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Europa im späten 19. Jahrhundert

Europa im späten 19. Jahrhundert. Prof. Dr. Andreas Fahrmeir. AGENDA. Die „große Depression“ Wirtschaftskrisen neuen Typs „Arbeitslosigkeit“ Erfindung Reaktionen Sozialpolitik „Munizipalsozialismus“ „Age of Collectivism“ Folgen. Große Depression. Für die Zeitgenossen

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Europa im späten 19. Jahrhundert

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Presentation Transcript


  1. Europa im späten 19. Jahrhundert Prof. Dr. Andreas Fahrmeir

  2. AGENDA • Die „große Depression“ • Wirtschaftskrisen neuen Typs • „Arbeitslosigkeit“ • Erfindung • Reaktionen • Sozialpolitik • „Munizipalsozialismus“ • „Age of Collectivism“ • Folgen

  3. Große Depression • Für die Zeitgenossen • Eindruck einer intensiven Wirtschaftskrise, ausgehend vom Börsenkrach in Wien 1873 – Ende etwa 1896 • Für Wirtschaftshistoriker • Phase gebremsten Wachstums • Rapider Preis- und Lohnverfall • Zyklische Phase • Hohe Arbeitslosigkeit in manchen Sektoren • Für Allgemeinhistoriker • Anlaß für Kritik an gegenwärtiger Gesellschaftsordnung und liberalen Grundwerten • Antisemitismus • Lebensreform • Sozialpolitik

  4. Wirtschaftskrisen neuen Typs • Ursache nicht mehr Mißernten, sondern Ungleichgewichte im Wirtschaftssystem (Überproduktion, Geldknappheit, Kreditbedarf/Angebot) • Dramatische Folgen für bestimmte Gewerbe, vor allem für „Fabrikstädte“ und urbane Zentren • Krise wird normaler Wirtschaftszustand • Mehr als 50% der Zeit zwischen 1870 und 1914 sind in Deutschland wirtschaftliche Rezessionsjahre • Konflikte zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ verschärfen sich – gewaltsame Streiks, vor allem in der Zeit nach 1900 • Interpretation des kapitalistischen Systems als gescheiterter, ungerechter Wirtschaftsordnung • Steigende Revolutionsfurcht

  5. Rezessionsjahre in Deutschland, 1873-1914

  6. Streiks • 1906 streikt jeder 16. französische Arbeiter im verarbeitenden Gewerbe

  7. Arbeitslosigkeit (1/4) • Erfindung des Begriffs um 1880 • arbeitslos / Arbeitslosigkeit • unemployed / unemployment • chômeur / chômage • Vorher: • Synonyme: „müßig“, „idle“, „chomé“ (Kurzzeitige Untätigkeit) • Nachher: • Abwesenheit einer Stellung • Technische Beschreibung des Hauptgrunds von Armut

  8. Arbeitslosigkeit (2/4) • Voraussetzung • Abhängige Erwerbsarbeit wird zur Norm • „Stellen“ werden dauerhaft (statt tage- oder minutenweise vergeben) • Arbeitslosigkeit ist zunächst schwer „meßbar“ • Wer ist arbeitslos, wer unterbeschäftigt, wer freiwillig untätig, z. B. als Streikender oder als „Arbeitsunwilliger“? (Grenze zwischen „deserving“ und „undeserving poor“; Arbeitslosigkeit und Arbeitskampf) • Nährungswerte: • Arbeitslose Gewerkschaftsmitglieder • Arbeitsfähige Empfänger von Armenunterstützung • Seit 1911 in England: Empfänger von Arbeitslosenversicherung

  9. Arbeitslosigkeit (2/4) % der Erwerbstätigen Nicht berücksichtigt: Unterbeschäftigung Lohnniveau Baugewerbe, Winter, schlechtes Jahr Schlechtes Jahr, „Industrie“ Normales Jahr, „Industrie“

  10. Arbeitslosigkeit (4/4) • Reaktionen • Arbeitsämter / Stellenbörsen zur Verbesserung der Vermittlung und zur Messung der Arbeitslosigkeit • Unterschiedliche Haltung zur Arbeitslosenversicherung • Im Prinzip förderungswürdige Form (privater) Vorsorge • Erleichtert Streiks • Hebt eventuell Lohnniveau gegen Interesse der Arbeitgeber • Förderung dauerhafter Erwerbsarbeit (z. B. durch betriebliche Sozialpolitik, Steuer- und Versicherungsregelungen) • Staatliche / lokale Arbeitsbeschaffung in Krisenzeiten • Strategien für „Residuum“: Auswanderung, Exklusion

  11. Sozialpolitik (1/9) • Neue Probleme: • Städtisches Zusammenleben • Große Städte • Erhöhte überregionale Mobilität (u. a. wegen Arbeitsmarktkonjunkturen) • Umweltprobleme – Abwasser, Abfall • Gesundheitsprobleme: Nervosität, psychische Störungen • Kriminalität, „Sittenlosigkeit“, Auflösung von Hierarchien

  12. Sozialpolitik (2/9) • Folgen • Schlechter Gesundheitszustand der Stadtbevölkerung (1/3 der Rekruten in Manchester 1900 untauglich) • Offenbar Ausbreitung von Geisteskrankheit (Wachstumsraten von über 100% in wenigen Jahren, allerdings v. a. wegen neuer Diagnosen) • Reaktionen • Forderungen nach „Rückkehr zum Landleben“ (Gartenstadtbewegung, Jugendbewegung, Reformhausbewegung usw.) • Verbesserung städtischer Lebensbedingungen (Wasserversorgung, Gasversorgung, Stromversorgung, Stadtplanung, in Ansätzen sozialer Wohnungsbau)

  13. Sozialpolitik (3/9) • Neue Formen der Finanzierung: • Zunächst Dienstleister als private Betriebe • Versorgen vor alle wohlhabende Viertel, soziale Schichten • Eventuell Duplizierung von Angeboten (z. B. bei Straßenbahnen, Bussen, Nahverkehr; Wasserwerken; Elektrizitätswerken) • Eventuell Konkurrenz um knappe Ressourcen (Beispiel Wasser) • Schlechtes Leistungsniveau; Instabilität von Firmen • Daher • Übernahme der Dienstleistungen in städtische Regie • Profit für Allgemeinheit • Möglichkeit der politischen Gestaltung • „Sozialverträgliche“ Tarife – allerdings in engen Grenzen

  14. Sozialpolitik (4/9) • Folgen: • Abschied von liberalen Wirtschaftsprinzipien • „Munizipalsozialismus“ als Vorbild einer neuen Gesellschaft? • Sozialpolitik i. e. S.: • Städte und Gemeinden als Träger von Armenhilfe • Neue Probleme, neue Initiativen: • Settlement-Bewegung (Toynbee-Hall 1884) • Elberfelder System

  15. Sozialpolitik (5/9) • Allgemeine Tendenz: • Professionalisierung von Sozialpolitik anstelle von „ungerichteter“, eventuell schädlicher Mildtätigkeit • Hilfe zur Selbsthilfe • Anleitung zur bürgerlichen Lebensführung • Abstinenz • Gesittete Vergnügungen • Vorsorge • Neuer Beruf: Sozialarbeit

  16. Sozialpolitik (6/9) • Folgen: • Forderung nach staatlicher Unterstützung mit • Geld • Zugriffsrechten auf Privatsphäre • Bereiche der Veränderung • Inzestverbot Großbritannien 1889 • Sorgerechtsentzug für Eltern in Frankreich seit 1889 möglich • Allgemeine Schulpflicht Frankreich 1880, GB 1889 • Wachsende Rolle fachlicher Gutachter im Strafvollzug • Medizinische Reihenuntersuchungen, z. B. bei Grenzkontrollen (USA, Preußen)

  17. Sozialpolitik (7/9) • Probleme: • Widerstände traditionaler Kreise, klassischer Liberaler • Aufbrechen religiöser Gegensätze • Fehlendes Angebot einer verläßlichen Vorsorgemöglichkeit für „untere Schichten“ • Instabile private Versicherungen • Firmenversicherungen als Mittel der Disziplinierung • Schlechte Zugangsbedingungen für staatliche Sparangebote

  18. Sozialpolitik (8/9) Sozialversicherungsformen Armenhilfe Firmenwohlfahrt Privatversicherung Finanziert durch Lokalsteuerzahler Fabrikanten / Betroffene Betroffene nutzt Betroffenen / Fabrikanten (Unfälle, Phasen der Arbeitslosigkeit) Fabrikanten / Betroffenen Unternehmern/ Betroffenen

  19. Sozialpolitik (9/9) • Sozialversicherung für abhängig Beschäftigte • Verlagert Kosten von Steuerzahlern auf Beschäftigte, Unternehmer • Sichert Einlagen durch staatliche Kontrolle • Kann (Beispiel GB) langfristige Beschäftigung fördern • „Benachteiligt“ aber Selbständige (daher nicht in Frankreich vor 1928)

  20. Epochendeutungen • „Munizipalsozialismus“ • Sozialismus durch die Hintertür • Größere, vielleicht zu große Rolle eines (letztlich) überforderten Staates • „Age of Collectivism“ (A. V. Dicey 1905) • Zurückstellung individueller Rechte hinter Gemeinschaftsinteressen

  21. Literatur • „Klassiker“: • Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967 • Arbeitslosigkeit: • Christian Topalov, La naissance du chômeur, Paris 1994 • Sozialpolitik: • E. P. Hennock, British Social Reform and German Precedents, Oxford 1987 • José Harris, Unemployment and Politics, Oxford 1972

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