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Die Geschichte des Kaninchens • Es war einmal ein kleines, schwarzes Kaninchen, das zusammen mit einem anderen seinesgleichen als Haustierchen in einer Familie lebte. Es genoss sein unbeschwertes Dasein, denn es hatte das harte Leben in der freien Natur nie kennen gelernt. Die Menschen streichelten es und das Kaninchen war glücklich. • Eines Tages fragten sich die Menschen, warum das Tierchen wohl „Kaninchen“ heisse, woher diese Bezeichnung wohl komme, ob es schon immer als Haustier gehalten wurde oder ob es früher frei in der Natur lebte wie seine Verwandten, die Feldhasen? • Das schwarze Kaninchen erzählte den Menschen die traurige Geschichte seiner Herkunft, so wie sie, von Generation zu Generation übermittelt, auch an seine langen Ohren gelangte. < 1/14 >
Vor 120 000 Jahren waren meine Vorfahren in ganz Europa angesiedelt; sie lebten dort, wo es Wälder gab. Das Klima veränderte sich mit der Zeit aber massiv. Vom Norden her rückte die Kälte vor und die Wälder erstarrten im Eis. Meine Vorfahren waren gezwungen, gegen Süden zu ziehen. Ja, vor 12 000 Jahren waren wir in Europa nur noch im äussersten Süden Spaniens, in der Umgebung von Gibraltar, zugegen. < 2/14 >
Etwa um 900 v. Ch. kamen die Phönizier nach Spanien. Da wir einem bei ihnen einheimischen Tier ähnlich sahen, bezeichneten sie uns mit dem gleichen Namen, nämlich mit „saphan“ (Dendrohyrax arboreus). Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, der Name Spaniens käme vom Ausdruck „i saphan im“ („das Land der Saphan“), der sich im Laufe der Zeit zu „Hispania“ entwickelt hätte. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Wisst ihr aber, dass zur Zeit der Römer sogar eine Münze gestanzt wurde, auf der ein Kaninchen als Symbol für Spanien abgebildet war? < 3/14 >
Ihr wisst sicher auch, dass sich Kaninchen sehr rasch vermehren! Unsere Feinde aber sorgten dafür, dass unsere Zahl im Rahmen blieb. Nicht so war es viel später in Australien, wo wir keine Feinde hatten - aber das ist eine andere Geschichte... Leider assen die Römer gerne Kaninchenfleisch. Sie nutzten unsere Fruchtbarkeit und hielten uns entweder in Gehegen („Leporaria“ genannt) oder frei auf Inseln (z.B. auf Korsika, Maiorca, Menorca und auf Nisida bei Neapel), wo das Wasser einem Gehege gleichkam, denn wir konnten ja nicht schwimmen. < 4/14 >
Im Laufe der Zeit wurde das Klima in Europa wieder milder und angenehmer und gewährleistete unser Überleben auch wieder in nördlichen (und östlichen) Gegenden. Die Loire, die Seine und den Rhein erreichten wir schon vor 900 n. Ch., nach Ungarn brachten uns deutsche Adlige um 1400. Das wir auch England erreichten, konnte ebenfalls nur mit Hilfe der Menschen geschehen, denn wir können ja nicht schwimmen. Im Jahr 1100 eroberten die in Nordfrankreich angesiedelten Normannen England. Da sie aber unser Fleisch nicht missen wollten, brachten sie uns mit ihren Schiffen über den Ärmelkanal. < 5/14 >
Damals waren wir noch nicht ganz domestiziert. Die Franzosen hatten die gemeine Gewohnheit, uns in „Garennes“ anzusiedeln. Eine Garenne ist ein Jagdrevier, das mit Gittern oder mit Wasser abgegrenzt wird. Wir hatten keine andere Wahl als diejenige, gejagt zu werden. Diese Jagd war grausam: Wir suchten Schutz in unseren selbstgebauten Höhlen. Die Menschen aber nahmen Frettchen zu Hilfe, die uns in unserem Versteck aufspürten und uns mit ihren scharfen Bissen angriffen und zur Flucht zwangen. Am Ausgang der Höhle jedoch warteten die Menschen schon mit Fangnetzen.... Solche Jagdszenen wurden im Mittelalter dargestellt. Nehmt euch die Zeit, und schaut dieses Bild genau an. < 6/14 >
Die Menschen hatten sich noch viele andere grausame Tätigkeiten zum Zeitvertreib mit uns ausgedacht. Eine war aber besonders brutal; darüber werde ich euch nun berichten. Aus dem Mutterleib entrissen sie noch ungeborene Kaninchen (man nannte sie „Laurices“) . Könnt ihr euch das vorstellen? Es gibt Berichte aus dieser Zeit, dass dieses Fleisch besonders zart gewesen sein soll… Zeitvertreib und Genuss waren aber nicht der einzige Grund für diese grauenvolle Tat. Vor allem die Mönche assen ungeborene Kaninchen aus religiösen Gründen, als sie kein Fleisch, sondern nur Fisch essen sollten. Da ungeborene Kaninchen im Fruchtwasser leben, gewissermassen wie Fische im Wasser, betrachteten die Mönche sie als „Fische“ und rechtfertigten auf diese Weise den Genuss von Fleisch. Viele Mönche züchteten uns Kaninchen, um unsere ungeborenen Kinder essen zu können; dies hatten sie von den Bewohnern Spaniens zur Zeit der Römergelernt. < 7/14 >
Unser entfernter Verwandte, der Hase, musste nie so viel leiden wie wir. Denn ihn kann man nicht züchten: Er lebt frei. Viele Menschen denken, Kaninchen und Hasen seien dasselbe. Dies stimmt aber nicht: Während wir in grossen Familien leben, ziehen Hasen es vor, als Einzelgänger das Leben zu meistern. Wir bauen unsere Höhlen im Boden in der Erde, sie schlafen im Gras. Wir bringen nackte und blinde Kinder auf die Welt, ihre Kleinen haben schon bei der Geburt ein Fell und können sehen. Zudem haben sie grössere Ohren und Hinterbeine. Ihr seht, wie unterschiedlich wir doch sind: Deshalb haben wir auch unterschiedliche Namen: Kaninchen und Hase. < 8/14 >
Ihr wollt sicher jetzt wissen, woher meine Benennung kommt. Sie geht nicht auf die phönizische Bezeichnung „saphan“ zurück. Die Römer bezeichneten mich „cuniculus“. Anscheinend stammt dieses Wort aus einer gallischen Sprache, in der „kuniko“ ‚kleiner Hund‘ bedeutete. Dies ist übrigens gar nicht so merkwürdig, schliesslich gleichen wir einem kleinen Hund. Gleicher Meinung waren auch die Katalanen, als sie mich „catxap“ (ebenfalls ‚kleiner Hund‘) nannten, ferner die Angelsachsen, die uns „rabbit“ (‚Robbe, kleiner Seehund‘) nannten, und schliesslich die Piemontesen mit ihrem ‚perro’ (ebenfalls ‚Hund‘). Da wir in Höhlen lebten, nannten die Römer auch diese mit der Zeit „cuniculi“. Über die zeitliche Einordnung der Benennungen sind sich die Forscher nicht einig, es hätte auch umgekehrt sein können (dass zuerst die Höhle mit „ cuniculi“ bezeichnet wurde und wir erst in der Folge diesen Namen erhielten…). < 9/14 >
Dass die Benennung „Kaninchen“ aus dem Lateinischen „cuniculus“ stammt, hört man wohl heute noch deutlich. Dieses Wort wurde in viele Sprachen übernommen. Auf Kastilisch heisse ich „conejo“, auf Portugiesisch „coelho“, auf Katalanisch „conill“, auf Französisch bis ins Mittelalter „connil, connin“, auf Provenzalisch „conilh“ im späten Mittelalter auf Englisch „cony“; auf Deutsch zuerst „canin, koning“ und heute „Kaninchen“. < 10/14 >
In slawischen Ländern wurden wir als „kralik“ bezeichnet, was so viel heisst wie ‚kleine Könige’. Welche Ehre! Wisst ihr warum? Ich habe euch zuvor erzählt, dass uns deutsche Adlige in diese Gegend gebracht haben. Diese deutschen Herren nannten uns dazumal Koning. In den slawischen Ländern gab es bereits ein Wort das ähnlich klang: Mit „Koning“ bezeichneten die Slawen den König. Und da der König der Könige für die Slaven damals Karl der Grosse war, also „Kral“, nannten sie uns „kleiner Karl“ mit der Verkleinerungsform „kralik“. Obwohl wir eine königliche Namensgebung hatten, wurden wir von den Slawen trotzdem verspeist… < 11/14 >
Zum Schluss muss ich euch noch etwas Witziges erzählen. Es ist allerdings ein bisschen kompliziert, deshalb passt gut auf. Im Mittelalter nannte man uns Kaninchen in Frankreich „connil“ oder „connin“. Wie ihr bereits erfahren habt, ändern die Wörter im Laufe der Zeit ihren Klang. Diese Lautentwicklung führte in vielen Regionen Frankreichs dazu, dass das französische Wort „connin“ auf einmal genau so tönte, wie das Wort „connin“ (aus dem Lateinischen „cunnus/cunninus“), mit dem eigentlich der weibliche Geschlechtsteil bezeichnet wurde. Viele Witzbolde begannen damals obszöne Wortspiele mit diesen zwei Formen „connin“ zu formulieren, die zwar gleich tönten, aber zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen beinhalteten! Aus diesem Grund konnte man kaum noch „Kaninchen“ sagen, ohne dass nicht zweideutige Hintergedanken aufkamen. Darum musste mein Name zwangsläufig ersetzt werden! Von Nordfrankreich her breitete sich eine neue Bezeichnung aus: „lapin“: Nach 1600 brauchten alle nur noch diesen Namen. < 12/14 >
Ein Zweifel bleibt bestehen: Wie kam es zu meiner italienischen Bezeichnung „coniglio“. Man würde ja meinen, im Land der Römer, die dem Kaninchen „cuniculum“ sagten, sei dieses Wort erhalten geblieben. Wenn du die Sequenz 3.2 bearbeitet hast, weisst du bereits, dass sich im Italienischen „cuniculum“ im Laufe der Zeit zu „conicchio“ hätte entwickeln sollen: „cuniculum > coniclo > conicchio“. Dies ist aber nicht der Fall, denn man sagt „coniglio“. Es ist zu vermuten, dass die Form „coniglio“ aus dem Französischen oder dem Provenzalischen gekommen (connil, conilh) ist, denn dort entwickelte sich das lateinische „-iculum“ zu „-il oder „-ilh“, und eben nicht zu „-ikkjo“. Vielleicht war das Tier in Italien nicht mehr bekannt gewesen, und als Karl der Grosse im Jahre 774 Norditalien eroberte, brachten die Franken meine Vorfahren über die Alpen und damit auch meinen Namen… < 13/14 >
Mehr weiss ich nicht: ihr kennt nun unsere Geschichte… Ich hoffe sie hat euch gefallen! < 14/14 >