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Vorlesung: Einführung in die Soziologie – WS 2009/010 Prof. Dr. Ingrid Artus. 2. Dezember 2009 Zentrale Begriffe: Institution, soziale Rolle, soziale Gruppe, Organisation. Gliederung. 1. Wiederholung: Anthropologische Grundlagen des sozialen Handelns, Normen und Werte 2. Soziale Rollen
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Vorlesung: Einführung in die Soziologie – WS 2009/010Prof. Dr. Ingrid Artus 2. Dezember 2009 Zentrale Begriffe: Institution, soziale Rolle, soziale Gruppe, Organisation
Gliederung 1. Wiederholung: Anthropologische Grundlagen des sozialen Handelns, Normen und Werte 2. Soziale Rollen 3. Organisationen
Wiederholung: Anthropologische Grundlagen des sozialen Handelns • Da der Mensch ein instinktreduziertes „Mängelwesen“ ist und sein Verhältnis zur Umwelt „von Weltoffenheit“ gekennzeichnet ist, besteht die Notwendigkeit zur Komplexitätsreduktion und Verhaltensstabilisierung. • Dies erfolgt im Rahmen von sozialem Handeln, d.h. von Handeln, das seinem Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen ist und daran in seinem Ablauf orientiert ist. • Durch seine „exzentrische Positionalität“, die Externalisierung von subjektiv gemeintem Sinn und die Schaffung und Verwendung von Symbolen „schafft“ sich der Mensch bzw. schaffen sich die Menschen die eigene soziale Wirklichkeit: Normen, Institutionen, Werte, Rollen…. entstehen. • Durch Historizität kommt es zur Objektivation sozialer Sinngebungen; im Zuge von Sozialisationsprozessen werden diese internalisiert - und zugleich zur Grundlage erneuter Prozesse der Externalisierung.
Wiederholung: Normen und Werte Wiederholung: Normen und Werte „Normen sind allgemein geltende und in ihrer Allgemeinheit verständlich mitteilbare Vorschriften für menschliches Handeln, die sich direkt oder indirekt an weit verbreiteten Wertvorstellungen orientieren und diese in die Wirklichkeit umzusetzen beabsichtigen. Normen suchen menschliches Verhalten in Situationen festzulegen, in denen es nicht schon auf andere Weise festgelegt ist. Damit schaffen sie Erwartbarkeiten. Sie werden durch Sanktionen abgesichert.“(H.P.Barth; Schlüsselbegriffe der Soziologie) Werte sind „grundlegende bewusste oder unbewusste Vorstellungen vom Wünschenswerten, die die Wahl von Handlungsarten und Handlungszielen beeinflussen. Soziokulturelle Werte als zentrale Elemente der Kultur einer Gesellschaft dienen den durch Instinktreduktion und Verhaltensunsicherheit gekennzeichneten Menschen als generelle Orientierungsstandards. (…) Je widerspruchsfreier Werte aufeinander in einem Wertesystem oder in einer Wertehierarchie bezogen sind, desto stärker ist die Integration und Stabilität der Gesellschaft.“ (Schäfers; Grundbegriffe der Soziologie)
Wiederholung: Zum Begriff der Institution Der Begriff der Institution ist ebenso zentral wie mehrdeutig: Er betrifft • jede Form von verabredeter oder eingespielter Einrichtung von Handlungsformen und –regeln sowie kultureller Selbstverständlichkeiten • relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster mit regulierender und orientierender Funktion Er ist mehrdeutig, weil a.) die Trennung zwischen Normen und Institutionen fließend ist b.) er sowohl auf einen Regelzusammenhang zielt, der für Akteure verbindlich ist als auch auf komplexe „Gebilde“ (z.B. Organisationen), die gleichsam als Akteure behandelt werden c.) in der sozialwissenschaftlichen Theorie differente Institutionenbegriffe benutzt werden
Geb. 1929 in Hamburg; Vater: SPD-Politiker 1947-1952 Studium der Philosophie und klassische Philologie in Hamburg 1952 Promotion über den „Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx“ 1952-1954 Soziologiestudium an der London School of Economics 1957-1969 Diverse Lehrstühle 1958 Homo Sociologicus 1968-1974 Mitglied des Landtages in Ba-Wü (FDP), Mitglied des FDP-Bundesvorstands, Mitglied des Bundestages; Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium; Mitglied der EG-Kommission Ab 1974 Leiter der London School of Economics und des St. Antony‘s Colleges Autor einer Vielzahl von Büchern und Aufsätzen, u.a. zu Demokratietheorie, Europäisierung, soziale Konflikte; Vorsitzender der DGS; Austritt aus der FDP (1987) Verleihung des Titels „Sir“, später Ernennung zum Lord; Mitglied des House of Lords Juni 2009 Tod in Köln; Beerdigung in London Lord Ralf Gustav Dahrendorf – (u.a.) ein Pionier der Rollentheorie
Der homo sociologicus oder: Wir spielen alle Theater • Der homo sociologicus ist – wie z.B. auch der homo oeconomicus – eine „wissenschaftliche Konstruktion“: der Mensch als Träger sozialer Rollen. • Soziale Rollen können in vielen Punkten analog zu Rollen im Theater aufgefasst werden. Sie bezeichnen • äußere Vorgaben für den Rollenträger • einen Komplex von Verhaltensweisen • Verhaltensweisen, die einen Teil eines Gesamtzusammenhangs ausmachen • Vorgaben, die vom Träger erlernt werden müssen • ein Träger kann eine Vielzahl von Rollen spielen • ABER: „Dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei, ist mehr als eine Metapher, seine Rollen sind mehr als ablegbare Masken.“„Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ (Dahrendorf 1977: 20ff.)
Eine „soziale Position“ ist… ….die Bezeichnung für „jeden Ort in einem Feld sozialer Beziehungen“ (Dahrendorf 1977: 30) … ein sozialer Ort, der sich auf eine soziale Struktur bezieht (Lexikon zur Soziologie) „Soziale Positionen sind etwas prinzipiell unabhängig vom Einzelnen denkbares.“ (Dahrendorf 1977: 30) „Soziale Positionen lassen sich als Mengen von Positionssegmenten verstehen.“ (Dahrendorf 1977: 30f.)
Soziale Position „Der Einzelne kann nicht nur, sondern muss in der Regel eine Mehrzahl von Positionen einnehmen.“ (Dahrendorf 1977: 30) „Es lässt sich vermuten, dass die Zahl der auf Einzelne entfallenden Positionen mit der Komplexität von Gesellschaften wächst.“ (ebd.) Es gibt zugeschriebene Positionen (ascribed positions) und erworbene Positionen (achieved positions). Die Mechanismen, wie soziale Positionen gesellschaftlich erworben werden können, sind Gegenstand der Theorie sozialer Ungleichheit.
Soziale Position – Soziale Rolle • „Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet.“ • „Zu jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle“ • „Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein können: einmal Ansprüche an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten), zum anderen Ansprüche an sein Aussehen und seinen „Charakter“ (Rollenattribute) (Dahrendorf 1977: 32f.)
Eine „soziale Rolle“ ist…. ….ein Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“ (R. Dahrendorf – Homo Sociologicus) …die Summe der Erwartungen, die dem Inhaber einer sozialen Position über sein Verhalten entgegengebracht werden“ (Fuchs et al. - Lexikon zur Soziologie) ….ein aus speziellen Normen bestehendes Bündel von Verhaltenserwartungen, die von einer (oder mehreren) Bezugsgruppe(n) an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen werden (H.P. Bahrdt – Schlüsselbegriffe der Soziologie)
Soziale Rollen als Zwang • „Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den Einzelnen ausgeübt wird – mag dieser als eine Fessel seiner privaten Wünsche oder als ein Halt, der ihm Sicherheit gibt, erlebt werden“. (Dahrendorf 1977: 36) • Die Einhaltung sozialer Rollennormen wird über positive oder negative Sanktionen abgesichert. • Je nach der Verbindlichkeit von Rollenanforderungen unterscheidet man Kann-Erwartungen, Soll-Erwartungen oder Muss-Erwartungen.
Kann - Soll – Muss - Erwartungen Muss- Erwartungen Rein negativ sanktioniert, „Gesetzescharakter“ Soll-Erwartungen Überwiegend negativ sanktioniert, Bei vorbildlicher Einhaltung z.T. Auch positive Sanktionen Kann-Erwartungen Positive Sanktionen, Einhaltung als Voraussetzung sozialen Aufstiegs
Bezugsgruppen und soziale Gruppen • Die Einhaltung der Rollennormen wird von Bezugsgruppen ‚überwacht‘. Dies müssen keine sozialen Gruppen im engeren Sinn sein. • Eine soziale Gruppe sind „zwei oder mehr Individuen“, deren Beziehungen untereinander „soweit als regelmäßig und zeitlich überdauernd betrachtet werden können, dass man von einer integrierten sozialen Struktur sprechen kann. (…) Zusätzliches Definitionsmerkmal ist häufig das Vorhandensein eines Bewusstseins der Zusammengehörigkeit (…) und des Unterschieds zwischen ‚Mitgliedern‘ und ‚Nicht-Mitgliedern‘ (Gruppenbewußtsein, „Wir-Gefühl“) (Fuchs et al.; Lexikon zur Soziologie)
Soziale Gruppen: Vier Merkmale • Regelmäßige Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern • Strukturierte Interaktionen im Rahmen von Statuspositionen und (häufig informellen) Rollen • Einigung auf gemeinsame Normen, Ziele und Werte • Gefühl einer gemeinsamen Identität (‚Wir-Gefühl‘)
Rollenkonflikte • Soziale Rollen sind als Mengen von Rollensegmenten zu verstehen, die sich aus den differenten Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen zusammensetzen => Interrollenkonflikte • Jedes Individuum vereinigt im Regelfall eine Vielzahl von sozialen Rollen auf sich => Intrarollenkonflikte
Rollensegmente und Intrarollenkonflikte Quelle: Arbeitsgruppe Soziologie (1988): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung, Frankfurt/New York
Role-Set und Interrollenkonflikte Quelle: Arbeitsgruppe Soziologie (1988): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung, Frankfurt/New York
Strategien des Umgangs mit Rollenkonflikten • Rollenpriorisierung • Suche nach einem abgestimmten ‚role set‘ • zeitliche/räumliche Trennung von Rollen • Handlungsverzögerung • alternierende Rollengehorsamkeit….
Soziale Rollen im Wandel der Zeit • Stärkere Veränderbarkeit sozialer Rollen; Abnahme von „ascribed positions“ zugunsten von „achieved positions“ • Zunahme sozialer Positionen und Rollen => Zunahme von Rollenkonflikten • Zunahme interkultureller Kontakte => Rollenverunsicherung • Mehr Rollenfreiheit?
Gesellschaftliche Rollen und Individualität Zwei Begriffe bezeichnen den Prozess der Aneignung gesellschaftlicher Rollenvorstellungen: Sozialisation und Internalisierung. Die Bewertung dieses Prozesses nach R.Dahrendorf – im Unterschied zu anderen Theorierichtungen: „Für Gesellschaft und Soziologie ist der Prozess der Sozialisierung stets ein Prozess der Entpersönlichung, in dem die absolute Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird“ Die Gesellschaft ist „die entfremdete Gestalt des Einzelnen“; der homo sociologicus ist „der Schatten, der seinem Urheber davongelaufen ist, um als sein Herr zurückzukehren“. Gesellschaft als System vorgegebener Positionen und Rollen wird vom Individuum als „Stütze und Quelle der Sicherheit“, aber auch als „Hemmschuh und Ärgernis“ erlebt. „Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“
Kritik an der traditionellen Rollentheorie • Überbetonung der Fremdbestimmtheit des Individuums • Zu starre Vorstellung von Rollennormen • Vernachlässigung des wechselseitigen Prozesses der Abstimmung von „Erwartungs-Erwartungen“ • Vernachlässigung des kreativen Aktes permanenter Rolleninterpretation
Organisation Organisation ist „die Ordnung von arbeitsteilig und zielgerichtet miteinander arbeitenden Personen und Gruppen (…) alle Institutionen, Gruppen und sozialen Gebilde, die bewusst auf ein Ziel hinarbeiten, dabei geplant arbeitsteilig gegliedert sind und ihre Aktivität auf Dauer eingerichtet haben.“ (Fuchs et al.: Lexikon zur Soziologie)
Organisation und Bürokratie Moderne Gesellschaften sind von einer Vielzahl bürokratisch strukturierter formaler Organisationen durchdrungen, die angesichts einer hohen Zahl beteiligter Personen und zunehmend komplexerer Aufgabenstellungen durch funktionale Spezialisierung und Arbeitsteilung differenzierte Aufgabenstellungen rational und effizient lösen.
Max Webers Idealtypus einer Bürokratie • Spezialisierung • Hierarchisch gegliederte Ordnung • Formalisierte Regeln • Unpersönlichkeit • Leistungsbezogene Entlohnung In der Realtität sind jedoch auch wichtig: • Informelle Verhaltensnormen • Paradoxe Effekte • ‚Peter-Prinzip‘ (Beförderung der Unfähigen) • Champignon-Prinzip • Protektion von Spezialwissen…..
Organisation – Begriffsabgrenzung • Organisation versus Institution: Zielgerichtetheit und Arbeitsteiligkeit versus Regelmäßigkeit • Organisation versus soziale Gruppe: Formalisierte Bürokratie versus informelles Gruppenbewußtsein • Organisationen definieren (i.d.R. hierarchisch gegliederte) organisationsinterne soziale Positionen sowie Rollennormen, inclusive Sanktionen….
Übungsfragen • Finden Sie Beispiele aus Ihrem Alltag, um die Begriffe Institution, Organisation, soziale Gruppe, Muss-/Soll-/Kann-Erwartungen, Interrollenkonflikt und Intrarollenkonflikt zu illustrieren und voneinander abzugrenzen! • Beschäftigte der Arbeitsagentur sollen Ihr Klientel, d.h. die Arbeitslosen, gleichzeitig „fördern“ und „fordern“. Welche Rollenkonflikte können dadurch entstehen? Welche Strategien des Umgangs mit diesen Konflikten sind denkbar? • Sind die katholische Kirche sowie das Christentum Institutionen, Organisationen und/oder soziale Gruppen? Diskutieren Sie und begründen Sie Ihre Ansicht! • Wie ist Dahrendorfs Begriff der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“ zu verstehen? Hat er Recht mit seiner Einschätzung? Diskutieren Sie und begründen Sie Ihre Ansicht! • Welche Beispiele kennen Sie, die die Vorstellung von rein ‚zweckrational‘ funktionierenden bürokratischen Organisationen widerlegen?
Literatur zur Vorlesung • Arbeitsgruppe Soziologie (1988): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung, Frankfurt/New York • Bahrdt, H.P. (1984): Schlüsselbegriffe der Soziologie, München • Dahrendorf, Ralf (1958/1977): Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen • Fuchs et al. (1988): Lexikon zur Soziologie, 2.Auflage, Opladen • Schäfers, B. (Hg.) (2003): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen • Schimank, U. (2001): Gruppen und Organisationen, in: Joas, H. (Hg.); Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt/New York, S.199-222