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24 Nach dem Ost-West-Konflikt. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verschwanden auch die gegenseitigen Bedrohungen.
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24 Nach dem Ost-West-Konflikt • Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verschwanden auch die gegenseitigen Bedrohungen. Das Ende des Systemantagonismus hat freilich nicht automatisch ein euro-päisches Friedensreich anbrechen lassen. Konservative Machtanalytiker befürchten einen Rückfall in die alten europäischen nationalstaatlichen Gegensätze. Die Ethno-Kriege auf dem Balkan und in einigen GUS-Staaten im Kaukasus scheinen für diese Erwartungen zu sprechen. Dieser Denkansatz macht allerdings nur dann Sinn, wenn man diese Konflikte nicht als isolierte Vorfälle in rückständigen Regionen interpretiert, sondern als womöglich ansteckende Krankheit des Ethnizismus und Nationalismus. Diese Hypothese erscheint jedoch nicht als übermäßig plausibel.
Die genannten Konflikte offenbarten vielmehr eher ein Rückständigkeitsproblem. Der zentralistische Realsozialismus und vor allem die Rote Armee hatten die ethnischen Konflikte auf ihrem Herrschaftsgebiet nur unterdrückt, diese aber nicht bearbeitet und gelöst. Nach dem Zerfall der zentralistischen Gewaltherrschaft traten deshalb alte Nationalismen in ihrer antiquierten Form wieder zutage. Darin drückte sich das Modernitätsgefälle zwischen Ost- und Westeuropa aus, nicht der Rückfall Gesamteuropas in finsteren Nationalismus.
Eine wirkliche Bedrohung für die europäische Sicherheit geht mit diesen Ethno-Konflikten nur bedingt einher. Sie sind in erster Linie zerstörerische Bürgerkriege, welche die Beteiligten und die entsprechenden Regionen ruinieren. Historische Analogien gesamteuropäischer kriegerischer Auseinanderset-zungen sind höchstwahrscheinlich falsch. Solche lokalen Konflikte können nur dann größere Kriege provozieren, wenn außerhalb potentielle Kriegsparteien darauf warten, sie als Anlass für eigene Militäroperationen zu nutzen. Szenarien, wie das eines deutsch-französischen Krieges wegen Bosnien oder das eines deutsch-russischen Krieges wegen der Konflikte auf dem Balkan, erscheinen jedoch ziemlich absurd.
Eine immer noch ernstzunehmende potentielle Bedrohung für Europa liegt in den Nuklear-Potentialen, die auf dem Boden der GUS-Staaten als Erbe der alten Sowjetunion und des Ost-West-Konflikts übriggeblieben sind. Zwar haben sich die Ukraine und Weißrußland verpflichtet, den Status von Kernwaffenstaaten aufzugeben und die Nuklearwaffen auf ihrem Boden entweder zu vernichten oder an Russland auszuliefern, doch die Realisierung hat sich bislang als langwierig und womöglich auch zweifelhaft erwiesen. Insbesondere ein Proliferationsproblem in nach Atomwaffen strebende Staaten wie der Iran und die Weitergabe an terroristische Gruppen bestehen fort.
Als Restrisiko bleibt natürlich auch der immer noch hoch gerüstete Atomwaffenstaat Russland mit seinem nach wie vor riesigen konventionellen Potential. Auch wenn dort gegenwärtig nicht von unmittelbaren expansiven Absichten ausgegangen werden muss, sind die Potentiale dafür noch vorhanden. Absichten könnten sich angesichts der instabilen, unberechenbaren innen-politischen Situation und der Möglichkeit der Machtübernahme durch andere, weniger reformistisch aber dafür mehr expansiv orientierte Gruppierungen womöglich schnell ändern. Hier bleibt also ein erhebliches Restrisiko.
Dies gilt besonders für Mittelosteuropa. Russland hatte sich mit seiner Militärdoktrin des „nahen Ausland“ vom November 1993 eine Einflusszone vorbehalten, die von den früheren Mitglieds-staaten des Warschauer Pakts außerhalb der GUS als Wieder-aufleben des russischen Expansionismus interpretiert worden ist. Diese Staaten mochten deshalb nicht in einer Zone minderer Sicherheit verbleiben und suchten Schutz bei der NATO. Die Ablehnung der Osterweiterung der NATO durch Russland war ein deutliches Signal an die früheren Satellitenstaaten. Russland blieb unter Jelzin unberechenbar. Die russischen Optionen für das demokratische Lager oder für eine eigene machtstaatliche Außenpolitik, womöglich auch ein Hüh und Hott, sind offen. Das deutsche Interesse gegenüber Russland ist klar ausgedrückt zweifach: „mit den Russen sich gut zu stellen, so eng wie möglich, und Russland auf Abstand halten, so weit wie möglich.“ Unter Putin stieg das gegenseitige Vertrauen.
Außereuropäische Bedrohungsfaktoren, wie etwa im Nahen Osten durch die dortigen islamischen Staaten, die den Kernwaffenstatus anstreben, z. B. Iran, Irak, Libyen usw., sind schwer abzuschätzen aber real. Der islamistische Terrorismus entsprang den islamischen Gesellschaften nicht den Staaten. Die Stoßkraft des radikalen Islamismus ist eine zweifelhafte Größe, die militär-technologische Leistungsfähigkeit dieser Staaten erst recht. Auch wenn wir dort von mittel- und längerfristigen Bedrohungen für die europäische Sicherheit ausgehen können, ist das mehr als Zukunftsmusik. In den Neunzigern wurde diese potentielle Bedrohung eher als Lobbyargument für nicht allzu große Einschnitte in die Verteidigungshaushalte gebraucht. Seit dem 11. September 2002 ist es ein valides, aber in der Bedeutung und Reichweite noch unscharfes Bedrohungsbild.
Europa und damit Deutschland mittendrin befanden sich bis 2010 in der komfortablen Situation, nicht eigentlich bedroht zu sein und deshalb sich mit der Fortentwicklung der gemeinsamen vorhan-denen oder neuen Sicherheitsregimen Zeit lassen zu können. Europa konnte sich also den Luxus des Experimentierens mit den überkommenen Sicherheitsinstitutionen leisten und sich bei der Ausformung seiner Sicherheitsarchitektur Zeit lassen. Dieser Komfort ist im September 2002 erschüttert worden. Diese Institutionen sind deswegen hier im Hinblick auf Deutschlands Rolle in diesen Regimen sowie auf deren Leistungsfähigkeit hin zu analysieren.
NATO • Im Großen und Ganzen kann die NATO für die Phase des Ost-West-Konflikts als erfolgreiche Sicherheitsorganisation bewertet werden. Ihr Doppelziel, die Eindämmung der Sowjetunion und Deutschlands, war erreicht worden. Die Bundesrepublik wurde integriert, Gesamtdeutschland blieb NATO-Mitglied. Zumindest für eine längere Übergangszeit dürfte die NATO weiterhin die wichtigste Rolle für die europäische Sicherheit spielen. Vereinbarungen aus der Endphase des Ost-West-Konflikts werden noch umgesetzt. Dazu gehören in erster Linie die Rüstungsbegrenzungsmaß-nahmen im konventionell- und nuklearstrategischen Bereich.
Das Beharrungsvermögen der NATO-Institutionen und die amerikanische Dominanz dürften für einige Jahre noch als Kitt für die NATO ausreichen. Da ihr aber der Gegner abhanden gekommen ist, bleibt nur die langsame Auszehrung oder ein grundsätzlicher institutioneller Umbau. Der neue Ersatzgegner wie islamisch-fundamentalistische Staaten und nukleare Schwellenländer bleiben als Überlebensphilosophie fragwürdig, weil unklar ist ob die NATO dagegen und gegen den Terrorismus geeignet ist.
Mittlerweile hat die NATO das Sicherheitsvakuum in Osteuropa füllen können. Gerade die mittelosteuropäischen Länder wollten schnell beitreten. Sie sahen in der amerikanischen Führungsrolle eine Sicherheitsgarantie gegenüber Russland und Deutschland. Die Vision einer neuen erweiterten NATO, die die Mitgliedsstaaten des früheren Warschauer Pakts einschloss, war schon mit dem NATO-Kooperationsrat vom November 1992 angedeutet worden. Einen Schritt weiter ging das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ vom Januar 1994. Damit wurde Russland ausdrücklich nicht ausgegrenzt, es akzeptierte dieses Programm allerdings erst nach längerem Zögern im Sommer 1995. Dass dieses Konzept tragfähig war, hat sich heraus gestellt. Die NATO war immer das Bündnis einer Wertegemeinschaft von Demokratien. Da der demokratische Weg in den GUS-Staaten noch längere Zeit unsicher bleiben dürfte, bleibt aber auch das Verhältnis zu diesen problematisch. Die Beitrittskandidaten in Osteuropa verstanden die Partnerschaft für den Frieden als Hinhaltetaktik gegenüber der von ihren angestrebten Vollmitgliedschaft.
Die primäre Herausforderung für eine Osterweiterung der NATO aus deutscher Sicht stellte die Sicherung der ostmitteleuro-päischen Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei vor potentiellen neuen Machtansprüchen Russlands gegenüber seinem verlorenen Herrschaftsgebiet dar. Besonders Polen, drängte möglichst schnell unter den westlichen Schutzschirm. Deutschland wollte darauf früher eingehen als die meisten anderen NATO-Partner. Aber auch in der Bundesrepublik selbst war der Weg umstritten, weil eine Bevorzugung der oben genannten Gruppe den Sicherheitsstatus etwa der drei Baltenstaaten und der Ukraine zu verringern drohte. Letztere könnten damit indirekt als von der NATO stillschweigend akzeptierte Einflusszone Russlands erscheinen.
Außenminister Kinkel teilte diese Einschätzung noch im Herbst 1994 und optierte folglich für eine langsamere Gangart bei der NATO-Erweiterung, Verteidigungsminister Rühe hingegen zog den schnelleren Kurs vor. Bereits im Herbst 1995 zeichnete sich eine Vollmitgliedschaft für Polen und Tschechien ab. Die NATO hatte zwar erst einmal eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit dem „Warum“ und dem „Wie“ einer Osterweiterung beschäftigte. Danach wurde dann in einem zweiten Schritt auch noch das „Wer“ und „Wann“ studiert. Klar war aber, dass es die NATO mit der Erweiterung trotz aller Bedächtigkeit ernst meinte und Russland kein Vetorecht einräumte.
Russland war selbst gegen eine „weiche“ Erweiterung, d. h. ohne die Stationierung von fremden Truppen und Nuklearwaffen auf dem Territorium der neuen Mitglieder. Konservative Militärs in Russland hatten die Herausforderung für ihre eigenen Vormachtambitionen erkannt und wie etwa der General Alexander Lebed, drohend reagiert und die Erweiterung sogar als Beginn des Dritten Weltkrieges bezeichnet. Besonders ein Beitritt Polens missfiel den russischen Militärs. Gerade der war aber aus deutscher Sicht attraktiv, um im Bündnis von der Randlage in eine bequemere Mittellage zu kommen. Die NATO spielte die zentrale Rolle als Übergangs-Sicherheitsregime, weil es keine andere leistungsstarke Institution gibt. Die NATO ist und bleibt vorläufig das Kernstück der europäischen Sicherheitsarchitektur. Ihr weiteres Schicksal dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob sie unter Wegfall jeglicher Bedrohung überflüssig wird, oder ob neue Bedrohungen wieder Sinn stiften.
Eine osterweiterte NATO dauerhaft ohne Russland hatte eine antirussische Stoßrichtung. Eine NATO aller Staaten der Nord-halbkugel hätte eine Stoßrichtung gegen den Süden vor allem gegen den staatlichen und gesellschaftlichen Radikalislamismus. Das wäre also Ausdruck eines Nord-Süd-Konflikts, den es in dieser Form bislang nur als Reichtumsgefälle, aber nicht als Sicherheitsdilemma gab. Die NATO als Wächter nördlichen Reichtums und Schutzschirm gegenüber einer islamistischen Bedrohung aus dem Süden wäre freilich eine qualitativ völlig neue Institution, die mit der alten NATO nur noch den Namen gemein hätte.
Wie die neue Gross-NATO letztlich aussehen wird, hängt vom Sicherheits-bedarf ab, der derzeit noch schwer abzuschätzen ist. 2010/11 steht zu befürchten, dass diese Heterogentität die NATO aushöhlen würde. Seit dem Irak-Krieg ist angesichts des Alleingangs auch die Rolle der Vormacht USA umstritten. Eine Quasispaltung der NATO könnte eintreten. Auch der Einsatz in Afghanistan ist für deren Zusammenhalt riskant. Auch die Folgen eines Abzugs und einer Quasi-Niederlage sind unklar. Ein Imageverlust liegt nahe, ein kluges Niederlagenmanagement könnte aber auch eine breite globale Legitimation gegen den Terrorismus bewirken und in eine Arbeitsteilung mit anderen Akteure wie Indien und China münden.
KSZE/OSZE • Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) umfasste bei ihrer Startphase im Jahr 1975 35 Mitglieds-staaten. Die alte Rolle war die eines Forums für Ost und West gewesen. Sie sollte von der Sicherheitskonfrontation zur Sicherheitskooperation führen. Unbestreitbar hat sie zum Spannungsabbau in Europa beigetragen und Vertrauen zwischen den früheren Blöcken gebildet. Noch viel mehr hat sie freilich als Legitimationsgrundlage für Menschenrechte die Dissidenten-bewegungen in Osteuropa gefördert. Obwohl ursprünglich eigentlich eine Idee der östlichen Realsozialisten, hat die KSZE mit zum Legitimationszerfall der östlichen Herrschaftssysteme beige-tragen. Dies erfolgte allerdings nicht direkt, sondern auf subtile Art und Weise, indem mit der KSZE die östliche antikapitalistische Propaganda sich selber desavouierte.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde der KSZE eine wachsende Rolle neben der NATO zugewiesen. Eine vorsichtige Form der Institutionalisierung mit dem Konfliktverhütungs-zentrum in Wien unter deutscher Leitung wertete die KSZE erheblich auf. Ab Januar 1995 wurde aus der Konferenz eine Organisation (OSZE) mit 53 europäischen Mitgliedsstaaten. Als Kooperationsforum aller gutwilligen Mit-glieder stieß sie aber auch zugleich an ihr funktionales Grenzen. Nützlichkeit und Überflüssigkeit lagen sehr nahe beieinander. Solange alle gutwillig mitmachten, hatte sie sicher eine Überwachungsrolle bei den vereinbarten Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen. Wo Bedrohung und Konflikt fehlen, wird ein Konfliktverhütungszentrum aber zur Sandkastenübung. Da, wo es in Europa manifeste Konflikte gab wie auf dem Balkan, hat die KSZE/OSZE keine Frieden stiftende Rolle spielen können. Sie war so hilflos wie die UNO, erst die NATO konnte effektiv wirken. Für solche Fälle fehlten der OSZE die Zähne. Das deutet auf ihre zukünftige Bedeutung hin. Sie blieb das Forum für den gesamteuropäischen Sicherheitsdialog, hatte aber erhebliche Defizite bei der Regulierung und Befriedung manifester Konflikte.
In der deutschen Außenpolitik kam der KSZE/OSZE stets ein hoher Stellenwert zu. In der Anfangsphase erwies diese sich als nützliches Entspannungsforum, das einen deutschen Akzent bei der Ost- und Sicherheitspolitik jenseits von NATO und amerikanischer Bevormundung ermöglichte. Nach der Vereinigung wurde die OSZE zu einer Bühne für deutsche Vorstellungen und Aktivitäten für eine kollektiv gemanagte europäischen Sicherheitsarchitektur. Damit sollten neben dem Ausdruck der deutschen Wertschätzung dieser Institution auch die latenten Befürchtungen vor einer neuen Machtpolitik Deutschlands abgebaut werden.
WEU/ESVP und EU-Sicherheit • Die Westeuropäische Union (WEU) stand immer im Schatten der NATO und erreichte nie die Qualität eines Sicherheitsregimes Der WEU fehlten eigene militärische Strukturen. Westeuropa war mit Recht in der NATO, weil es seine Sicherheit nicht selber garantieren konnte. Die Kritik an der amerikanischen Vorherrschaft drückte zugleich immer auch die eigene Unfähigkeit aus, sich selbst zu schützen. Ein eigenständiges europäisches Sicherheitssystem, unabhängig von den USA, scheint allerdings längerfristig möglich.
Aus der WEU wurde keine Verteidigungsorganisation der EU. Solange die westeuropäische Sicherheit nicht bedroht ist, reichte eine WEU als Debattierforum aus. Sollte diese einmal, aus welcher Richtung auch immer, wirklich bedroht sein, sind die USA durch die NATO automatisch im Spiele, es sei denn, die USA zögen sich isolationistisch auf Nordamerika zurück und verweigerten, sich am Schutz der Europäer zu beteiligen. Hier gibt es also ein Feld für Spekulation, je nachdem welche Bedrohungs-szenarien aus dem Süden oder Osten zur Grundlage gemacht werden.
In der Kommission der EU wird mittlerweile ein gewachsener Bedarf für einen eigene Sicherheitspolitik gesehen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) war in den Vertragstext von Maastricht programmatisch aufgenommen worden. Dafür brauchte die Europäische Verteidigung eine eigene Identität und die EU musste sich einen Sicherheitsarm mit eigener Schlagkraft anschaffen. Damit war die Frage nach der Konkurrenz zur NATO unausweichlich. Lange wurde mit Hilfskonstruktionen operiert, z. B. dass die EU Streitkräfte innerhalb der NATO operieren könnten und deshalb bei unabhängigen EU Aktionen auch auf die Mittel der NATO zurückgreifen könnten.
1999 wurde der Aufbau einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) beschlossen. Ziel ist die Komplettierung und damit Stärkung der äußeren Handlungsfähigkeit der EU durch den Aufbau ziviler und militärischer Fähigkeiten zur internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 erfolgte eine Konkre-tisierung der ESVP durch die Vereinbarung zwischen EU und NATO, die bei ESVP-Einsätzen der EU erlaubt auf NATO-Planungskapazitäten zurückzu-greifen.
Ab Mitte der neunziger Jahre wurde parallel zur NATO auch die Osterweiterung der WEU betrieben. Neben die 10 Vollmitglieder und die drei assoziierten Mitglieder sowie die fünf mit Beobachterstatus waren neun assoziierte osteuropäische Partner hinzugekommen. Die südeuropäischen Mitglieder Frankreich, Italien, Portugal und Spanien hatten 1995 zwei Korps vereinbart: Euroforce, eine schnelle Eingreiftruppe von 10 000 Mann mit einem multinationalen Generalstab in Florenz und Euromarforce für gemeinsame Marineübungen. Damit war die WEU/ESVP auf den Weg von einer vor allem politischen Organisation zu einem militärischen Bündnis gebracht worden. Zum tatsächlich wirksamen Verteidigungsarm der EU wurde die WEU/ESVP allerdings nicht. Der Irak-Krieg offenbarte dann den innereuropäischen Dissens.
Deutschland unterstützte diesen Kurs, die WEU/ESVP aufzu-werten, nachhaltig. Dadurch sollte aber aus deutscher Sicht die NATO gestärkt und nicht untergraben werden. Als Nicht-Nuklearmacht kann Deutschland keine europäische Verteidigungs-identität ohne Klärung der nuklearen Komponente wollen. Solange die europäischen Atomwaffenbesitzer Frankreich und England priva-tisieren und keine europäische multilaterale Nuklearlösung wollen, bleibt der Widerspruch zwischen europäischem Anspruch und der Wirklichkeit erhalten. Deutschland wird hier nicht drängen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, nach Atomwaffen zu streben. Das deutsche Sicherheitsdilemma des atomaren Verzichts aber bleibt virulent und braucht längerfristig eine glaubwürdige europäische Lösung. Solange bleiben die Sicherheitsaktivitäten der EU ein Hoffnungsträger, stellen aber noch keine überzeugende europäische Verteidigungsorganisation dar.
Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägertech-nologien Für den Bereich der Nonproliferation gibt es je nach Feld unterschiedliche Kontrollregime, die allerdings alle aus Sachgründen nicht auf Europa beschränkt sind und auch nicht beschränkt sein können. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist exemplarisch ein globales Problem. Die wichtigsten nuklearen Schwellenländer, also solche die Nuklearwaffen-programme durchführen, befinden sich alle außerhalb Europas. Von islamischen Ländern über Indien, Israel bis nach Nord-Korea wird aus unterschiedlichen Gründen nach eigenen Atomwaffen und Trägertechnologien gestrebt. Von Erfolg gekrönt können solche Bemühungen aber nur sein, wenn der Westen, Russland, die Reformländer, die Volksrepublik China und Japan an einem Strang ziehen. Diese Aufgabe zu erfüllen, dürfte nicht einfach sein, weil insbesondere die Volksrepublik China hier eigene Wege ging.
Wenn diese Nicht-Verbreitungsbemühungen scheitern, dann wird über kurz oder lang die Mehrzahl der Industriestaaten eigene Atomwaffen entwickeln. Dies könnte dann auch für Deutschland gelten, obwohl hier schwerwiegende innen- und außenpolitische Hindernisse entgegenstehen. Wahrscheinlich käme es dann aber zu einer echten multilateralen europäischen Lösung, was allemal besser wäre als unilaterale Wege. Dies allerdings immer noch ein Tabuthema. Auf diesem Feld existiert auch kein Handlungsbedarf für Deutschland. Das Gebot ist vielmehr die Stärkung der Nonproliferation.
Welche nukleare Welt wirklich sicherer wäre, ist umstritten. Die Antwort darauf hängt vom Weltbild ab. Die Mehrheit sieht in der Verbreitung eine riesige Gefahr, weil verantwortungslosen Regimen unterstellt wird, diese Waffen auch einzusetzen. Die konkurrierende Betrachtungsweise einer Minderheit unterstellt, dass mit dem Besitz von Kernwaffen der Zwang zur Vernunft einkehrt, weil wie im Ost-West-Konflikt auch die Selbstzerstörung immer mit als Risiko eingeschlossen ist. Dies wird zweifellos eine heftige Zukunftsdebatte, wenn die Nonprolife-rationregime versagen sollten.
Nukleare Exportkontrollen sollen über den Nichtverbreitungs-vertrag (NVV, englisch NPT) gewährleistet werden. Dieser Atomwaffensperrvertrag war 1970 in Kraft getreten und galt für 25 Jahre. Er stand 1995 vor der Nagelprobe einer befristeten oder unbegrenzten Verlängerung. 179 Staaten haben den Vertrag unterzeichnet. Deutschland warb vor und auf der Konferenz der Vertragsstaaten vom 17. April bis 12. Mai 1995 in New York für die unbegrenzte Verlängerung, das gebot angesichts des einseitigen Verzichts schon das Selbstinteresse. Am 11. Mai 1995 wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Größter Problemfall war seit 1994/95 Nord-Korea, das die mit dem Vertrag verbundenen Inspek-tionen verweigerte und sogar aus dem Vertrag aussteigen wollte.
Zur Sicherstellung der Nichtverbreitung besteht der sogenannte Zangger-Ausschuß aus 27 Staaten, die sich 1977 in den „Londoner Richtlinien“ für Nukleartransfers verpflichtet haben, nukleartechnologisches Know-how nicht weiterzugeben. Diese Nuclear Suppliers Group (NSG) hat 1992 in Warschau ein neues Exportkontrollregime für nuklearbezogene Mehrzweckgüter verabschiedet. Motor der NSG sind die USA, die osteuropäischen Länder arbeiten mittlerweile alle mit.
1974 wurde unter dem Vorsitz Australiens die sogenannte „Australische Gruppe“ gegründet, die versucht, die Verbreitung chemischer Waffen zu verhindern. 22 vorwiegend westliche Industriestaaten versuchen, Stoffe, die sowohl zivil als auch zur Produktion chemischer Waffen genutzt werden können, zu kontrollieren. Mit einer Liste von 54 sensitiven Chemikalien soll dies erreicht werden. Die australische Gruppe arbeitet auch nach der Unterzeichnung der weltweiten Chemiewaffen-Verbots-Konvention weiter. Sie ist jetzt über den OECD-Kreis hinaus gewachsen, weil auch hier die osteuropäischen Länder nunmehr größtenteils mitarbeiten.
Das Trägertechnologie-Kontrollregime MTCR (Missile Technology Control Regime) wurde 1987 von den Teilnehmern des Weltwirt-schaftsgipfels (G7) als Instrument der Exportkontrolle geschaffen. Die Weiterverbreitung von nuklearwaffenfähigen Raketentechnologien soll unterbunden werden. 1995 arbeiteten 27 Staaten mit, darunter auch Russland. China und Israel wenden die Exportregeln angeblich freiwillig an. Alle Waren und Technologien, die zur Herstellung nuklearwaffenfähiger Trägersysteme mit einer Nutzlast von 500 kg aufwärts und einer Reichweite von mindestens 300 km, werden kontrolliert.
Alle drei Regime weisen erhebliche Schwächen auf und bedürfen schneller Optimierung, wenn Erfolgsaussichten bestehen sollen. Deutschland ist als Nicht-ABC-Waffenstaat an allen Regimen beteiligt und gehört zu den aktiven Mitgliedern. Bei der deutschen Exportkontrollpolitik war aber auch häufig deutlich geworden, dass hier erhebliche Lücken bestanden. Der Fall der libyschen Giftgasfabrik in Rabta und Lieferungen an den Irak, die beim irakischen Atomprogramm eine Rolle gespielt haben sollen, hatten erhebliche nationale und internationale Skandalwirkung. Deshalb sind die deutschen Exportkontrollbestimmungen auch zweimal verschärft worden. Die EU hat sich aber noch nicht zu effizienten gemeinsamen Kontrollbe-stimmungen durchringen können. Im Binnenmarkt könnten also die schwächsten Kontrollglieder, wie etwa Griechenland, die Hintertür für sensitive Exporte sein.
Große Verbreitungsgefahren existieren nach wie vor in den GUS-Staaten. Die Gefahr von sensitiven Exporten aus der wirtschaft-lichen Not heraus und die Abwanderung arbeitslos gewordener Nuklearwaffenspezialisten müssen als die größten Verbreitungs-risiken angesehen. Das im November 1992 gegründete internationale Wissenschafts- und Technologiezentrum (IWTZ) sollte diese Abwanderungsgefahr mindern, indem Wissenschaftlern aus der ehemaligen Sowjetunion mit westlichem Geld die Möglichkeit gegeben wird, zivilorientierte Projekte zu entwickeln.
Russische Spezialisten sollen dadurch abgehalten werden, als „Nuklearsöldner“ in Schwellenländern zu arbeiten. Das ist sicher alles nützlich und gut gemeint, ob es reicht, wird sich zeigen. Wenn die Nichtweiterverbreitung scheitert, wird für Deutschland eine neue sicherheitspolitische Lage entstehen, auf die uni- oder besser multilateral zu reagieren sein wird. Ob es dann trotz der in Deutschland weit verbreiteten Antiatomkultur beim guten Beispiel des einseitigen Verzichts und dem Urvertrauen auf den Schutzschirm anderer ohne eigene Beteiligung und wirkliche Mitsprache bleiben wird, steht zu bezweifeln.
Welche konkrete Sicherheitsarchitektur sich in Europa auch immer herausbilden mag, deutsche Alleingänge dürften auf diesem Feld auf absehbare Zeit ausgeschlossen sein. Deutschland wird hier aller Wahrscheinlichkeit nach der mittlerweile jahr-zehntelangen Übung und der eigenen Interessenlage wie der seines Umfelds folgend Teamplayer in der NATO und der UNO bleiben. Deutsche Sicherheitspolitik wird sich in den dafür vorhandenen oder auch womöglich neu entstehenden Institutionen abspielen. Diese werden über kurz oder lang europäischer werden, was auf eine Verminderung, aber kein baldiges Ende der amerikanischen Beteiligung hinausläuft. Der deutsche Einfluss dürfte dann zunehmen, aber auf diesem Feld noch unabsehbar lange sehr vorsichtig und zurückhaltend ausgeübt werden. Wie schwierig „deutsche Wege“ sind, zeigt die umstrittene Position gegen einen Krieg im Irak.
Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahme multilateraler Aktivitäten sind mittlerweile ein außenpolitisches Standard-instrument. Der Einsatz in Afghanistan war darunter der teuerste Einsatz mit nur geringen Erfolgen bei der Stabilisierung des Landes und der Eindämmung der Taliban. 2010 kostete er rund 1,54 Mrd. €, das war gegenüber 2009 eine Erhöhung um ca. 50 Prozent. Davon entfielen 1,04 Mrd. € auf das BMVg, 10 Mio. auf das Innenministerium für den Polizeiaufbau, 250 Mio. auf das Entwicklungshilfeministerium, 180 Mio. auf das Außenministerium und 2 Mio. auf das Landwirtschaftsministerium. Quelle: Wirtschaftswoche 52, 24.12.2010, S. 12