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Vorlesung Entwicklungspsychologie I Begriffliches Wissen, Problemlösen

Vorlesung Entwicklungspsychologie I Begriffliches Wissen, Problemlösen. J. Gowert Masche 07.06.2006. Semesterüberblick. 26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie 10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von Wahrnehmung und Psychomotorik

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Vorlesung Entwicklungspsychologie I Begriffliches Wissen, Problemlösen

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Presentation Transcript


  1. Vorlesung Entwicklungspsychologie IBegriffliches Wissen, Problemlösen J. Gowert Masche 07.06.2006

  2. Semesterüberblick 26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie 10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von Wahrnehmung und Psychomotorik 17.05.: Frühe Eltern-Kind-Interaktion, Bindungstheorie 24.05.: Soziale Kognition 31.05.: Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget 07.06.: Begriffliches Wissen, Problemlösen 14.06.: Lerntheorien 21.06.: Motivation, Emotion, Handlungsregulation 05.07.: Entwicklung unter ökologischer Perspektive 12.07.: Familienentwicklung 19.07.: „Zurück zur Natur“: Biologische Entwicklungsgrundlagen

  3. 07.06.: Begriffliches Wissen, Problemlösen • Piaget (Abschluss) • Begriffliches Wissen • Problemlösen Literatur zu heute: v. a. Oerter & Montada (2002), Kap. 12 und 13.

  4. Wiederholung: Entwicklungsprinzipien • Adaptation als funktionelle Invariante • Assimilation des Gegenstands an Schema • Akkommodation des Schemas an Gegenstand • Äquilibration: generelle Entwicklungsrichtung auf ein Gleichgewicht hin (wird nie auf Dauer erreicht) • Ungleichgewicht tritt auf zwischen... • Schema und Weltgegebenheit • verschiedenen Schemata • zwischen Schema und übergeordneter Struktur • Diese Ungleichgewichte heißen auch kognitive Konflikte • Ungleichgewicht führt oft zu Akkommodation der Schemata

  5. Einordnung, Anwendung und Kritik

  6. Einordnung • Menschenbild • Organismisch-interaktionistisch: Mensch in Austauschprozess mit Umwelt (Assimilation, Akkommodation) • konstruktivistisch • nicht endogenistisch • individualistisch (soziale Beziehungen spielen kaum Rolle) • Konzentration auf kognitive Entwicklung • Betonung von Entwicklung in Kindheit • qualitative Entwicklung

  7. Anwendung • Lehrer kann nicht „eintrichtern“, sondern nur Hinführen und Gelegenheiten arrangieren • Schülerfragen wichtiger als Lehrerfragen • Lehrer sollte Zeit für Äquilibration lassen • Anzustreben ist optimale Diskrepanz zwischen Schemata und Inhalten • Gewährenlassen ermöglicht Kreisreaktionen (hoffentlich auch nützliche...) • Vermeiden zu früher Formalisierung

  8. Kritik • Unterschätzte Kompetenzen • Vernachlässigung sozialer Faktoren • Stadientypische Gesamtstrukturen • horizontaleDécalages • vertikale Décalages • Keine Untersuchung von Wirkursachen • Vernachlässigung der Entwicklung nach der Adoleszenz • Evtl. sind Teile der Theorie mehr eine Meta-Theorie, da nicht nachprüfbar.

  9. Begriffliches Wissen und Problemlösen

  10. Ansatz von Case (1985) • Integration von Piaget und Entwicklungstheorien der Informationsverarbeitung • Problemlöseprozesse erfordern Kapazität im Arbeitsgedächtnis • Hauptmechanismen der Kapazitätserweiterung • Automatisierung  geringere Auslastung des Arbeitsgedächtnisses • Myelinisierung  raschere Informationsverarbeitung • zentrale Begriffsstruktur (Netzwerk von Begriffen)  Generalisierung über Situationen • Zwei Fragen für heute: • Wie geht die Begriffsbildung vonstatten? • Wie sehen Fortschritte im Problemlösen aus?

  11. Begriffliches Wissen

  12. Was sind Begriffe? • Merkmalsbasierte Ansätze • Theorie deterministischer Merkmalsrepräsentationen (semantische Merkmalstheorien) • Begriffe wie Lexikoneinträge: Merkmale als hinreichende und notwendige Bedingungen dafür, dass ein Gegenstand dem Begriff entspricht • Kritik: Die meisten Merkmale sind weder notwendig noch hinreichend • Theorie probabilistischer Repräsentationen • Merkmale nicht deterministisch, sondern nur heuristisch • „Typischere“ und „weniger typische“ Gegenstände • Kritik: Was ist ein Merkmal? Woher weiß man, welche Merkmale wichtig sind? • Theoriebasierte Ansätze • Begriffe eingebettet in Wissensdomänen: Biologie, Physik, Psychologie • Begriffe umfassen nicht nur Merkmale, sondern auch (kausale) Annahmen • ebenso, wie Begriffe (hypothetische Konstrukte) in der wissenschaftlichen Psychologie!

  13. Erste Begriffe: Kategorisierungen bei Säuglingen • Habituationsexperimente zeigen: Wenige Monate alte Säuglinge kategorisieren • Sprachlaute • Gesichter • Emotionsausdrücke in Gesichtern • Farben ... • Kategorien unterschiedlicher Abstraktheit im 1. Lebensjahr: • basale Ebene: Pferde, Katzen, Giraffen... • übergeordneten Ebenen: Säugetiere, Fische, Möbel • Bezug zu Wissen: Analogieschlüsse von Objektmerkmalen auf ähnliche Objekte • Spracherwerb: ab 1;6 Wortschatzexplosion  rascher Erwerb neuer Begriffe

  14. Gibt es qualitative Veränderungen der Begriffsbildung? • These Piagets: Begriffe erst konkret, dann abstrakt • Evidenz: Sortieraufgaben thematisch, statt taxonomisch gelöst • Einwand: liegt an (unklarer) Instruktion • Analogieschlüsse mit 3-4 aufgrund von Kategorien und nicht äußerlicher Ähnlichkeit (Katze kann im Dunkeln sehen – Schluss auf andere Katzen, aber nicht auf ähnliche Tiere) • Mit 1 Jahr zu 85% richtige Wahl von Katze vs. Knochen, was „wie der Hund ist“. • Sogar schon mit 0;11 Dishabituation, wenn Spielzeugmodelle Kategorie wechselten (z. B. Tiere, Möbelstück), unabhängig von perzeptueller Ähnlichkeit • Allerdings definieren Kinder Begriffe z. T. aufgrund anderer Merkmale als Erwachsene • Zitierte Befunde belegen m. E. die Begriffsbildung allgemein, aber nicht die Bildung abstrakter Begriffe.

  15. Globale Strukturentwicklung oder bereichsspezifisches Wissen? • These Piagets: Verfügbarkeit von kognitiven Operationen relativ inhaltsunabhängig • Problem der horizontalen Décalages • Modell des Expertiseerwerbs • domänenübergreifende Informationsverarbeitungsfähigkeiten • domänenspezifischer Input • Modularitätstheorien • domänenspezifische Systeme der Informationsverarbeitung, evtl. angeboren • ein in der Evolution entwickeltes „Rechenzentrum“ im Gehirn?!? • Theorie-Theorie • Domänenspezifische Theorien des Kindes, die sich qualitativ verändern. Instruktion hilft wenig, wenn sie der naiven Theorie widerspricht.

  16. Grundwissen über Physik • Solidität von Objekten, Kontinuität • mit 0;4 schauen Säuglinge länger hin, wenn Ball scheinbar durch Tisch hindurch gefallen ist • Objekteigenschaften für Babies weniger zentral als Lage und Bewegung • Wechsel eines Objekts bei gleicher Bewegung löst keine Überraschung aus • Schwerkraft und Trägheit • Schwerkraft nach 0;6; Trägheit allmählich ab 0;8-0;10 • Kausales Denken • mit 0;6 schauten länger hin, wenn eine Kausalkette umgekehrt wurde (A schubst B an, dann umgekehrt), als wenn unabhängige Ereignisse umgekehrt auftraten • 3-4-Jährige verwenden Prinzipien wie Determiniertheit, zeitliche Priorität

  17. Fehlkonzepte in der Physik • Sich wandelnde Fehlvorstellungen würden für Theorie-Theorie sprechen • Beispiel: Annahme, dass Schwerpunkt in der Mitte liegt • Vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild • jahrelange Entwicklung, da zentrale Begriffe wie Schwerkraft Bedeutung wandeln und verbundene Vorstellungen umstrukturiert werden müssen • „Australien-Frage“: Warum fallen die Australier nicht herunter? • Beknackte Frage.

  18. Fehlkonzepte in der Physik (2) • Gewicht • Vorschulkinder sagen, ein kleines Styroporstück wiege „nichts“. • 50% 10-Jähriger sagen dies auch dann, wenn das Stück aus Teilung größerer Blöcke erzeugt worden ist • erst ab 12 Erwachsenenbegriff von Gewicht • Dichte • Mit 8-10 Verwechslungen von Gewicht und Dichte (Versuch mit Stahl- und Aluzylindern: Gewichtsvergleich, Sortieraufgaben) • Interpretiert als mangelnde Atomvorstellung, sondern Gewicht als „gefühltes Gewicht“ oder relativ zu Standard

  19. Intuitive Biologie • Grenzen Kinder die Biologie von Physik und Psychologie ab? • Säuglinge unterscheiden Tiere vs. Fahrzeuge/Möbel • mit 3-4 werden Selbstheilung, Wachstum nur bei Lebewesen angenommen • Erblichkeit: Erwachsenenvorstellung, dass biologische Merkmale erblich, psychische eher erworben, grundsätzlich bereits ab Vorschulalter, verfestigt sich weiter. • Vorschulkinder unterscheiden nicht zwischen unbelebt und tot • Grundschüler wenden psychologische Erklärungen auf Biologie an (z. B. Absichten) • noch Grundschüler sehen Pflanzen nicht als Lebewesen • weil sich Pflanzen nicht „verhalten“, Einteilung also nicht nach biologischer Kategorie? • Befunde passen zu Theorie-Theorie, lassen sich aber auch mit zunehmendem Wissen erklären

  20. Metabegriffliches Wissen • Entwicklung zum kritischen Rationalismus • naiver Realismus: Kinder verneinen Interpretationskonflikte und Meinungsunterschiede: „Missverständnisse“ (mittlere Kindheit) • Relativismus  Skeptizismus oder Dogmatismus • kritischer Rationalismus: Prüfen von Standpunkten nach rationaler Ableitung und Begründung, vor dem Hintergrund der Wahrnehmungs- und Erkenntnisperspektive (Jugendliche, Erwachsene) • Verständnis von Wissenschaft • keine Unterscheidung zwischen Hypothesen/Theorien und Daten. Wissenschaft = Ausprobieren oder Faktensammeln • Unterscheidung Hypothesen/Theorien vs. Evidenz (ab 11-16) • Erkennen der Bedeutung übergeordneter Theorien, Wissenschaft als zyklischer, kumulativer Prozess der Theoriebildung, -prüfung und -revision (auch im jungen Erwachsenenalter selten) • Unterricht kann Wissenschaftsverständnis fördern.

  21. Problemlösen

  22. Was ist ein Problem? • Problem: • ein angestrebter Zielzustand, der sich vom Ausgangszustand unterscheidet • Unklarheit, wie man den Zielzustand erreichen kann • Problemlösestrategie: vorsätzliche und überlegte Mittel zur Zielerreichung

  23. Problemlösestrategien in der frühen Kindheit • Strategien gegen den Augenschein: • Versuch mit Zweijährigen: Gegenstand auf drehbarem Hebel oder Plattform. Wegdrehen des Griffs bewirkt Herankommen des Gegenstands. 4 verschiedene Strategien: • Versuch des direkten Ergreifens • Versuch, den Hebel/Plattform heranzuziehen • teilweise Drehung • Drehung mit erfolgreichem Erreichen des Gegenstands • 47% probierten unterschiedliche Strategien aus, bis sie Gegenstand erreichten  Hinweis auf zielgerichtetes Problemlösen • Problemlösen schwieriger, wenn nicht nur richtige Strategie gefunden, sondern auch falsche Strategie unterdrückt werden muss (z. B. Greifen nach Objekt hinter Glasscheibe)

  24. Problemlösestrategien in der frühen Kindheit (2) • Strategieoptimierung: • Muster-Rate-Aufgabe: Kinder sollten ermitteln, welches von zwei Punktmustern das richtige sei. • vergleichsweise unsystematisches Suchen (Drücken von Endknöpfen oder von Reihen hier und da) • sukzessive Musterprüfung von Muster A (und dann B) • Suche nach optimaler Information: Probieren von Knöpfen, wo sich die Muster unterschieden • mit 3 Jahren Strategie 1, dann meist Strategie 2 • Instruktion „Weißt du es jetzt schon?“ regte zur optimalen verfügbaren Strategie an • bis 5 Jahre Strategie 1, ab 7 Jahren meist Strategie 3

  25. Problemlösen beim Rechnen • Strategien beim Addieren (4-5 Jahre) • Abrufen aus dem Gedächtnis: geht am schnellsten, aber nur bei bekannter Lösung • Darstellung beider Zahlen durch Finger • Abzählen beider Summanden ohne Finger: geht meistens schief • Darstellung beider Zahlen durch Finger, dann Abzählen der Finger • Erstklässler: • Abrufen (s.o.) • Min-Methode (minimum addend): Kinder nehmen den kleineren der beiden Summanden (setzt Kenntnis des Kommutativgesetzes voraus) und „zählten drauf“ in Einerschritten. • Meist mehrere Strategien, je nach Aufgabe • Zunahme des Abrufens bis Grundschulalter • Assoziativgesetz: Aufgabe (a + b) – b bereits mit 6 Jahren umgeformt zu a + (b – b) und damit schneller gelöst als durch Rechnen. Anteil der Nutzung dieser Inversion stieg bis 9 nicht an. Anstieg bis 11, und dann zu 100% bis Erwachsenenalter.

  26. Anwendung von immer komplexeren Regeln • Balkenwaage (Proportionsverständnis), vgl. Piaget • Angenommene (und bestätigte) Strategien: • Fokussierung auf die Gewichte • wie 1, aber bei gleichem Gewicht Berücksichtigung des Abstands • Wenn entweder Abstand oder Gewicht gleich, Urteil nach jeweils anderer Dimension. Falls beides verschieden, Raten • wie 3, aber statt Raten Berechnung von Kraft x Abstand auf beiden Seiten • 5-Jährige meist 1), 9-Jährige 2) oder 3), 13- und 17-Jährige meist 3), selbst unmittelbar nach Durchnehmen der Hebelgesetze in Schule. Wenige Kinder unterschiedlichen Alters 4).

  27. Hypothesentesten • Auswahl eines konklusiven Tests und Entscheiden, ob Evidenz für oder gegen Hypothese spricht, bereits in 1.-2. Schulklasse • Art der Aufgabenstellung • Aufgabe: Herr Müller will herausfinden, ob die Form der Nase eines Flugzeuges, die Position des Höhenruders oder Art der Flügel den Benzinverbrauch verringert. Als erstes will er Ruderposition testen. • kaum Kinder bis 4. Klasse und nur 40% der Erwachsenen schlugen kritischen Test vor. • Wenn Kinder aus Bildern auswählen konnten, fanden viele Dritt- und die meisten Viertklässler die richtige Lösung.

  28. Logisches Schlussfolgern • Deduktives Schlussfolgern ab Vorschulalter, verbesserter Arbeitsspeicher ermöglicht Steigerung im Grundschulalter • Fehler wie Überzeugungsfehler, unerlaubte Umkehrungen bleiben häufig • inhaltsunabhängiges Schlussfolgern erst ab formal-operatorischer Stufe • Analoges Schließen (A zu B ist wie C zu D1 oder D2?) • strukturgenetischer Ansatz nach Piaget: Stufen der Analogiebildung entsprechend des allgemeinen Stufenmodells • Modell der Informationsverarbeitung nach Sternberg: Probleme von Kindern vor allem bei dem Abbilden der A/B zu C/D-Beziehung (stimmt mit Piaget überein) • wissensbasierter Ansatz: Schwierigkeiten hängen mit fehlendem Wissen zusammen. Tatsächlich konnten bereits 9-monatige Kinder auf einen aufwärts gerichteten Pfeil gucken, wenn sie einen ansteigenden Ton hörten und einen Pfeil nach unten bei fallendem Ton. Aber: Nur 20-24% (neun Kinder) machten es richtig, diese waren meist 0;11 und älter, und das Ganze klappte auch nur in drei von acht Aufgaben...

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