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Die Migrantin als Patientin – soziokulturelle Aspekte. Martin Langer Obergurgl 2013. Migration und Gesundheit - Überblick. Wer ist ein Migrant? Was ist Migrationshintergrund? Migration in der Bevölkerungsstatistik Gibt es migrationsspezifische Krankheitsrisken?
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Die Migrantin als Patientin – soziokulturelle Aspekte Martin Langer Obergurgl 2013
Migration und Gesundheit - Überblick • Wer ist ein Migrant? Was ist Migrationshintergrund? • Migration in der Bevölkerungsstatistik • Gibt es migrationsspezifische Krankheitsrisken? • Kulturbedingte Krankheitskonzepte und ihre Bedeutung für Gyn/Gebh. • Spezifische Schwierigkeiten und Belastungen der Arzt-Patienten-Kommunikation
Migranten – Migrationshintergrund • Migranten sind eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe • ‚Migrationshintergrund‘ = sperriger, aber passender Begriff, weil bei allen Untergruppen gesundheitsrelevante Faktoren wirksam werden • Migrationshintergrund: • Arbeitsmigranten der 1. Generation • Familiennachzug • Kinder der 2.(3.) Generation • EU-Binnenmigration • Asylwerber • Flüchtlinge mit ungeklärtem/ illegalem Aufenthalt = ‚sans papiers‘
Migranten – eine heterogene GruppeJüngere Entwicklungen (nach Kentenich und Borde) • Transkulturelle Anforderungen an die • medizinische Versorgung sind Alltag geworden • Quantitativ: massive Zunahme in der • 2. Hälfte der 90er Jahre • Inhaltlich: vielschichtige ‚neue‘ Fremde • sich aufdrängende Formen von Armut und Devianz • härtere Formen von Kriminalität • ‚Pull‘ vs. ‚Push‘ - Holen von Arbeitsmigranten - Armut, Kriege in Herkunftsländern • 2. Generation: Kulturkonflikt zwischen traditionellem Elternhaus vs. permissiver Umgebungskultur
Der ‚CLUSTER‘ Migrationshintergrund • Zur Dimension ‚Migration‘ und Sprachschwierigkeiten kommen • Soziale Schicht: Emigranten kommen sehr häufig aus sozio-ökonomisch schwachen Schichten • Niedriger Bildungsgrad: schlechte/keine Beherrschung der eigenen Muttersprache in Wort und Schrift • Ländliche Herkunft: patriarchalische Wertnormen • Religion: traditioneller Islam, traditionelle Stammesreligionen • Gewalterfahrung: Krieg, Flucht, FGM, sexuelle Gewalt
Zusammensetzung von Menschen mit ‚Migrationshintergrund‘: Deutschland
Multikulturalität ist Alltag- Ö stellt knapp 1/3 der Gebärenden- die subjektive Einschätzung widerspricht der ‚objektiven‘ Zahl- Kontinent-Zuteilung: Zersplitterung vs. unzulässiger Vereinfachung? =>Vernachlässigung der soz. Schicht, der Flucht/Migrationserfahrung - Beispiele - Ex-YU: katholische Kroatin der 2. Gen. vs. muslimische Kosovo-Flüchtling - Ost-Europa: slowakische Krankenschwester vs. illegaler rumänischer Roma - Türkei: 2. Generation mit ‚Berliner Schnauze‘ vs. illiterater Anatolierin - Arab./Nordafr.: Frau eines Saudi-Diplomaten vs. irakischer Flüchtling - Asien: japanische Musikerin vs. kriegstraumatisierter Tschetschenin - Afrika: französisch sozialisierte Ivorianerin vs. beschnittene Somalierin - Andere: Frau eines amerikanischen IBM- Managers vs. Indianische Guatemaltekin
Herkunftsländer der Patientinnnennach Aufnahmediagnosen, UFK 2003
Perinatale Morbidität/MortalitätÖsterreicherinnen/Deutsche vs. Migranten Kytir/Münz: Wien 1997 Zink/Korporal: Berlin 1995 • Die Gesamtmorbidität und –mortalität der einheimischen Bevölkerung unterscheidet sich nicht von derjenigen der Migrantinnen • In jedem der 2 ‚Großkollektive‘ existieren Untergruppen mit erhöhten Inzidenzzahlen: • Ö/D: - ältere, multimorbide Schwangere; Mehrlinge nach IvF • - st.p. Mehrfachsectiones • Migranten: 1. Generation mit unmittelbarer Flucht/ • Migrationserfahrung • Traumatisierungen • Niedriges Inanspruchnahmeverhalten • Illegaler Aufenthalt
Geburtenrate und MigrationshintergrundW. Lutz, Inst. f. Demographie, ÖAW - Österreicherinnen : 1,32 Kinder / Frau • Migr.hintergrund 1. Generation: 1,87 Kinder / Frau • Migr.hintergrund 2. Generation: 1,50 Kinder / Frau
Migrationsspezifische Krankheitsfaktoren (Robert-Koch-Institut 2009)
Gesundheitsrelevante Bereiche bei kulturellen Unterschieden • Kulturelle Wertsysteme: Scham, Schande, Ehre, Gewalt • Gefühlswelten: Entwurzelung, Heimatorientierung, Integration, Ausgeschlossenheit, Diskriminierung, normale oder anormale Paranoidität • Subjektive Krankheitstheorien: Kausalattributionen • Spiritualität
Kulturelle ‚Konstruktion‘ von Krankheit • -Der subjektive Stellenwert und die praktische Bedeutung von Gesundheit im Leben von Migranten ist eher gering. • Migranten schreiben ihren Gesundheitszustand eher fatalistischen, externen Ursachen zu (‚external locus of control‘) • Traditionelle Gesundheitsvorstellungen von Migranten geraten in den Gastländern häufig in Konflikt mit den vorherrschenden „modernen“ Auffassungen • Das Gesundheitsverhalten von Migranten dürfte weniger präventiv orientiert sein und ein Handlungsbedarf erst beim Auftreten von Krankheiten gesehen werden
Kulturelle KonstruktionForts. - Für westliche Kulturen ist seit der Aufklärung die Trennung von Körper und Seele selbstverständlich diese Trennung ist in manchen anderen Kulturen nicht in gleichem Maß vorhanden, daher auch andere Symptombeschreibung => ‚Ganzkörperschmerz‘‚ ‚Mittelmeersyndrom‘ - irrationale, mystische Vorstellungen ‚verhext‘, ‚böser Blick‘
Kulturelle Konstruktion von KrankheitForts. - Im Zuge der Anpassung an unsere Kultur geht bei Migranten der komplexe Zusammenhang tradierter Krankheitsbilder verloren - häufig handelt es sich dabei um den Verlust der symbolischen Dimension der Erkrankung - = eine Art der Anpassung an die westliche Kultur
Ursachen für geringes Inanspruchnahmeverhalten • - Berührungsängste mit österreichischen Einrichtungen • Scham • Sprachbarrieren • Unkenntnis über bestehende Angebote • Diskriminierungserfahrungen, • geringes Wissen über Krankheiten sowie • unterschiedliche Krankheitsbilder.
Arzt-Patienten-Kommunikationmit Migrantinnen • Arzt-Patienten-Kommunikation ist schon innerhalb • derselben Kultur nicht von vornherein unkompliziert • - sie ist umso schwieriger bei kulturellen • Unterschieden, und zwar je weiter die andere Kultur • entfernt ist • - Diversifizierung von Migranten nimmt stark zu, • Sprachanforderungen immer vielfältiger • Für eine effektive Versorgung von Migranten muss • das Personal vielfältige, informelle • Rollenkompetenz aufbringen (Collatz) • Zufriedene ausländische Patienten ziehen andere nach, • das Patientenprofil eines Spitals/Ordination ändert sich
Therapeutisches Gespräch mit Migranten • Erwartungshaltung an die Arzt-Patienten-Beziehung: • eher paternalistisch, weniger partnerschaftlich • Partizipative Entscheidungsfindung kann als • Inkompetenz interpretiert werden • Mit Migranten müsse man als Therapeut deshalb aktiver • arbeiten, mehr fragen und die Patienten stärker leiten. • "Sie erwarten das", sagte Yilkin-Cetinkaya. • Auch Klinikdirektor Ziegenbein hat diese Haltung bei • türkischen Migranten beobachtet. So hätten Befragte einer • Studie beispielsweise gesagt: "Türkische Ärzte sagen mir, • was ich habe. Deutsche Ärzte wollen die Krankheit von mir • wissen."
2. Generation: zwischen 2 Kulturen • Türkische Väter bei der Geburt • In der Türkei gänzlich unüblich, Geburt ist Frauensache • als Zeichen der Akkulturation zunehmend auch Väter bei • der Geburt • evt. gemischt mit Traditionellem: Mutter/Schwiegermutter • der Gebärenden ebenfalls anwesend
Migrantinnen in der Notfall-Ambulanz • Erhebung 1997 Berlin (Pette et al): -- ausländische Patientin Frauenklinik insgesamt: 31,5% -- ausländische Patientinnen Notfall-Ambulanz : 45,0% -- Tageszeit: späte Abendstunden, Wochenende • Vermutete Ursachen: -- jüngeres Alter der ausländischen Bevölkerung -- Konsultationsgrund: im Zs.-hang mit einer Schwangerschaft -- schlechtere Versorgungssituation durch niedergelassene Gynäkologen -- in der Klinik wird sprachenkundigeres und offeneres Personal erwartet
Sterilitätsbehandlung bei türkischen Frauen/Paaren (Kentenich et al 2002, Berlin) • Fruchtbarkeit ist etwas Selbstverständliches für die Paare • Stellung des Paares wird u.a. an der Fruchtbarkeit = der Kinderzahl gemessen • Bei Sterilität wird das Selbstwertgefühl massiv erschüttert • Beginn der Sterilitätstherapie < 25a: türkische Frauen: 72% deutsche Frauen: 22% • Adoption als Alternative unüblich und wird mehrheitlich abgelehnt • Moderne Therapieverfahren wie IvF/ICSI werden kaum verstanden => Paare sind dieser Therapie z.T. hilflos ausgeliefert
Arzt-Patienten-Gespräch mit Migrationshintergrund Das Aufklärungsgespräch führte – im Gegenteil – zu einem Informationsverlust: So gaben vor der „Aufklärung“ 62 Prozent der 262 türkischen Patientinnen die Diagnose und 71 Prozent die Therapie richtig an, so reduzierte sich dieser Anteil nach dem Gespräch auf 55 Prozent korrekt verstandene Diagnosen und 66 Prozent richtig wiedergegebene Therapien. Bei den deutschen Patientinnen (n = 317) wurde ein solcher Effekt nicht festgestellt.
Lösungsansätze • „Verbesserungen in der bio-psycho-sozialen Betreuung von Migrantinnen sind schwierig.“ (Kentenich et al.) • Kultursensibler Umgang mit Migrantinnen darf gefordert werden, aber • Moralisieren oder gar Denunziation wegen Rassismus sind unangebracht • ‚Na dann lernt‘s halt Türkisch!‘ hilft ebensowenig wie Rückzug auf Pidgin-Deutsch • Medizinisches Personal hat legitime Bedürfnisse nach geordneten Arbeitsvorgängen • (Verständliche?!) Ungeduld bei Patientinnen mit völlig fehlenden Deutschkenntnissen trotz langem Aufenthalt in Ö
Sprach- und/oder Kulturdolmetscher Kombination aus mündlicher, schriftlicher und v.a. visueller Beratung - Graphiken, Fotos, Videos - Reduktion auf kindliches Niveau? • Professionelle Dolmetscher oder Behelfslösung (Männer, Kinder, Personal)? - bei banalen Alltagsfragen (persönliche Daten, Kontaktperson, Aufsuchungsgrund)oder im Notfall als Behelfslösung möglich - bei schweren oder irreversiblen Entscheidungen (Grav-Abbruch, Hysterektomie, Sterilisation) UNBEDINGT professioneller Dolmetsch
Zusammenfassung • Betreuung von Migrantinnen ist ein integrativer, alltäglicher Bestandteil der gynäkologisch/geburtshilflichen Arbeit • Dabei werden vom Personal vielfältige, informelle Kompetenzen des kultursensiblen Gespräches/Interaktion gefordert • Es gibt migrationsspezifische (z.B. soziale Schicht) sowie kulturspezifische Faktoren (subjektive Krankheitstheorien) der Krankheitsentstehung • Lösungen liegen in einer beiderseitigen,multimodalen Zugangsweise: verbal, Dolmetsch, illustrativ; Integration