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Einführung in die Literaturwissenschaft. Themenübersicht. Literarizität : Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? Zeichen und Referenz : Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?
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Themenübersicht • Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? • Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar? • Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹? • Narration: Wie entstehen Geschichten? • Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein? • Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen sich literarische Texte auf andere Texte / andere Medien?
Prüfungsleistung Klausur, eineinhalbstündig bestehend aus: 4 Fragen, von denen 3 beantwortet werden müssen (Ort, Zeit: 1.2.2010, 16-18h, Audimax) Voraussetzung: regelmäßige Teilnahme (Anwesenheitsliste!)
Tutorien • Jana Wagner & Katrin Listemann Do 16:00-18:00 • Katrin Becker Do 8:30-10:00 • Marlen Freimuth & Florian Stolle Mi 18:00-20:00 • Juliane Heucke & Wolfgang Rump Di 18:00-20:00
Themenübersicht A Literarizität B Zeichen und Referenz C Rhetorik D Narration E Autorschaft und sprachliches Handeln F Intertextualität und Intermedialität
A »Literarizität« Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen?
A »Literarizität« Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? Das läßt sich nicht für alle Zeiten gleichermaßen beantworten. Die Differenz zwischen literarischer Sprache und nichtliterarischer Sprache ist epochal verschieden.
»Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.) Frage: Wie entsteht Sprache? Wie sahen die Anfänge der menschlichen Sprache aus??
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1698-1759) »Philosophische Betrachtungen über den Ursprung der Sprachen und die Bedeutung der Wörter« (1748) Gedankenexperiment: Angenommen ich wache auf und habe alles vergessen – was mache ich? Wie schaffe ich mir Begriffe?
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) »Ich nehme einmal an, ich hätte, obwohl im Besitz der Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten, über die ich verfüge, die Erinnerung an alle meine bisherigen Wahrnehmungen und Gedanken verloren; nach einem Schlaf, durch den ich alles vergessen hätte, würde ich mich plötzlich von Wahrnehmungen überrascht finden, wie der Zufall sie gerade liefert; meine erste Wahrnehmung wäre z.B. diejenige, die ich heute habe, wenn ich sage: ›ich sehe einen Baum‹; danach würde ich diejenige Wahrnehmung haben, die ich heute habe, wenn ich sage: ›ich sehe ein Pferd‹.« (S. 7)
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) »Sobald ich diese Wahrnehmungen hätte, würde ich auch merken, daß die eine nicht dieselbe ist wie die andere; ich würde bestrebt sein, die beiden zu unterscheiden, und da ich noch nicht über eine entwickelte Sprache verfügen würde, würde ich die Wahrnehmungen durch gewisse Zeichen unterscheiden und könnte mich etwa mit den Ausdrücken A und B begnügen, nämlich für dasselbe, was ich heute meine, wenn ich sage: ›ich sehe einen Baum‹, ›ich sehe ein Pferd‹.« (S. 7-8)
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) Modell der ursprünglichen Sprache: • sprachliche Zeichen stehen stellvertretend für Wahrnehmungen • die Beziehungen zwischen Zeichen und Wahrnehmungen ist willkürlich (A = »Baum« usw.) • Sprache dient nicht der Mitteilung, sondern der Unterscheidung von Eindrücken • es gibt eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) Komplikation 1: Beschränktheit des Gedächtnisses »Als man bei der Bildung unserer Sprachen die Wahrnehmungen benannte, überschritt die Menge der einfachen Zeichen zu sehr die Fassungskraft des Gedächtnisses und hätte ständig zur Verwirrung geführt. Daher gab man den am häufigsten vorkommenden Wahrnehmungsteilen allgemeine Zeichen und bezeichnete die anderen mit partikulären Zeichen [...]. Dadurch vermied man die Vervielfachung der einfachen Zeichen.« (S. 11)
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) Komplikation 2: Abstraktionen Was ist die allgemeine Vorstellung eines Baumes? Gehört dazu seine grüne Farbe, seine Form, seine Größe? »Wenn man sagt, man könne von dem Baum seine Grünheit wegnehmen, nicht jedoch seine Ausdehnung, so antworte ich, daß dies daran liegt, daß man in der gegebenen Sprache übereingekommen ist, dasjenige ›Baum‹ zu nennen, was, un- abhängig von seiner Grünheit, eine gewisse Form hat. Aber wenn die Sprache ein gänzlich verschiedenes Wort hätte, um einen Baum ohne Grünheit und ohne Blätter zu bezeichnen, so wäre Wegstreichen der Grünheit [...] keineswegs mehr möglich.« (S. 12) → abstrakte Begriffe sind kulturelle Konventionen
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) 3. Komplikation: Existenzbehauptungen »Nun habe ich aber eine Wahrnehmung, die zusammengesetzt ist aus der Wiederholung der vorhergehenden Wahrnehmungen [...], die ihr [...] mehr Realität zu geben scheinen [...] Diese Wiederholung und die sie begleitenden Umstände ergeben eine neue Wahrnehmung, ›ich werde jedesmal, wenn ich zu dieser Stelle gehe, einen Baum sehen‹ und schließlich: ›es gibt einen Baum‹.« Auch Existenzbehauptungen sind nach Maupertuis reine kulturelle Konventionen!
Pierre Louis Moreau de MAUPERTUIS (1748) Fazit nach Maupertuis: Je ursprungsferner eine Sprache ist, desto problematischer ist sie. Weil wir uns nur eine begrenzte Zahl von Zeichen merken können und nicht jeder einzelne Baum ein eigenes Zeichen haben kann, neigen wir zu mutwilligen Abstraktionen und können aufgrund unserer schlechten sprachlichen Angewohnheiten schließlich nicht einmal mehr sicher sein, was wirklich ist und was nicht.
Die Rolle der Dichtung im 18. Jh. Frage: Könnte die Dichtung uns nicht aus dieser Verlegenheit helfen? Ist es nicht die Funktion der poetischen Sprache, alle unzulänglichen Abstraktionen zu vermeiden und uns die Wahrheit anschaulich, klar, einleuchtend und einprägsam vor Augen zu führen? Genau diese Aufgabe hat man der Dichtung im 18. Jahrhundert gern zugeschrieben: Dichtung als »poetische Mahlerey«, als ein Denken in Bildern
Viktor Šklovskij (1893-1984) • russischer Literatur- und Kunstwissenschaftler, Schriftsteller • Mitbegründer des russischen Formalismus Aufsatz: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Ausgangsfrage: Ist Kunst Denken in Bildern?
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) zwei Grundannahmen, die nach Šklovskij FALSCH sind: • daß Literatur etwas durch Bilder unserem Verständnis nahebringen will • daß es Literatur darum geht, das Denken auf dem leichtesten Wege zu einem gewünschten Begriff zu bringen Šklovskij behauptet, daß Literatur WEDER Anschaulichkeit NOCH Eingängigkeit anstrebt – im Gegenteil!
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Grundirrtum 1: Bildlichkeit »Viele meinen also immer noch, das Denken in Bildern [...] sei das Hauptmerkmal der Dichtung. Folglich müßten diese Leute erwarten, die Geschichte dieser, wie sie sagen, ›bild- lichen‹ Kunst werde aus der Geschichte der Abwandlung des Bildes bestehen. Es erweist sich aber, daß die Bilder fast unbeweglich sind; unverändert wandern sie von Jahr- hundert zu Jahrhundert, von Land zu Land, von Dichter zu Dichter. [...] Die Bilder sind vorgegeben, und in der Dichtung gibt es weit mehr Erinnerung an Bilder als ein Denken in ihnen.« (S. 5)
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Grundirrtum 2: Eingängigkeit »Das Gesetz von der Ökonomie der schöpferischen Kräfte gehört ebenfalls zur Gruppe der allseits anerkannten Gesetze.« Es besagt: »›Der Wert eines Stils besteht namentlich darin, eine möglichst große Anzahl von Gedanken in eine möglichst kleine Anzahl von Worten zu fassen.‹« (S. 9, 11)
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) Grundirrtum 2: Eingängigkeit »Der Gedanke von der Ökonomie der Kräfte [...] ist möglicherweise richtig in einem Sonderfall der Sprache, nämlich bei der Anwendung auf die ›praktische‹ Sprache. Weil man sich über den Unterschied zwischen den Gesetzen der praktischen und der dichterischen Sprache nicht klar war, hat man diesen Gedanken auch auf letztere ausgedehnt.« (S. 11) Nach Šklovskij sind also Alltagssprache und Literatursprache voneinander zu unterscheiden!
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) ›praktische‹ Sprache ist wie alle Alltagshandlungen gekennzeichnet durch: • Routine • Automatisierung • Unaufmerksamkeit • Unbewußtheit
Tagebucheintrag von Tolstoi vom 29. Februar 1897 »Ich war dabei, in meinem Zimmer aufzuräumen, und als ich bei meinem Rundgang zum Sofa kam, konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob ich es saubergemacht hatte oder nicht. Weil diese Bewegungen gewohnt und unbewußt sind, kam ich nicht darauf und fühlte, daß es unmöglich war, sich noch daran zu erinnern. Also, wenn ich es schon saubergemacht hätte und hätte es vergessen, d.h. wenn ich unbewußt gehandelt hätte, dann wäre es ganz genau so, als wäre es nicht gewesen. Wenn [...] das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewußt verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben.«
Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) »So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. [...] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrneh-mung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« (S. 15)
Šklovskij / Maupertuis Bei Maupertuis erscheint die Sprache an ihrem Ursprung klar und einfach. Die Beziehung zwischen den Worten und Dingen ist transparent (für jeden Baum ein eigenes Zeichen). Später entfernt sich die Sprache von den Dingen, wird abstrakter und erzeugt durch ihre Konventionalität Irrtümer. Von der Poesie geht das Versprechen aus, zur Wahrheit und Klarheit des Ursprungs zurückzuführen. Bei Šklovskij gibt es keine Suche nach dem Ursprung der Sprache. Statt dessen trifft er einen Unterschied zwischen Alltagssprache und Literatur. Die ›praktische‹ Sprache vollzieht sich in Automatismen, die poetische Sprache erschwert und verlangsamt das Verstehen.
Šklovskij / Maupertuis unterschiedlicher Umgang mit kulturellen Konventionen: Bei Maupertuis geht es darum, die Sprache von Irrtümern zu reinigen und zu einer angemessenen Unterscheidung von Wahrnehmungen und zur wahren Ordnung der Dinge, wie sie gegeben sind, zurückzukehren. Es geht um das Was (›Ich sehe einen Baum‹, ›ich sehe ein Pferd‹ usw.). Bei Šklovskij geht es darum, kulturelle Konventionen zu unterbrechen, um die Art und Weise des Sagens hervorzuheben. Es geht um das Wie (»Kunst als Verfahren«).
Tolstoi, »Der Leinwandmesser« »Die Worte ›mein Pferd‹ bezogen sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und erschienen mir so seltsam wie die Worte ›meine Erde‹, ›meine Luft‹, ›mein Wasser‹. Aber diese Worte hatten auf mich einen ungeheuren Einfluß. Ich dachte unaufhörlich daran, und erst lange nach den allerverschie- densten Beziehungen zu Menschen verstand ich endlich die Bedeutung, die von den Menschen diesen seltsamen Worten zugeschrieben wird. Sie bedeuten folgendes: Die Menschen lassen sich im Leben nicht von Handlungen, sondern von Worten leiten. Sie lieben nicht so sehr die Möglichkeit, etwas zu tun oder nicht zu tun, wie die Möglichkeit, über verschie- dene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter zu reden.«
Tolstoi, »Der Leinwandmesser« »Zum Beispiel die Wörter: meiner, meine, meines, die sie von verschiedenen Dingen sagen, von Wesen und Gegenständen, sogar von Erde, von Menschen und von Pferden. Für ein und dieselbe Sache vereinbaren sie, daß nur einer sagt: mein. Und wer von der größten Anzahl von Dingen nach diesem unter ihnen ausgemachten Spiel sagt: mein, der wird von ihnen für den Glücklichsten gehalten; weshalb es so ist, weiß ich nicht, aber es ist so.«
Konsequenzen aus dem Verfahrensbegriff • Tolstois Pferd macht seine Beobachtungen, daß »Menschen über verschiedene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter reden«, weil er diese Wörter nicht versteht. • Nichtverstehen wird damit zur entscheidenden Herausforderung des literarischen Textes. • Es geht darum, nicht länger von dem auszugehen, was sich von selbst versteht. • Anstatt zu fragen: »WAS will der Autor damit sagen?« ist zu fragen: »WIE verfährt der literarische Text?«