrankung, dem Aufenthalt auf einer Intensivstation und den interaktionellen Einschränkung im Zusammenhang stehen (s.o.) Psychische Voraussetzungen, wie Persönlichkeitsfaktoren, Bewältigungsfähigkeiten und -Ressourcen Suchterkrankungen Lebensalter Entstehungsfaktoren eines ICU-Syndroms:
Informieren Sie den Patienten vor Beginn der Behandlung ausführlich über die geplante Behandlung und den Aufenthalt auf der Intensivstation, bieten Sie dabei Möglichkeit zu Fragen • Geben Sie dem Patienten vor einer geplanten OP die Möglichkeit, die Station, deren Räumlichkeiten, Geräusche, Abläufe und das Behandlungsteam kennen zu lernen • Angehörige sollten den Patienten möglichst jederzeit besuchen können Empfehlungen zum Umgang mit Patienten auf einer Intensivstation I:
Bieten Sie dem Patienten nach der OP zeitliche und örtliche Orientierungshilfen (Kalender, Uhren sichtbar platzieren; Ort, Datum, Wochentag erwähnen) • Versuchen Sie, über Berührungen, Gespräche oder Handlungen Kontakt zu dem Patienten herzustellen und sprechen Sie mögliche Ängste o.ä. Empfindungen im Zusammenhang mit dem Aufenthalt direkt an, auch wenn der Patient sich scheinbar in einem somnolenten oder komatösen Zustand befindet • Nutzen Sie Kommunikationsebenen, die dem Patienten akut zur Verfügung stehen; vereinbaren Sie ein Zeichen für Zustimmung oder Ablehnung; halten Sie über geschlossene Fragen („Möchten Sie, dass ich das Licht ausmache?“) die Kommunikation aufrecht Empfehlungen zum Umgang mit Patienten auf einer Intensivstation II:
Bieten Sie dem Patient bald möglichst ein gewisses Maß an Kontrolle, z.B. über die Festlegung von Wasch- oder Besuchszeiten • Informieren Sie den Patienten über die Verlegung auf eine Normalstation • Ziehen Sie im Zweifelsfall psychologische Behandler hinzu, auch zur Unterstützung der Angehörigen Empfehlungen zum Umgang mit Patienten auf einer Intensivstation III:
II) Notfallmedizin:Die psychische Situation und der Umgang mit Patienten in einer Notfallsituation
Die Person ist unvorhersehbar und unausweichlich von einem Geschehen mit hoher schädigender Intensität betroffen • Das Geschehen reißt sie aus einem Zustand relativer Gesundheit und Leistungsfähigkeit heraus • Die Person hat in der Regel keine Erfahrung mit dieser Art der Bedrohung, kann deren Folgen nicht voraussehen • Dem Betroffenen stehen keine Erfahrungsmuster zur Verfügung, wie er das Erlebte einordnen und bewältigen kann • Er ist von der Hilfe anderer abhängig, von deren kompetenten Hilfe sein Überleben abhängt Merkmale einer Notfallsituation für den Betroffenen:
Vegetativ / motorisch: • Erhöhte physiologische Aktivierung (Herzschlag- und Atemfrequenz, Blutdruck etc.), motorische Unruhezustände • Emotional / kognitiv: • Ängste um die Unversehrtheit und Zukunft der eigene Person bzw. die der Angehörigen, Trauer- und Schuldgefühle, Hilflosigkeitsgefühle • Behavioral:Aggressives Verhalten oder panikartiges Fluchtverhalten, evt. mit Weinen, Schreien und Weglaufen • Oder: Scheinbare äußere Gelassenheit, Ablehnen von Hilfe unter Betonung der eigenen Selbständigkeit Psychische Reaktionen von Notfallopfern:
Symptome treten meist kurz nach dem belastenden Ereignis (Notfall o.ä. Trauma) auf, können aber auch mit einer Verzögerung von bis zu vier Wochen auftreten • Sie stellen streng genommen keine pathologische, sondern eine normale physiologische und psychische Reaktion auf Extrembelastung dar • Symptome halten über mindestens zwei Tage, maximal vier Wochen an • Bei Fortbestehen der Symptomatik über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten nach dem Traumata, spricht man von einer sog. Posttraumatischen Belastungsstörung(ICD-10: F43.1). Spontanremission sind hierbei selten Akute Belastungsreaktion (ICD-10: F43.0)
Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form von sich aufdrängenden Erinnerungen oder flashbacks (Als-ob-Gefühle) bzw. Alpträumen • Physiologisches Hyperarrousal (Schlafstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit, psychosomatische Beschwerden) bzw. Angst, Aggression, Gereiztheit • Vermeidung von Situationen oder Reizen, die an das traumatische Erlebnis erinnern • Subjektives Gefühl der emotionalen Abgestumpftheit, der Entfremdung (Derealisations- bzw. Depersonalisations-erleben), Fehlen emotionaler Reaktionsfähigkeit, Glaube an eingeschränkte Zukunftsperspektive • Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern Akute Belastungsreaktion (ICD-10: F43.0)
Fehlende Reaktion auf soziale Kontaktaufnahme • Ärger, Aggression, Angst (z.B. Zukunftsängste) • Depressive Verstimmungen • Regressive Verhaltensmuster • Geringe Motivationsbereitschaft bzw. aktive und / oder passive Verweigerung der Mitarbeit bei oder Zustimmung zu Behandlungsmaßnahmen • Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit • Psychosomatische Beschwerden Anzeichen einerakuten Belastungsreaktionbei einem Intensiv- oder Notfallpatienten:
Die Person war Opfer oder Zeuge eines Ereignisses von außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophenartigem Ausmaß, das bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde In der Folge leidet die Person unter wiederholten unausweichlichen Erinnerungen oder Wiederinszenierungen des Ereignisses in Gedächtnis, Tagträumen oder Träumen Des weiteren leidet sie unter einem andauernden Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umgebung und / oder Anhedonie Sie vermeidet Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Diagnosekriterien nach ICD-10):
Vegetative Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit • Angst und Depression • Dramatische, akute Ausbrüche von Angst, Panik oder Aggression • Symptome treten üblicherweise innerhalb von 6 Monaten nach dem belastenden Ereignis auf. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Diagnosekriterien nach ICD-10) ( Fortsetzung):
Verschaffen Sie sich einen Überblick! • Sagen Sie, wer Sie sind und dass etwas geschieht: Vermitteln Sie dem Opfer und seinen Angehörigen, dass alles Menschenmögliche zur Lebensrettung getan wird! • Halten Sie vorsichtigen Körperkontakt! • Bemühen Sie sich um kompetentes und besonnenes Auftreten trotz Zeitdruck! (Benennung Sie Ihre Fachkompetenz und Funktion: „Ich bin Arzt“) Lasogga und Gasch (2000): „Psychische Erste Hilfe“ bei Unfallopfern I:
Geben Sie Informationen über die eingeleiteten Maßnahmen! • Hören Sie aktiv zu, wenn der Betroffene spricht! • Halten Sie das Gespräch mit dem Betroffenen aufrecht! Reden Sie von sich aus, wenn der Betroffene nicht spricht! • Schirmen Sie den Betroffenen von Zuschauern ab! • Erklären Sie dem Verletzten, wenn Sie ihn verlassen müssen und sorgen Sie für „psychischen Ersatz“ • Beachten Sie die Angehörigen! Lasogga und Gasch (2000): „Psychische Erste Hilfe“ bei Unfallopfern II:
Wenn nötig: Für den äußeren Schutz und Sicherheit der Person sorgen, aktuelle psychische und körperliche Bedürfnisse (Erkrankungen behandeln) befriedigen • Dosiert und annehmbar über die Ereignisse aufklären und die Möglichkeit zum Austausch anbieten • Wenn der Betroffene über das Erlebte reden möchte: Ruhig und einfühlsam auf Schilderungen des Betroffenen eingehen, ihn aber nicht zum Reden drängen, wenn er es nicht möchte; evtl. benannte Schuldgefühle werden besprochen, aber nicht forciert Krisenintervention und Psychoedukation bei akuter Belastungsreaktion (Bengel 2003) I:
Verständlich und dosiert über mögliche Belastungsfolgen aufklären und über Bewältigungsstrategien informieren. (Wie kann der Betroffene selbst, wie können Freunde und Angehörige helfen, die Erfahrung zu verarbeiten?) • Das soziale Netz aktivieren und Zugang zu professioneller psychologischer Betreuung ermöglichen. Wichtigste Botschaft:„Ihre Reaktion ist eine ganz normale Reaktion auf eine unnormale Belastungssituation!“ Krisenintervention und Psychoedukation bei akuter Belastungsreaktion (Bengel 2003) II: