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Psychopathologie und Sexualität. Univ. Prof. Dr. Alfred Springer. II. 1. „Perversion“. Historischer Exkurs. Krafft-Ebing.
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Psychopathologie und Sexualität Univ. Prof. Dr. Alfred Springer
Krafft-Ebing • Hinsichtlich der krankhaften Äußerungen des Geschlechtstriebs wurde im Sinne der „Psychopathia sexualis“von dem Psychiater Krafft-Ebing, der in Graz und in Wien wirkte, ein umfassender Katalog erstellt. Dieses Werk gilt bis heute als Standardwerk und wird immer wieder neu aufgelegt. Dabei spielt offenkundig auch eine Rolle, dass es voyeuristischen Bedürfnissen entgegen kommt.
Perversion-alte Definitionen Definitorisch verstand man unter Perversion des Geschlechtstriebes in Anlehnung an Krafft-Ebing jene Äußerungen, die nicht dem Prinzip der Fortpflanzung dienen. Diese Perversion grenzte Krafft-Ebing von der „Perversität“ ab, die durch Handlungen charakterisiert ist, die durch perverse Triebe oder andere Ursachen motiviert sind. Von sexueller Parästhesie wurde gesprochen, wenn die sexuelle Erregung von einem an sich ungeeignet erscheinenden Stimulus ausgeht.
Abweichung und Krankheit • In diesem alten Konzept entsprach die Perversität als frei gewählte Stilbildung der Abweichung, die Perversion hingegen wurde als pathologische Bildung, als zwanghaftes Verhalten und dementsprechend als „Krankheit“ erfasst. Krafft-Ebing stellte den Leidensdruck seiner KlientInnen eindrucksvoll dar.
Perversion- analytisch-feministische Definition (Kaja Silverman) • Unter Perversion verstehe ich Phänomene wie Fetischismus, Sado-Masochismus, und Analerotik, die eine Abwendung von den Zielen der genitalen Vereinigung und der Fortpflanzung repräsentieren und daher sowohl von der Biologie wie von der sozialen Ordnung divergieren.“
Anthropologischer Zugang • Alternativ zur klinischen Phänomenologie Krafft-Ebings entwickelte sich in der Psychiatrie ein anthropologischer Zugang, der die sexuellen Phänomene im gesellschaftlichen Kontext untersuchte und einen weniger pathologisierenden Standpunkt wählte (z.B. Iwan Bloch/Eugen Dühren.). Auch später war dieser Zugang aktiv (z. B. Giese)
Andere Konzepte • In der modernen anthropologischen Konzeptualisierung stellt das Leiden des Individuums an seiner Sexualität und nicht die Art des Aktes selbst das bestimmende Merkmal dar, um Krankheit zu definieren.Giese führte den Begriff „sexuelle Süchtigkeit“ ein und wollte den Begriff „Perversion“ nur für jene Fälle reservieren, die jene krankhafte Ausprägung zeigen, die anderen Formen von Abweichungen wollte er unter einen „Fehlhaltungs“begriff subsummieren.
Perversion: Freud – frühe Position • Zunächst meinte Freud, dass jene Personen eine Perversion entwickeln, die sich den gesellschaftlichen Beschränkungen des Geschlechtslebens nicht unterordnen können. In diesem Sinn verstand er die Perversion als „Negativ der Neurose“.
Die Perversion erschien ihm als komplexes Gebilde aus Fixierung an frühkindliche Positionen und Regression aufgrund von Sexualeinschränkung.
Im Kontext seiner zweiten Triebtheorie (der „Todestriebtheorie“) widmete Freud sein Interesse den Phänomenen des Fetischismus und des Masochismus. Er verstand sie nunmehr als komplizierte psychische Konstruktionen, die der Abwehr von Ängsten und Bedürfnissen dienen, die aus der als primäres Prinzip erkannten Destruktivität abgeleitet sind, wobei die Bewältigung der Kastrationsangst als zentrales Anliegen imponierte. In diesem Sinne ordnete er ihnen große psycho-ökonomische Bedeutung für die Abwehr psychotischer Zusammenbrüche und Durchbrüche triebhafter Destruktivität zu. Die Perversion repräsentiert in diesem Verständnis die erotisierte Gestalt des destruktiven Triebanspruchs; jede Erotisierung aber nimmt dem destruktiven Trieb ein Stück seiner Gewalt.
Freuds Bewertung der Perversion „Vielleicht gerade bei den abscheulichsten Perversionen muss man die ausgiebigste psychische Beteiligung zur Umwandlung des Sexualtriebes anerkennen. Es ist hier ein Stück seelischer Arbeit geleistet, dem man trotz seines gräulichen Erfolges den Wert einer Idealisierung des Triebes nicht absprechen kann. Die Allgewalt der Liebe zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in diesen ihren Verirrungen.“
Wichtig ist auch die Bedeutung, die Freud in seiner Todestriebtheorie der Fusion der Triebe zuordnete.
Neuere Interpretationen auf Basis der Freudschen Überlegungen
Bak`s Perversionstheorie • In der Perversion entsteht nicht Neutralisierung als Erfolg eines Reifungsprozesses. Das Ich schützt sich und das Objekt durch Identifizierungen und eine partielle Projektion des Selbst um eine narzisstische Objektbeziehung aufzubauen. Dies ist die Folge einer präödipalen Konstellation in der es nicht gelang, die Objekte der beiden Triebe zu spezifizieren.
Triebfusion oder Triebdifferenzierung • Bak: Man sollte eher die Differenzierung der beiden Triebe als Basis genitaler Objektliebe annehmen als ihre Fusion in der Genitalität (insbesondere wenn wir die Definition des Sadismus als Fusionsergebnis annehmen).. • Die Differenzierung der beiden Triebe und die Definition ihrer Funktion scheint eine Hauptaufgabe des Ich zu sein. Ebenso seine Fähigkeit, Aggression zu neutralisieren und Aggression in bedeutsamen Umfang von der Sexualität zu trennen.
Charakteristika perverser Handlungen nach Bak: Aufweichung des Geschlechtsunterschiedes Aufhebung der Fortpflanzungsfunktion Extreme Stilisierung und Ritualisierung Ausübung maximaler Kontrolle
Neuere Interpretationen auf Basis der Freudschen Überlegungen II • Stoller versteht die Perversion als „sexualisierten Hass“. • Khan hebt in diesem Kontext den „Entfremdungsaspekt“ der Perversion hervor.
Stoller - Die Bedingungen perverser Erregung • Im Mittelpunkt der sexuellen Erregung stehen bewusste und unbewusste Wünsche, anderen zu schaden, um Rache für vergangene Traumen und Versagungen zu nehmen. Trauma, Risiko und Rache stellen eine Erregungsstimmung her, die sich steigert, wenn sie als Geheimnis verpackt werden.
R.J. Stoller: Leitthemen der sexuellen Handlung • In Perversion nicht anders als in der „normalen“ sexuellen Handlung müssen im Verlauf des Sexualaktes fantasierte Risken als überwunden erlebt werden.
Stoller: Risikostruktur • 1. Bewusste Risken: Verstoß gegen soziale Regeln. Wenn ich erwischt werde gibt es Schwierigkeiten. • 2. Bewusste Risken: Verstoß gegen innere Regeln. Wenn ich es tue, werde ich mich hassen. • 3.Bewusste/unbewusste Risken: Erinnerung an Eltern: Was du tust ist schlecht. • 4. Ich bin hasserfüllt und darf es nicht wissen...Ich muss lieben....Hass ist schlecht und wird bestraft. • 5. Meine sexuellen Begierden sind schlimm, mein Hass ist aber noch schlimmer...Gewalttätigkeit ist Teil meines Wesens....verbirgt sich in dem, das ich erotisch begehre.
Stoller: „Perversion ist Hass, erotisierter Hass“ • 6. Für alles, das man mir antat, werde ich mich rächen, und auch dies soll sich in der sexuellen Handlung zeigen. Aber wenn ich meinem Objekt Schaden zufügen will, spürt es das vielleicht und will mir mindestens das antun, was ich ihm antun möchte. Und das ist höchst riskant..
Stoller: Perversion und das Böse • Das wahre Selbst der Perversion weiss von seiner Schlechtigkeit, die für das wahre Selbst der Variante nicht existiert. • Uns entgeht die Vielfältigkeit der sexuellen Erregung des Menschen, wenn wir bei unseren Untersuchungen die Sünde ausklammern.
Sexualität und Überschreitung • Die Bindung sexueller Erregung an „die Gewissheit das Böse“ zu tun bzw. Überschreitungen zu setzen, sich der „Verschwendung“ zu verschreiben, ist eschatologisch verankert. Sie reicht darüber hinaus in säkularisierter Gestalt in der Entwicklung des modernen Bewusstseins von Baudelaire über Bataille bis in psychoanalytische Interpretationssysteme.
Stoller • Die Wurzel der Aggression liegt in allen Perversionen in der Drangsalierung, der das Kind durch Eltern oder Erzieher ausgesetzt war. Durch die Perversion wird die Wut in einen Sieg über jene verwandelt, die ihn unglücklich machten, denn in der Perversion wird ein Trauma zum Triumph. Die sexuelle Handlung verfolgt den Zweck, ein Trauma des Kindes in den Triumph des Erwachsenen zu verwandeln.
McDougall: Urszene und sexuelle Perversion • Die Ängste, die aus den infantilen Fantasien, die sich auf Zerstörung des Vaterbildes und die Destruktion der nährenden Mutter richten, entstehen, werden durch zwanghaftes Sexualverhalten unter Kontrolle gebracht, das den Charakter eines Spiels mit starren Regeln annimmt und zu einer Form der Objektbeziehung führt, die durch Verleugnung, Verneinung, Spaltung und Projektion, manische Abwehr, Triebregression bestimmt wird.
McDougall, Fortsetzung • Dieses Spiel steht im Dienst der Bewältigung traumatischer Erlebnisse und Zustände und gibt die Möglichkeit sich spielerisch mit dem zu befassen, was es nicht in die Tat umsetzen darf. Es ermöglicht auch eine Umkehr der Rollen.....Das verzweifelte sexuelle Spiel gewährt in der Fantasie sowohl die Zurückgewinnung verlorener Objekte als auch die Erotisierung der Abwehr verbotener Wünsche.
Perversion als Abwehr • Autoren wie Morgenthaler im Falle bestimmter problematischer Ausgestaltungen des Homosexualität oder Wurmser hinsichtlich des Masochismus ordnen perversen Strukturelementen eine Plombenfunktion in einer defizienten Ich-Struktur zu,
Stoller: Die Notwendigkeit der Perversion • Die Perversion dient, wie alle anderen sich zu einer Charakterstruktur ausbildenden und verfestigenden neurotischen Mechanismen, als die einzig brauchbare Kompromissbildung.Sie leitet Wut und Verzweiflung ab und verhindert auf diese Weise, dass die sich andernfalls destruktiv auswirkenden Tendenzen, die aus Kindheitsfrustrationen und Traumen in der Familie hervorgehen, die Gesellschaft und das Individuum überfordern...
Stoller - Fortsetzung • Perversion kann beispielsweise mörderischen Hass in die ruhigeren Bezirke der Fantasie, etwa Kunst, Pornographie, Tagträume, Religion lenken.
Juliet Mitchell, 2000 • „Die Perversion besteht in der aktiven Umsetzung hysterischer Fantasien.“ • Jago`s position of perversion in word and deed is the position of the hysteric: the hysteric fantasizes – the perverse man enacts. • Perversion ist ausgeübte Hysterie und Hysterie fantasierte Perversion.
Hysterie, Sexus und Hass • „Wenn er sich bedroht fühlt, steigt im Hysterischen Hass auf. Dieser Hass wird dann sexualisiert.....Gleichzeitig bestätigt das hysterische Subjekt sein Überleben und seine Existenz durch seine ihm eigene Sexualität. Wie auch im Falle des sexualisierten Hasses oder Sadismus, ist dies ein essentiell narzisstischer Vorgang, der die andern Personen für autoerotische Zielsetzungen nutzt.“
Perversion oder „erotische Neurose“ • Gillespie: Der entscheidende Unterschied zwischen Neurose und Perversion liegt darin, dass bei der Neurose die verdrängte Fantasie nur in Form eines dem Ich unwillkommenen Symptoms, in aller Regel in Verbindung mit neurotischem Leiden, bewusst zum Ausdruck kommt, während bei der Perversion die Fantasie, die dem Ich willkommen und lustvoll erscheint, bewusst bleibt. Der Unterschied scheint eher in der Ich-Einstellung als im Inhalt zu liegen.......
Springer – weitergehende Interpretation • Ich würde noch weiter gehen: Die Haltung des „Perversen“ unterscheidet sich insofern als sie ein Objekt braucht, das sie in ihre Symbolwelt einbeziehen kann. Das neurotische Symptom bearbeitet das Trauma autoerotisch, das perverse Ritual erfordert zumeist einen Partner/eine Partnerin um die traumatisierende Situation zu reinszenieren. Zu den bevorzugten Abwehrmodalitäten gehören dementsprechend auch Externalisierung und projektive Identifizierungen.
Springer - Fortsetzung • Das Schuldgefühl des Perversen, sein Bewusstsein, eine Überschreitung zu setzen und das entsprechende Risiko einzugehen baut auf dem Inzesttabu auf. Der Objektbezug der Perversion nutzt das Objekt um die Inzestsituation zugleich zu entstellen und zu durchleben, sich gleichzeitig schuldig fühlen zu können und Lust zu empfinden.
Springer - Fortsetzung • Daraus wieder ergibt sich der Stellenwert der Pädophilie. Im Spiel von Identifikationen, Projektionen und Externalisierungen, in der Reinszenierung der traumatisierenden Situation muss auch das Kind in seiner ambivalenten Position (verführt, vergewaltigt, neugierig, verführerisch, Opfer und Schuldiger noch diesseits der geschlechtlichen Differenzierung) repräsentiert sein.
Der sexuelle Dimorphismus • In der aktuellen historischen Situation dominiert gesellschaftlich die Lehre vom geschlechtlichen Dimorphismus. Die Tendenz, das Geschlecht am Phänotypus der Geschlechtsorgane fest zu machen dokumentiert sich an den „ kulturellen Regeln der Geschlechtlichkeit“.
Laqueur: Making Sex • Thomas Laqueurs Buch vermittelt eine faszinierenden Einblick in die Entwicklung der Lehre/des Diskurses vom sexuellen Dimorphismus als Folge „sozialer, politischer, ideologischer und ästhetischer Entwicklungen.“ In diesem Prozess kommt es zu einer Unterscheidung zwischen den Gegebenheiten des Körpers, als das was sichtbar ist und dem diskursiv konstituierten Körper als „als ob Sichtbarem“.
„Bisexualität“ und geschlechtliche Ambiguität als kulturelle Inhalte • Androgynie- Geschlecht der Engel- Poetisches Geschlecht- Adoleszenz- Gestalt des „dekadenten“ Eros- Gestalt des Lasters • in Symbolismus/ Dekadenz diente das androgyne Prinzip zwei Zielen: - der Sexualität zwischen den Geschlechtern entkommen (Rachilde; Altenberg)- Unsterblichkeit
Der Versuch, der Geschlechterordung zu entkommen macht die Gestalt des Androgyn zu einer zentralen Symbolfigur der Dekadenz. Ist er doch die perfekte Inkarnation des Zweideutigen, des Hybriden und damit des Nicht-Repräsentierbaren. Da er gleichzeitig eine Gestalt der Verdopplung und des Neutrums ist, bisexuell oder asexuell sein kann, stellt er auf besondere Weise das „Widernatürliche“ bzw. „Außernatürliche“ dar.
Der „dekadente Eros“ Mit der Idealisierung des Androgynen vollzieht sich gleichzeitig eine radikale Abwertung des körperlich-Sexuellen. M. Barres in seinem Vorwort zu Monsieur Venus von Rachilde: „Eine Komplikation mit großer Auswirkung! Abscheu vor der Frau! Hass gegenüber der männlichen Kraft! Es gibt Hirne, die von einem asexuellen (nicht-sexualisierten) Sein träumen….Diese Vorstellungen riechen nach Tod.“
Das Interesse der Psychiatrie widmete sich den Fragen der „Feminität des Mannes“. Neben der Homosexualität war sicherlich auch die weite kulturelle Verbreitung und Repräsentation des Masochismus ein Katalysator dieses Interesses. Auch der Masochismus wurde ja ursprünglich als eine Spielart der „Entmännlichung“ resp. „Effeminatio“ angesehen.
Freud: Die Auswirkungen der „Kulturmoral“ • In seinen wichtigen Beiträgen zur „Allgemeinen Erniedrigung des Liebeslebens“ ortete Freud 3 Kerninhalte bzw. Symptome: • Die Erniedrigung des Liebesobjekts • Das Tabu der Virginität • Die Bedingung des „geschädigten Dritten“