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Vorlesung: Kindesmisshandlung ( Juni 2004) H. Neumann Uni-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im St. Josef-Hospital Bochum. Ziel der Vorlesung Einblick in Thematik der Kindesmisshandlung. Übersicht. 1. Was ist Kindesmisshandlung? 2. Beispiele für Misshandlung
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Vorlesung: Kindesmisshandlung(Juni 2004)H. Neumann Uni-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im St. Josef-Hospital Bochum Ziel der Vorlesung Einblick in Thematik der Kindesmisshandlung
Übersicht 1. Was ist Kindesmisshandlung? 2. Beispiele für Misshandlung 3. Symptomatik bei körperlicher Misshandlung 4. Diagnose und Differentialdiagnose bei Misshandlung 5. Einige Aspekte des sexuellen Missbrauchs 6. Auswirkungen von Kindesmisshandlung 7. Hilfen für misshandelte Kinder
1. Was ist Kindesmisshandlung? · körperliche Misshandlung · seelische Misshandlung · Vernachlässigung · sexueller Missbrauch
Bei der körperlichen Misshandlung führt körperliche Gewalt (oft seitens der Eltern) gegen das Kind zu körperlicher Schädigung des Kindes
Bei Kindesvernachlässigung erhält ein Kind gemessen an seinen Bedürfnissen nicht genügend Pflege, Ernährung, Schutz vor Krankheit, Aufsicht, Förderung....
Unter „seelischer Misshandlung“ könnte man (elterliches) Verhalten verstehen, das das Kind terrorisiert, es in zynischer oder sadistischer Weise herabsetzt, es überfordert, ihm das Gefühl von Ablehnung, Ungeliebtsein und eigener Wertlosigkeit vermittelt.
Sexueller Missbrauch kann (nach Engfer, 1995) verstanden werden als Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder/Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen. Dabei benutzen bekannte/verwandte (meist männliche) Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Stimulation und missbrauchen das vorhandene Macht- oder Kompetenzgefälle zum Schaden des Kindes.
Bereits 1976: Kinderschutzzentrum Berlin Umfassende Definition des Misshandlungsbegriffs
„Kindesmisshandlung ist nicht allein die isolierte gewaltsame Beeinträchtigung eines Kindes. Die Misshandlung von Kindern umfasst die Gesamtheit der Lebensbedingungen, der Handlungen und Unterlassungen, die dazu führen, dass das Recht des Kindes auf Leben, Erziehung und wirkliche Förderung beschnitten wird. Das Defizit zwischen diesen, ihren Rechten und ihrer tatsächlichen Lebenssituation macht die Gesamtheit der Kindesmisshandlungen aus.“
ist eine nicht zufällige bewusste / unbewusste gewaltsame körperliche/ seelische Schädigung, die in Familien/ Institutionen geschieht und die zu Verletzungen /Entwicklungshemmungen oder sogar zum Tod führt und die das Wohl /die Rechte eines Kindes beeinträchtigt /bedroht Kindesmisshandlung
Kempe et al (1962): „Battered Child-Syndrom“ • Ärztliche Befunde: nicht zufällig/auch nicht durch Unfall verursacht • Geschieht fast immer in einem Zusammenlebenssystem (z.B.Familie, Institution) • Gewalt gegenüber Kindern ist nicht nur Ausdruck der bewussten, sondern auch der unbewussten inneren psychischen Realität des Schädigers • V.a. durch Öffentlichkeitsarbeit und Forschungstätigkeit des Pädiaters C.H. Kempe und Mitarbeitern wurde Kindesmisshandlung in den USA rasch zu einem Gegenstand öffentlichen/wiss. Interesses
Häufigkeit von Kindesmisshandlung bzw. sexuellem Missbrauch? • Kaum sichere Angaben möglich, da sehr hohe Dunkelziffer • Schätzung: jeweils werden nur etwa 5-10% der Fälle angezeigt! (aber Schätzungen sind unsicher!) • Häufigkeitsschätzungen für alte BRD: Sexueller Missbrauch: 150.000-300.000 Fälle/Jahr Ähnlich hohe Zahl wird für schwer körperlich und seelisch misshandelte und schwer vernachlässigte Kinder angenommen
Empirisch gesicherte Aussagen zu sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung sind aber schwierig zu bekommen Polizeiliche Statistiken zeigen völlig andere Ausschnitte dieser Straftaten als sozialwissenschaftliche Dunkelfelduntersuchungen
Engfer (1995): Kriminalpolizeilich für gesamte BRD 16440 sexuelle Missbrauchsfälle bekannt • Diese Zahl ist aber sicher nicht repräsentativ • Nur 7% der Täter waren Verwandte • Aber gerade der soziale Nahbereich ist das größere Problem!!
BKA: Polizeiliche Kriminalstatistik 2003 Sexueller Missbrauch von Kindern (StGB 176, 176a, 176b) in den Jahren 1993- 2003: Durchgängig ca. 16.000 polizeilich bekannte Fälle pro Jahr
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen ganz andere Zahlen z.B. 25% der weiblichen und 8% der männlichen Befragten einer Studentengruppe von über 900 Personen berichteten retrospektiv von erfahrenen sexuellen Übergriffen
Statistik zu körperlicher Misshandlung • Polizeistatistik führt für 1992 nur 1420 Fälle von schwerer körperlicher Misshandlung auf!! (in der 80er Jahren waren es nur 1200 – 1973 noch 2033).
Demgegenüber ist bekannt, dass die Hälfte bis ein Drittel aller Eltern körperlich strafen und ca. 10 – 15% der Eltern häufiger auch schwer (z.B. Engfer 1991, Esser, 1994).
Gründe für hohe Dunkelziffer ? (1) • Jüngere Kinder können sich selbst kaum äußern. • Ältere Kinder sehen oft keine Alternative/Hilfe von außen, fürchten weitere Prügel, haben Angst, sie kämen ins Heim und die Eltern vielleicht ins Gefängnis • Abgeschlossenheit des Tatortes: Mitwisser (z.B. Nachbarn) neigen oft dazu zu schweigen (Vermeidung möglicher Unannehmlichkeiten).
Gründe für hohe Dunkelziffer ? (2) • Aber auch Ämter, Jugendbehörden oder sogar Gerichte schweigen gelegentlich aus Unkenntnis oder wenn der Tatbestand nicht zweifelsfrei gesichert ist. Dieses Zögern ist oft mitbedingt, durch die Frage, ob im Einzelfall Misshandlung, Vernachlässigung oder (entschuldbarer) Zufall vorlag.
Gründe für Dunkelziffer? (3) • Bei sexuellem Missbrauch spielt dazu noch die besondere psychische Dynamik für das Opfer eine Rolle (und seit wenigen Jahren auch eine „Gegenbewegung“ Beschuldigter und damit verbunden, erhöhte Vorsicht/ Zögern bei Strafermittlungsbehörden (s. versch. aktuelle Fernsehsendungen/ Presseberichte)
Sexueller Missbrauch alsSyndrom von Geheimhaltung... (1) • 1. Körperliche Nachweise für sexuellen Missbrauch nur in der Minderheit der Fälle • 2. Kind oder andere Personen müssen sich verbal äußern (Anklage, Geständnis) • 3. Verleugnung - äußerlich: Das Kind darf nichts sagen, es ist bedroht (Gewalt, Bestrafung) - intrapsychisch: Es gibt Eingangs- und Ausgangsrituale, die die Misshandlung als solche in der Erinnerung des Kindes „auslöschen“ Leugnung, dass Missbrauch überhaupt stattgefunden hat
...Syndrom von Geheimhaltung (2) = Anpassungssyndrom bei sexuellem Missbrauch Normalisierung bedrohlicher Lebenszusammenhänge
..Syndrom von Geheimhaltung (3) • 4. Dem Kind wird nicht geglaubt • 5. Angst von Konsequenzen der Enthüllung - für das Kind, den Misshandler, die Familie - Zuweisung von Verantwortlichkeit zum Kind!
2. Beispiele von Misshandlung und Missbrauch 1) körperliche und seelische Misshandlung 2) schwerer sexueller Missbrauch 3) Vernachlässigung: 5 Kinder einer Fam. 4) Münchhausen by proxy“-Syndrom
ExkursMünchhausen-by-Proxy-Syndrom (MbPS) (1) • Subtile Form der Kindesmisshandlung. Diagnose ist äußerst schwierig, ebenso die Umsetzung erfolgversprechender medizinisch-psychotherapeutischer-juristischer Interventionen
MbPS (2) • MbpS ist eine Sonderform artifizieller Störungen, die entscheidend durch komplexe Interaktionen zwischen Mutter, Kind und Arzt definiert ist. • (Erstbeschreibung: Meadow: Lancet, 1977)
MbPS (3) Nach Meadow: Problematik = (subtile) Sonderform der Kindesmisshandlung, bei der fürsorglich erscheinende Mütter (selten Väter) bei ihren Kindern Krankheitssymptome manipulieren und erzeugen, aktiv medizinische Hilfe suchen und zu zahllosen medizinischen Prozeduren Anlass geben
MbPS (4) MbpS kann • als Extremverhalten der Eltern aufgefasst werden, „ärztliche Hilfe“ für (über) die Symptome ihres Kindes zu erhalten • sowie als elterliche Unfähigkeit, zwischen eigenen und kindlichen Bedürfnissen zu unterscheiden
MbPS (5) • Opfer sind oft sehr junge Kinder mit Beginn im 1. LJ (keine Geschlechtsspezifität). Es gibt fast kein Symptom, keine Diagnose oder Laborabweichung, die im Zusammenhang mit MbpS nicht beschrieben worden wäre. Z.T. auch in Kombination mit objektiven Befunden (tatsächl. Erkrankungen). • Letzteres macht es schwer, überhaupt an artifizielle Symptome zu denken.
MbPS (6) • Täter sind meistens Mütter, Großmütter, Babysitter, also weibliche Personen, die die Krankheiten bei den Kindern verursachen. Sehr selten wurden auch Väter als Verursacher gefunden. Täter sind i.d.R. in medizinischen Zusammenhängen gut bewandert, z.T. mit medizinischer Ausbildung (z.B. Krankensr., Altenpflegerin...).
MbPS (7) • Charakteristischerweise sind sie immer ganz nah bei ihrem Kind (stationär mit aufgenommen, bei allen medizinischen Maßnahmen anwesend, fürsorglich erscheinend...). • Verhältnis erscheint fast symbiotisch. Jegliche Versuche, der Mutter nahe zulegen, doch mehr Zeit außerhalb der Klinik mit der übrigen Familie zu verbringen, scheitern.
MbPS (8) • Bei näherer Betrachtung der Mütter zeigen sich tiefgreifende Persönlichkeitsstörungen, geprägt von Gefühlen der Isolation, Einsamkeit, mangelnder Unterstützung. Am häufigsten finden sich depressive, hysterische (Konversionsneurose) und Borderline-Störungen bei den Müttern. Realitätswahrnehmung kann beeinträchtigt sein und wahnhafte Züge tragen.
3. Symptomatik bei körperlicher Misshandlung • ist ausgesprochen vielgestaltig: Hauptsymptome sind Blutungen, Verletzungen, mit entsprechenden Spuren, die dem Misshandlungsinstrument entsprechen oder mehr flächenhafter Art sind (oft am Kopf: Haare, Augenbereich oder an Extremitäten)
Symptomatik (2) • Verdachtsmomente sind z.B. doppelkonturierte Prügelmarken, Striemen, Brandwunden, Haardefekte (durch Reißen), Skelettschäden oder intracranielle Blutungen, v.a. wenn der Kopf bevorzugtes Misshandlungsziel war.
Während sich körperliche Misshandlung oft schon im Säuglings- und Kleinkindalter ereignet und auch seelische Misshandlung einschließt, werden Symptome der vorwiegend oder ausschließlich seelischen Misshandlung eher im Schulalter gesehen (aber natürlich hier auch körperliche Misshandlung).
Bei den misshandelnden Erwachsenen zeigt sich ein recht großer „Erfindungsreichtum“ zum Schaden der Kinder: neben Schlagen, z.B. Einsperren in dunkle Räume, Nahrungsentzug, Liebesentzug, Zwang, bestimmte unangenehme Körperhaltungen lange Zeit beizubehalten und andere oft sadistische Prozeduren.
Kindesmisshandlung ereignet sich überwiegend im Elternhaus. Täter sind nicht vermehrt, wie man oft glaubt, Stief- oder Ersatzmütter, sondern v.a. Väter. Man findet häufiger auch –wenn auch nicht ausschließlich- familiäre Hintergrundbelastungen bei den Misshandlern (z.B. sehr junge Eltern, Alkoholprobleme, Vorstrafen, Arbeitslosigkeit, zerbrechende Familien). • Dennoch wird auch in sog. Mittelschichts- oder auch Oberschichtsfamilien misshandelt!
Es sind auch häufiger Kinder Misshandlungen ausgesetzt, die abgelehnt werden, die vielleicht auch familienfern (z.B. im Heim) aufwuchsen und deren späterer Integrationsprozess in die Familie misslingt. • Verhaltensgestörte oder intelligenzgeminderte Kinder können bis zu einem gewissen Grad auch Misshandlung „provozieren“ (natürlich nicht in dem Sinne, dass sie an der Misshandlung mitschuldig sind), weil u.U. einfach strukturierte Eltern mit der Erziehung überfordert sind.
Phänomen ist auch:misshandelnde Eltern sind in hohem Maße in eigener Kindheit selbst misshandelt worden
Noch einmal möchte ich betonen: Wenn auch, statistisch gesehen, Misshandlung v.a. in niedrigeren sozialen Schichten festgestellt wird, darf man nicht übersehen, dass auch vermeintlich fürsorgliche oder auch sozial zu höheren sozialen Schichten zählende Personen misshandeln!
4. Diagnose und Differentialdiagnose • Nicht selten werden misshandelte Kinder nach Abklingen des auslösenden Affektes oder auch aus Reue/Schuldgefühl dem Arzt unter falschen Angaben zur Ursache vorgestellt.
Diagnostik (1) • In jedem Fall ist eine sorgfältige körperliche Untersuchung durchzuführen. Auch bei nur entfernt aufgetretenem Verdacht auf Misshandlung darf guter Kontrakt oder vermeintlich gutes Pflegeverhältnis nicht von der Aufklärung abhalten!! • Abhängig von der Art des Traumas können Haut-, Schädel- und Extremitätenverletzungen manchmal als Misshandlungsfolge identifiziert werden (Hämatome, Knochenschädigungen - Röntgen des Skelettsystems/des Schädels).
Diagnostik (2) • Diagnostische Verdachtsmomente können aber auch sein: Abschieben eines Kleinkindes in Kliniken oder auch sehr häufige Arzt-/Klinikvorstellungen (aus oft fraglichem oder minimalem Anlass, mit Drängen, es müsse doch etwas feststellbar sein).