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Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie II Einführung in die politische Philosophie. I. Interne Probleme in Hobbes praktischer Philosophie
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Prof. Dr. Ludwig Siep Praktische Philosophie II Einführung in die politische Philosophie
I. Interne Probleme in Hobbes praktischer Philosophie • 1. Folgt das Streben nach dem Zuwachs an Macht, Ehre und (exklusivem) Genuß wirklich aus den mechanistischen Annahmen? Selbsterhaltung als Impulserhaltung ja, aber „Impulssteigerung“? • 2. Wie passt es zum „Gesetz“ der Selbsterhaltung, dass der Mensch nach Hobbes um des geistigen Genusses der Ehre willen sein Leben aufs Spiel setzt? Gehört die Steigerung der geistigen Lust noch in den mechanistischen Rahmen? • 3. Passt das Todesrisiko um der Ehre willen zum „summum malum“ der Furcht vor gewaltsamem Tod? • 4. Wie passt die Überlegung, die meisten Menschen seien eher friedfertig, müssten sich aber gegen die Gruppe der Maßlosen (“arrogantes“) verbünden in das naturphilosophische Modell? Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 2
5. Wie passt die „naturrechtliche“ These des (Vernunft)-rechts auf alles im Naturzustande zum rechtsphilosophischen „Positivismus“, nach dem es ohne staatliche Gesetze überhaupt kein „gut“ und „böse“, „recht“ und „unrecht“ gibt? Ist der Begriff „Recht“ im Natur- zustand ein irreführender Begriff (Rousseau), weil es keinen Unter- schied zwischen Macht und Recht, Können und Sollen gibt? • 6. Ist die These, es gebe kein Recht zum Widerstand, aber mit dem Zusammenbruch des Rechtsfriedens bzw. der persönlichen Bedrohung (Todesstrafe, Wehrpflicht) trete ein Naturrecht ein, konsistent? Ist sie mehr als das Konstatieren eines Faktums? • 7. Ist es plausibel, dass man alle Gewalt auf ein Individuum oder eine Gruppe überträgt, das im Naturzustand bleibt, also auf sein Gewaltrecht nicht verzichtet? Müßte der Souverän nicht auch zuvor auf seine private Gewalt verzichten? Wäre er dann nicht Vertragsmitglied und könnte wegen privater Gewalt (tyrannisch: zum eigenen Nutzen) verklagt werden? Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 3
II. Zweifel an den Prämissen des Hobbes. • 1. Die mechanistische Antriebslehre ist empirisch zweifelhaft. Es gibt andere Antriebskräfte teils natürlicher (genetisch, hormonell, neuronal), teils kultureller Herkunft (Traditionen, Erziehung, soziale Anpassung, persönliche Überzeugung etc.). • 2. Auch der radikale Individualismus ist fragwürdig (Gruppenorientierung, Prägung durch soziale Wertmuster). • 3. Das Streben nach Steigerung ist nicht allgemein-anthropologisch nachweisbar, wenngleich weit verbreitet, vor allem in gesetzlosen Zuständen. • 4. Die Furcht vor gewaltsamem Tod ist empirisch nicht als über- wältigendes Motiv nachweisbar (vgl. Abenteurer, Berufssoldat, Bewohner von Gegenden mit hoher Gewaltkriminalität, Reisen etc.). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 4
5. Empirisch-historisch ist das Misstrauen gegen unkontrollierte staatliche Gewalt nicht prinzipiell geringer als das gegen „Banden“ (mögliche Stabilität in staatsfreien Räumen). • 6. Die Unterwerfung aller unter einen unkontrollierbaren Souverän ist auch nach Vorteilsüberlegungen problematisch. • 7. Der Rechtspositivismus entspricht nicht den traditionellen und weit verbreiteten Wertungen: Auch langfristig stabile Gesetzessysteme werden als ungerecht, tyrannisch etc. beurteilt. • 8. Der Ansatz bei unbegrenzten Individualrechten einer „atomistischen“ Gesellschaft und der Umschlag in einen restlosen Rechtsverzicht enthält eine prinzipielle Spannung. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 5
9. Verbreitet ist die Kritik, Hobbes orientiere sich an einem bestimmten kulturellen Menschenbild, das er als „Natur“ hypostasiere. So vor allem sozialgeschichtliche Autoren (Borkenau, McPherson, vgl. Willms). Es lässt sich aber nicht zeigen, dass Hobbes Thesen auf den „Frühkapitalismus“ beschränkt sind oder gar Gruppen- oder Klasseninteressen vertreten. • Insgesamt: • Historische Erfahrungen und der heutige Stand von Philosophie und Wissenschaften bestätigen nur Teile des Hobbesschen Systems (vor allem: Folgen des Verlustes von staatlichen Gewalt- monopolen, Misstrauen, Probleme der Abrüstung von Konflikt- parteien etc.), seine durchgängige Schlüssigkeit kann nicht behauptet werden. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 6
Literatur: • B. Willms, Die Antwort des Leviathan, Neuwied/Berlin 1970 • F. Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Nachdr. Wiss. Buchgesellschaft. • CB. McPherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt/M. 1967. • U. Bermbach, K.M. Kodalle, Furcht und Freiheit. Opladen 1982. • M. Esfeld, Mechanismus und Subjektivität in der Philosophie von Thomas Hobbes. Stuttgart- Bad Cannstatt 1995. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 7
III. Bedeutung für die Entwicklung der praktischen Philosophie der Neuzeit • 1. Paradigma der systematischen Ableitung der Grundlagen von Recht und Staat • 2. „Voraussetzungslose“ Argumentation unter Abstraktion von Traditionen, Religion, Theologie etc.: Ausgangspunkt ist die wissenschaftlich erkennbare Natur des Menschen und der daraus resultierende natürliche Zustand der Gesellschaft. • 3. Individualismus: Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Rechten, Pflichten, Institutionen sind die Rechte des Individuums vor aller Bindung. Diese Rechte müssen trotz der notwendigen Einschränkungen in der Substanz erhalten bleiben. Gegen Hobbes werden sie aber später durch eine Theorie der Menschenrechte und der Kontrollen staatlicher Gewalt (Gewaltenteilung, Widerstandsrecht etc.) gesichert. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 8
Voraussetzung für die Sicherung individueller Rechte, vor allem der Rechtsgleichheit aller Individuen, ist ein souveräner Staat, der in allen rechtlichen Fragen (nach innen und nach außen) die letzte Entscheidungsbefugnis hat. • 5. Dieser Staat ist in der Lage, verschiedene religiöse und philo- sophische Überzeugungen zu tolerieren und gewaltsamen Streit darüber zu verhindern. Der Toleranzspielraum ist bei Hobbes noch sehr klein (christlicher Glaube, Trennung von öffentlichen Handlungen und privaten Überzeugungen), wird aber seit Spinoza und Locke sehr ausgeweitet. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 9
Weiterentwicklung der Theorie des neuzeitlichen souveränen Staates im 17. und 18. Jahrhundert: • John Locke (1632-1704): • Der Mensch hat ein Recht auf sich selbst und sein Eigentum (Leben, Leib, produzierte oder erworbene Güter). Er ist aber auch zur Gattungserhaltung verpflichtet. Erst wenn durch die kulturelle Entwicklung (vor allem Geldwirtschaft) die lockeren Formen von Familien- und Sippenherrschaft unmöglich werden, wird ein Staatsvertrag nötig. Er muss die Rechte der Individuen (Grundrechte) und ihre Gleichheit vor dem Gesetz sichern. Dazu muss die Souveränität geteilt werden zwischen der Gesetzgebung der Bürger (Legislative) sowie der Rechtsdurchsetzung und der Außenverteidigung (Exekutive, Föderative). Die Gesetzgebung (Legislative) ist die höchste Gewalt und kann der Exekutive Widerstand leisten, wenn der Auftrag (trust) zur Sicherung der Individualrechte nicht erfüllt wird. Auch einzelne Bürger dürfen gewaltsam Widerstand leisten, wenn in die Grundrechte einer größeren Zahl wiederholt von Seiten der Obrigkeiten eingegriffen wird. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 10
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778): • Der Mensch ist durch seine Vernunft zur Freiheit bestimmt. Diese kann auf der derzeitigen Kulturstufe der wechselseitigen Abhängigkeit (durch Arbeits-teilung und Wettstreit um Ansehen) nur erhalten werden durch einen Vertrag zur Herstellung eines „allgemeinen Willens“. An diesem partizipiert jeder Bürger als Mitglied der Gesetzgebung. Er ist zugleich Souverän (Gesetzgeber) und „Untertan“ (zum Gesetzesgehorsam verpflichtet) • Eine solche Selbstgesetzgebung (Autonomie) ist nur in strikt allgemeinen Gesetzen möglich (formal, material und prozedural allgemein: von allen, für alle, unter Beteiligung aller). Das setzt einigermaßen gleiche Interessen voraus (nicht zu große Vermögensunterschiede, gemeinsame Wertvor-stellungen). Die Gesetzgeber dürfen die Gesetze nicht selber ausführen (Gewaltenteilung). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 11
Immanuel Kant (1724-1804): • Der Mensch ist durch seine Vernunft zur Autonomie bestimmt. Er muss sich Gesetzen unterwerfen, die strengen Vernunftkriterien entsprechen. Dazu kann er aber Menschen, die sich keiner gemeinsamen Rechtsordnung unterwerfen wollen, auch zwingen. Nur Herrschaft aufgrund allgemeiner, öffentlich bekannter Gesetze ist vernünftig und mit der Freiheit im Einklang. Die Anwendung der Gesetze ist ein vernünftiges Schließen von der Regel auf den Einzelfall. Dies macht die Gewaltenteilung zwischen Legislative (oberste Gewalt), Exekutive und Judikative nötig. • Teilhabe an der Gesetzgebung setzt persönliche Unabhängigkeit, d.h. Selbsterhaltung durch Eigentum voraus. Dies ist nur den „Vollbürgern“ möglich, die Übrigen sind Schutzgenossen, deren Grundrechte (Schutzrechte, nicht Mitwirkungsrechte) nicht beschränkt werden dürfen. • Das Verhältnis zwischen denStaaten muss ebenfalls vernünftig sein, d.h. einem System von Rechten unterworfen werden. Das Völkerrecht verbietet den Angriffskrieg und fordert einen Bund souveräner Staaten zur Konfliktverhütung bzw. rechtlichen Konfliktschlichtung (20. Jh.: Völkerbund, UNO). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 12
Resultat dieser Entwicklung der politischen Philosophie ist die moderne, rechtsstaatliche Republik: • Ein Staat, der mittels Gesetzen und Gewaltenteilung die Rechte jedes Bürgers und das Gemeinwohl sichert. • Zur Begrenzung und Teilung der Gewalten gehört: • a) Wahl und Abwahl der Regierungen • b) begrenzte Amtszeit • öffentliche Rechenschaft • „Gesetzesförmigkeit“ der Verwaltung (nur Erlasse, die sich auf Gesetze gründen) • Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch ein oberstes Gericht • Widerstandsrecht der Bürger Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 13
John Rawls (1924-2002): Eine Theorie der Gerechtigkeit (dt. 1975) • Rawls will den grundrechtssichernden, gewaltenteiligen, demokra-tischen, sozialen Staat der Neuzeit durch eine spieltheoretische Neufassung der Vertragstheorie rechtfertigen. Unter fairen Ausgangs-bedingungen sollen die „Kooperationspartner“ über faire Verteilungs-regeln entscheiden. Fair ist die Situation des Vertragsabschlusses schon insofern, als jeder frei seine Zustimmung geben kann oder nicht. Aber nicht jeder unter ungünstigen Bedingungen abgeschlossene Vertrag ist fair. Es müssen faire Ausgangs-bedingungen gegeben sein. • Die bestehen dann, wenn niemand weiß, welche Position er später in der Gesellschaft einnehmen wird („Schleier des Unwissens“). Niemand soll in die gesellschaftlichen Grundregeln Begünstigungen für bestimmte Positionen „einbauen“. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 14
In einer solchen Ausgangsposition („original position“) wählt man nach Rawls zwei Grundsätze der gesellschaftlichen Gerechtigkeit: • 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. • 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass • (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und sie • (b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen (TG 81). • Ausführlicher: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: • a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten („worst off“) den größtmöglichen Vorteil bringen, und • b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen ( TG 336). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 15
Der erste folgt daraus, dass alle möglichst viel „Bewegungsfreiheit“ zur Verfolgung der ihnen jetzt noch unbekannten Lebenspläne haben wollen („strategisch“). Dazu sind die Grundfreiheiten (Denkfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit etc.) nötig. • Beim zweiten folgt die Ungleichheit aus dem „Gesetz“ der Anreize, • die Optimierung des Anteils der Schlechtestgestellten („worst off“) folgt aus dem Maximin-Prinzip (der kleinste Anteil soll größtmöglich sein - evtl. zuvor die Verteilungsregel: wer aufteilt wählt zuletzt). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 16
Aus Vertrag und den beiden Prinzipien leitet Rawls in einem vier Stufen Gang die Institutionen des Staates ab: • 1. Wahl der Grundsätze selber. • 2. Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, die eine Verfassung für die „Positivierung“ vor allem des ersten Grundsatzes schafft (die Institutionen Parlament, Regierung, Gerichte usw. müssen den Grundfreiheiten die besten Verwirklichungsmöglichkeiten geben). Der Schleier hebt sich ein Stück (Größe des Landes, Knappheit oder Reichtum, Minoritäten etc. - repräsentative oder direkte Demokratie, ein oder zwei Kammern, Präsident oder Kabinett?). • 3. Gesetzgebung, in der vor allem die Wirtschaftspolitik konkretisiert wird (Legislative als Positivierung der Grundrechte). Jetzt geht es um faire Güterverteilung, Sozialstaat, Bildung etc. Dabei muss die schon zugrunde liegende Verfassung der Freiheit (Wahlrecht, Koalitions-recht, repräsentative Gremien etc.) eingehalten werden. Also zweites Prinzip unter den Bedingungen des ersten. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 17
4. Durchführung der Gesetze in der Exekutive (nach den Bedingungen der Verfassungs- und Gesetzesadäquatheit - auch der übergesetz- lichen Fairness) und der Judikative (unparteiische Rechtssprechung, fair trial, nulla poena sine lege, in dubio pro reo etc.). Hierhin gehören die Probleme der ungerechten, aber legal zustande gekommenen Gesetze (bürgerlicher Ungehorsam, Weigerung aus Gewissens- gründen etc.). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 18
Die Diskussion um Rawls Theorie der Gerechtigkeit kreist um folgende Punkte: • 1. Ist die ursprüngliche Position genügend neutral (pluralistisch, unab-hängig vom historischen Liberalismus)? • 2. Sind die Verteilungsregeln zwingend (Ungleichheit bringt mehr, bei Nicht-wissen risikoscheu)? • 3. Dürfen Risikoüberlegungen eingehen, die von persönlichen Unter-schieden mitbestimmt sind etc.? • 4. Wie steht es mit den Schichten oberhalb der „worst-off“? Kann die Spitze nicht extrem hoch („nach oben offen“) sein, solange es den Unteren ein wenig besser geht? Oder gilt das „chain principle“ (jede Verbesserung schlägt gleichmäßig auf alle Schichten durch)? Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 19
5. Muss die Lage der am schlechtesten Gestellten („worst off“) kontinuierlich verbessert werden (permanente Sozialreform) oder ist das Prinzip im Systemvergleich gemeint (die beste Staatsform und Wirtschaftsverfassung ist die, in der es den „worst off“ am besten geht)? • 6. Wie steht es mit der Entscheidungstheorie und dem Differenzprinzip beim späten Rawls? • Rawls hat seit den 80iger Jahren mehr und mehr auf spieltheoretische Überlegungen verzichtet und stattdessen seine Theorie als eine Rekonstruktion der modernen Staatsverfassungen verstanden, in denen Freiheit und Gerechtigkeit die obersten Werte darstellen. • Vgl. W. Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus, stw 1296. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 20