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Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie der Neuzeit 4. Thomas Hobbes. Thomas Hobbes (1588-1679) 1588 geboren („bei Annäherung der Armada“) ab 1603 Oxford (Magdalen College) seit 1608 Hauslehrer beim Grafen von Devonshire
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Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie der Neuzeit 4. Thomas Hobbes
Thomas Hobbes (1588-1679) 1588 geboren („bei Annäherung der Armada“) ab 1603 Oxford (Magdalen College) seit 1608 Hauslehrer beim Grafen von Devonshire seit 1610 erste Kontinentreise (Erlebnis der Ermordung Heinrichs des IV. durch den religiösen Fanatiker Ravaillac) 1621 Bekanntschaft mit Francis Bacon 1628 Thukydides-Übersetzung 1629 wieder Festlandreise (Entdeckung Euklids in einer Bibliothek in Genf, Kontakt zu Galilei) 1640 Elements of Law (zur Unterstützung der Krone) wieder nach Paris (Descartes, Mersenne-Kreis) 1641 Ausbruch des Bürgerkrieges 1642 De Cive (in Paris) 1646 Mathematiklehrer des späteren Karl des II. (1649 Hinrichtung Karls des Ersten) Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 2
1651 Leviathan in London veröffentlicht, Bruch mit dem Hof (gegen Gottesgnadentum, für Rechtmäßigkeit eines eroberten Staates). Invasion Karls des II. gescheitert, Hobbes unterwirft sich Cromwell. 1655 De Corpore 1658 De Homine 1660 Stuart-Restauration, Karl setzt ihm eine Pension aus, er „frisiert“ den Leviathan 1669 in der lat. Ausgabe (nach Diesselhorst) 1668 Behemoth (Geschichte des englischen Bürgerkrieges), von Karl untersagt, erst posthum 1682 veröffentlicht, 1679 gestorben Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 3
Hobbes´ System: 1. De Corpore (Naturphilosophie, Lehre von den materiellen Körpern und ihrer Bewegung, „Matter in Motion“) 2. De Homine (Anthropologie, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie auf mechanistischer und nominalistischer Basis) 3. De Cive (Lehre von den Rechten des Menschen im Naturzustand, von den vernünftigen Gesetzen des Rechts und der Moral sowie den Grundlagen des Staates und des Verhältnisses zur Religion und den Kirchen). Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 4
Praktische Philosophie des Hobbes (De Cive, Leviathan Kap. XIII ff.) 1. Naturzustand: Menschen sind sich selbst erhaltende und auf „Impulssteigerung“ (Macht, Ehre, Genuß) angelegte „Atome“. Ihr Sozialtrieb beschränkt sich auf „Bandenbildung“ zu erhöhter Sicherheit. Alle einzelnen und Banden bleiben aber für die anderen potentiell lebensgefährlich (durch Überraschung, Heimtücke etc.). 2. In diesem Zustand hat jeder ein „Recht“ auf alle Mittel seiner Selbsterhaltung, die er für notwendig hält. Dieses „Recht auf alles“ (jus in omnia) ist aber hinsichtlich seiner Durchsetzbarkeit nichts wert (von niemanden anerkannt, ständig bedroht). Alle bleiben wechselseitig „gewaltbereit“. Dies ist ein Zustand des „bellum omnium contra omnes“ (kalter Krieg, ständige Gewaltbereitschaft). 3. Dieser Zustand (status naturalis) ist für jeden schlecht, weil er keine Zeit hat, auf Vorrat zu wirtschaften und keine Ruhe, mit anderen zu tauschen. Es lässt sich also nur ein „zivilisatorisches Minimum“ erreichen („solitary, brutish, nasty, and short“). Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 5
4. Es gibt einen Ausweg, wenn der Steigerungstrieb und die prophylaktische Aggression gedämpft ist durch Furcht voreinander. Die „Stimme der Vernunft“ eines jeden kann dann hörbar werden. Sie zeigt jedem den Weg und die Mittel zum Frieden („dictamina rectae rationis“). Um ihn zu realisieren, müssen aber alle gleichzeitig auf die private Gewalt (und die Entscheidung über ihren Einsatz) verzichten. Das können sie sich nur leisten, wenn im gleichen Augenblick eine Übermacht (über jede Bande) entsteht, die ihnen Sicherheit garantiert. Sie kann das, wenn jeder ihr Gehorsam zusichert (Verwandlung der privaten „Waffen“ in staatliche bzw. polizeiliche). 5. Wenn dies durch Vernunfteinsicht geschieht (und nicht durch Eroberung eines Gewaltmonopols), hat es die Form eines Vertrages. Dieser ist a) Vertrag (bzw. Vertragskette) eines jeden mit jedem über die Einsetzung eines Souveräns, der nicht zugleich Vertragspartner ist (lege absolutus, keine Pflicht zur Rechenschaft, kein Kündigungs- bzw. Widerstandsrecht). b) Zugleich Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag: Eine Gesellschaft mit anerkannten Rechten (status civilis) entsteht nur zugleich mit einer Durchsetzungsgewalt („Verträge ohne ein Schwert sind nur Papier“). Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 6
c) Einsetzungsvertrag einer Souveränität über alle Rechtskonflikte (oberste Gerichtsbarkeit), auch über Religionskonflikte (Festlegung der öffentlichen Seite der Religion, Prinzip: „Jesus ist Gottessohn“, „Jesus is the Christ“). 6. Erfahrungsgemäß am besten geeignet für eine solche Aufgabe ist ein Monarch, aber auch „Gruppenherrschaft“ ist legitim. Christliche Monarchen werden selten zum Tyrannen, nicht nur aus „Stabilitätsgründen“, sondern auch aus Furcht vor ewigen Strafen (Seelenheil). Erfahrungsgemäß die größte Sicherheit für ihre Herrschaft bietet größtmögliche Liberalität gegenüber den Bürgern, solange „law and order“ gesichert ist. 7. Aufgelöst ist diese Herrschaft, wenn der Gehorsam und das Gewaltmonopol zusammenbricht. Dann tritt der Naturzustand wieder ein und jeder hat erneut sein privates Gewaltrecht. Für den einzelnen gilt dies auch in lebensbedrohlichen Situationen (Notwehr, unfreiwilliger Kriegsdienst, Todesstrafe). Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 7
Hobbes, Naturgesetze (Leviathan, Kap. XIII) Allgemein: Ein Gesetz der Natur, lex naturalis, ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihm die Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, oder zu unterlassen, wodurch (d.h. durch welche Unterlassung) es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann. 1. Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, soweit er Hoffnung hat, ihn zu erlangen; und wenn er ihn nicht erlangen kann, so „mag“ (may: darf, soll) er sich um alle Hilfsmittel und Vorteile des Krieges bemühen und sie benutzen. 2. Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenso dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält. Er soll sich mit so viel Freiheit anderen gegenüber zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde. Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 8
3. Gerechtigkeit: Einhaltung der Verträge (Eigentum, Trennung von Legalität und Moralität, Billigkeit). 4. Dankbarkeit 5. Entgegenkommen (complaisance), Geselligkeit (commoditas) 6. Verzeihung früherer Angriffe bei Sicherheitsversprechen für die Zukunft 7. Maßvolle Vergeltung - Strafe als correction und direction (Besserung) - keine Grausamkeit 8. Verbot von Verachtung und Demütigung durch Tat, Wort Miene oder Gebärde 9. Respekt vor der Gleichheit der Menschen - kein Hochmut 10. Keine Privilegien, keine Anmaßung (Recht auf Körper, Luft, Wasser, Verbindungswege von Ort zu Ort etc. steht jedem zu). 11. Unparteilichkeit des Richters, Billigkeit 12. Gleicher Gebrauch gemeinsamer unteilbarer Güter 13. Losverfahren bei unteilbaren Dingen (entweder für Besitz oder Gebrauch). 14. Erstgeburt oder Erste Besitzergreifung (bei nicht gemeinsam genießbaren und nicht teilbaren Gütern) Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 9
15. Unantastbarkeit von Mittlern, Richtern etc. 16. Sich einem Schieds- oder Richterspruch unterwerfen 17. Keiner Richter in eigener Sache 18. Kein befangener Richter 19. Zeugen für Tatsachenentscheidungen 20. Zusammenfassung und Prüfstein: Goldene Regel (was Du nicht willst, was man dir tu, das füg´ auch keinem anderen zu) Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 10
I. Interne Probleme in Hobbes praktischer Philosophie 1. Folgt das Streben nach dem Zuwachs an Macht, Ehre und (exklusivem) Genuss wirklich aus den mechanistischen Annahmen? Selbsterhaltung als Impulserhaltung ja, aber „Impulssteigerung“? 2. Wie passt es zum „Gesetz“ der Selbsterhaltung, dass der Mensch nach Hobbes um des geistigen Genusses der Ehre willen sein Leben aufs Spiel setzt? Gehört die Steigerung der geistigen Lust noch in den mechanistischen Rahmen? 3. Passt das Todesrisiko um der Ehre willen zum „summum malum“ der Furcht vor gewaltsamem Tod? 4. Wie passt die Überlegung, die meisten Menschen seien eher friedfertig, müssten sich aber gegen die Gruppe der Maßlosen (“arrogantes“) verbünden in das naturphilosophische Modell? 5. Wie passt die „naturrechtliche“ These des (Vernunft)-rechts auf alles im Naturzustande zum rechtsphilosophischen „Positivismus“, nach dem es ohne staatliche Gesetze überhaupt kein „gut“ und „böse“, „recht“ und „unrecht“ gibt? Ist der Begriff „Recht“ im Naturzustand ein irreführender Begriff (Rousseau), weil es keinen Unterschied zwischen Macht und Recht, Können und Sollen gibt? Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 11
6. Ist die These, es gebe kein Recht zum Widerstand, aber mit dem Zusammenbruch des Rechtsfriedens bzw. der persönlichen Bedrohung (Todesstrafe, Wehrpflicht) trete ein Naturrecht ein, konsistent? Ist sie mehr als das Konstatieren eines Faktums? 7. Ist es plausibel, dass man alle Gewalt auf ein Individuum oder eine Gruppe überträgt, das im Naturzustand bleibt, also auf sein Gewaltrecht nicht verzichtet? Müsste der Souverän nicht auch zuvor auf seine private Gewalt verzichten? Wäre er dann nicht Vertragsmitglied und könnte wegen privater Gewalt (tyrannisch: zum eigenen Nutzen) verklagt werden? II. Zweifel an den Prämissen des Hobbes. 1. Die mechanistische Antriebslehre ist empirisch zweifelhaft. Es gibt andere Antriebskräfte teils natürlicher (genetisch, hormonell, neuronal), teils kultureller Herkunft (Traditionen, Erziehung, soziale Anpassung, persönliche Überzeugung etc.). 2. Auch der radikale Individualismus ist fragwürdig (Gruppenorientierung, Prägung durch soziale Wertmuster). 3. Das Streben nach Steigerung ist nicht allgemein-anthropologisch nachweisbar, wenngleich weitverbreitet, vor allem in gesetzlosen Zuständen. Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 12
4. Die Furcht vor gewaltsamem Tod ist empirisch nicht als überwältigendes Motiv nachweisbar (vgl. Abenteurer, Berufssoldat, Bewohner von Gegenden mit hoher Gewaltkriminalität, Reisen etc.). 5. Empirisch-historisch ist das Misstrauen gegen unkontrollierte staatliche Gewalt nicht prinzipiell geringer als das gegen „Banden“ (mögliche Stabilität in staatsfreien Räumen). 6. Die Unterwerfung aller unter einen unkontrollierbaren Souverän ist auch nach Vorteilsüberlegungen problematisch. 7. Der Rechtspositivismus entspricht nicht den traditionellen und weit verbreiteten Wertungen: Auch langfristig stabile Gesetzessysteme werden als ungerecht, tyrannisch etc. beurteilt. 8. Der Ansatz bei unbegrenzten Individualrechten einer „atomistischen“ Gesellschaft und der Umschlag in einen restlosen Rechtsverzicht enthält eine prinzipielle Spannung. 9. Verbreitet ist die Kritik, Hobbes orientiere sich an einem bestimmten kulturellen Menschenbild, das er als „Natur“ hypostasiere. So vor allem sozialgeschichtliche Autoren (Borkenau, McPherson, vgl. Willms). Es lässt sich aber nicht zeigen, dass Hobbes Thesen auf den „Frühkapitalismus“ beschränkt sind oder gar Gruppen- oder Klasseninteressen vertreten. Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 13
Insgesamt: Historische Erfahrungen und der heutige Stand von Philosophie und Wissenschaften bestätigen nur Teile des Hobbesschen Systems (vor allem: Folgen des Verlustes von staatlichen Gewaltmonopolen, Misstrauen, Probleme der Abrüstung von Konfliktparteien etc.), seine durchgängige Schlüssigkeit kann nicht behauptet werden. Literatur: B. Willms, Die Antwort des Leviathan, Neuwied/Berlin 1970 F. Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Nachdr. Wiss. Buchgesellschaft. CB. McPherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt/M. 1967 U. Bermbach, K.M. Kodalle, Furcht und Freiheit. Opladen 1982 M. Esfeld, Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. Stuttgart- Bad Cannstatt, 1995 Prof. Dr. Ludwig Siep - Praktische Philosophie der Neuzeit I 14