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Verweisen statt selber regeln. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der Bezugnahme auf Tarifverträge im Arbeitsvertrag Vortrag von Tilman Anuschek Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern. Über dieses Dokument.
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Verweisen statt selber regeln 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011 Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der Bezugnahme auf Tarifverträge im Arbeitsvertrag Vortrag von Tilman Anuschek Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Über dieses Dokument Das Dokument ist in Zusammenhang mit einem Vortrag im Rahmen der 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011, veranstaltet vom Anwaltverein Stralsund, entstanden. Der Autor unterstellt das Dokument der creative-commons-Lizenz „Attribution-ShareAlike 3.0 Unported (CC BY-SA 3.0),” deren Einzelheiten hier nachzulesen sind: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de. Wegen der vielen ausführlichen Zitate aus der Rechtsprechung des BAG in den Notizen wird ergänzend vorsorglich darauf hingewiesen, dass das Bundesarbeitsgericht die freie Nutzung seiner Texte nur für nichtgewerbliche Zwecke erlaubt (vgl: http://goo.gl/cEjhr). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Der Gang der Darstellung Die praktische Bedeutung der Bezugnahmeklauseln Systematisierung der Phänomene (Klausel-Typen) Auslegungsregeln Rechtsfolgen Die Kunst der richtigen Formulierung 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Die praktische Bedeutung von Bezugnahmeklauseln In Deutschland unterliegen rund 80 % der Arbeitsverträge einem Tarifvertrag. Aber nur bei rund 20 % der Arbeitsverträge liegt eine direkte Tarifbindung vor. so Schliemann, ZTR 2004, 502 „Die Auslegung und Wirkung von Bezugnahmeklauseln dürfte aktuell die für die Praxis wichtigste und strittigste Frage des Tarifrechts überhaupt sein.“ Prof. Dr. Henssler in: FS Wissmann 2005, 133 (134). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Wieso sind die Bezugnahmeklauseln so beliebt? Der tarifgebundene Arbeitgeber kann durch eine Gleichstellungsabrede verhindern, dass alle Arbeitnehmer in die Gewerkschaft eintreten. Der nicht tarifgebundene Arbeitgeber kann durch die „dynamische Bezugnahme“ auf den Branchentarifvertrag Arbeitsbedingungen bieten wie in den tarifgebunden Betrieben. Der kleine Arbeitgeber ohne große Personalverwaltung kann sich die riskante Ausformulierung eigener Arbeitsverträge ersparen (Vermeidung lückenhafter Arbeitsverträge). Alle Arbeitgeber können durch die umfassende Anwendung von Bezugnahmeklauseln auf einfache Weise die Arbeitsbedingungen vereinheitlichen. Die Bezugnahme auf Entgelttarifverträge bürgt für eine gewisse Einkommensdynamik und kann daher die in Deutschland verbotenen Lohnindexvereinbarungen ersetzen. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklauseln und Rechtsquellenlehre 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklauseln und Rechtsquellenlehre Es gehört zum Alltag des Arbeitslebens, dass sich unterschiedliche aber themengleiche Regelungen auf verschiedenen Ebenen finden. Dazu gibt es Konfliktlösungsregeln. Vertikale Konfliktlösungsregeln Die höher stehende Rechtsquelle ist stärker als die darunter stehende Rechtsquelle (Rangprinzip – „Ober schlägt Unter“) Ausnahme: Eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung setzt sich stets durch (Günstigkeitsprinzip). Horizontale Konfliktlösungsregeln Bei mehreren in Betracht kommenden Tarifverträgen, gilt der Tarifvertrag, der am besten auf die konkreten betrieblichen Verhältnisse zugeschnitten ist (insb. FirmenTV geht vor BranchenTV) Die jüngere Regelung geht der älteren vor (Ablöseprinzip). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Praktische Vielfalt – Einheitliche Rechtsprechung Die Vertragsgestaltung in der betrieblichen Praxis ist vielfältig und unübersichtlich. Die Ordnung im dem Chaos wird von der Rechtsprechung durch drei Maßnahmen hergestellt: Die in der Realität vorkommenden Bezugnahmeklauseln werden zu einigen wenigen Klausel-Typen zusammengefasst. Durch „Auslegungs-Regeln“wird dafür gesorgt, dass sich die vielfältigen Formulierungen der Praxis relativ einfach einem der anerkannten Typen zuordnen lassen. Jeder Klausel-Typ wird mit einem bestimmten Sinn verbunden; man könnte auch sagen, jeder Klausel-Typ hat seine eigenen Rechtsfolgen. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Die Klausel-Typen – Die Vier-Schubladen-Welt Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gibt es nur vier verschiedene Klausel-Typen Die statische Verweisung auf einen bestimmten Tarifvertrag; Die ernst gemeinte („konstitutive“ bzw. „unbedingte“) dynamische Verweisung auf ein Tarifwerk / Tarifvertrag; Die Gleichstellungsabrede; Die Tarifwechselklausel („große dynamische Verweisung“). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Statische Verweisung Die statische Verweisung auf einen bestimmten Tarifvertrag wirft wenig Probleme auf. Mit ihr binden sich die Parteien des Arbeitsvertrages statisch an einen bestimmten schon vorhandenen nach Datum bestimmten Tarifvertrag. Beispiel: „Die Vergütung richtet sich nach dem Entgelttarifvertrag für den Einzelhandel Mecklenburg-Vorpommern für das Jahr 2010.“ 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Kleine dynamische Verweisung im Sinne einer Gleichstellungsabrede Am häufigsten kommt in der Praxis die sog. „kleine dynamische Verweisung“ vor. Sie wirft wegen ihres unklaren Aussagegehalts auch die meisten Probleme auf. Wenn sie als Gleichstellungsabrede gemeint ist, wollen die Parteien des Arbeitsvertrages damit den Arbeitnehmer so stellen, wie wenn er Mitglied der Gewerkschaft wäre. Beispiel (traditionelle Formulierung): „Die Vergütung richtet sich nach dem Entgelttarifvertrag für den Einzelhandel Mecklenburg-Vorpommern in seiner jeweils geltenden Fassung.“ Achtung: So darf heute nicht mehr formuliert werden (siehe unten)!! 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Kleine dynamische Verweisung im Sinne einer ernsthaften Bindung an das Tarifwerk Am häufigsten kommt in der Praxis die sog. „kleine dynamische Verweisung“ vor. Sie wirft wegen ihres unklaren Aussagegehalts auch die meisten Probleme auf. Wenn sie als echte („konstitutive“ bzw. „unbedingte“) dynamische Bezugnahme gemeint ist, wollen die Parteien des Arbeitsvertrages damit das Arbeitsverhältnis dauerhaft mit dem Tarifwerk verknüpfen. Beispiel: „Die Vergütung richtet sich nach dem Entgelttarifvertrag für den Einzelhandel Mecklenburg-Vorpommern in seiner jeweils geltenden Fassung.“ 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Große dynamische Verweisung im Sinne einer Tarifwechselklausel Wenn immer nur die Tarifverträge gelten sollen, an die der Arbeitgeber gerade gebunden ist einschließlich möglicher ganz anderer Tarifwerke in Folge Branchenwechsel oder in Folge des Wechsels des Arbeitgeberverbandes etc., spricht man von einer „großen dynamischen Verweisung“ oder etwas genauer von einer „Tarifwechselklausel“. Beispiel: „Die Vergütung richtet sich nach dem Entgelttarifvertrag für den Einzelhandel Mecklenburg-Vorpommern oder nach anderen Entgelttarifverträgen, an die der Arbeitgeber zukünftig gebunden sein wird.“ 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Was kommt in welche Schublade? Die Einordnung der bunten Realität in die beschränkte Welt der 4 Schubladen erfolgt durch das Erkenntnismittel der Auslegung. Es gelten die allgemeinen Grundsätze der Vertragsauslegung. Das Bundesarbeitsgericht versucht uns das Leben durch ein paar Auslegungsregeln einfacher zu machen. Beachte: Diese Auslegungsregeln haben sich in den letzten 10 Jahren signifikant verändert. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Der allgemeine Auslegungsmaßstab Die Bezugnahmeklausel „ist als Allgemeine Geschäftsbedingung nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden wird, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zu Grunde zu legen sind. Ansatzpunkt für die Auslegung allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Von Bedeutung für das Auslegungsergebnis können ferner der von den Vertragsparteien verfolgte Regelungszweck sowie die der jeweils anderen Seite erkennbare Interessenlage der Beteiligten sein ...“ BAG 22.09.2010 – 4 AZR 98/09 – nv 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Die „alten“ Auslegungsregeln Früher (also ungefähr bis zum Ende des letzten Jahrhunderts) gab es drei Auslegungsregeln: Bezugnahmen auf den Tarifvertrag sind im Regelfall als dynamische Bezugnahmen zu verstehen; Dynamische Bezugnahmen sind im Regelfall als Gleichstellungsabrede zu verstehen. Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen tarifgebundener Arbeitnehmer haben nur „deklaratorische“ Bedeutung (= nicht sinntragendes nutzloses Beiwerk im Vertragstext) 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Die „neuen“ Auslegungsregeln In den letzten 10 Jahren sind daraus fünf Auslegungsregeln geworden: Bezugnahmen auf den Tarifvertrag sind im Regelfall als dynamische Bezugnahmen zu verstehen (wie bisher); Dynamische Bezugnahmen sind im Regelfall nicht als Gleichstellungsabrede zu verstehen (völlig verändert); Dynamische Bezugnahmen sind nur noch dann Gleichstellungsabreden, wenn sie in Altverträgen (Abschluss vor 2002) vorkommen (Übergangsregelung); Dynamische Bezugnahmen sind im Zweifel nicht als Tarifwechselklauseln zu verstehen (ganz neue Regel). Dynamische Bezugnahmeklauseln sind auch dann ernst zu nehmen, wenn sie im Arbeitsvertrag tarifgebundener Arbeitnehmer vorkommen (völlig verändert). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Die Haupteffekte der neuen Auslegungsregeln Die neuen Auslegungsregeln haben drei Haupteffekte: Die dynamische Bezugnahmeklausel wird heute im Regelfall als eine echte ernst gemeinte „unbedingte“ Anbindung an den Tarifvertrag verstanden, die unabhängig von der eigenen Tarifbindung des Arbeitgebers ist und die Potential für eine „Ewigkeitsgarantie“ (Henssler) hat; Diese Grundregel gilt auch für Arbeitsverträge von tarifgebundenen Arbeitnehmern; Die aus der Sicht der Arbeitnehmer häufig völlig unkalkulierbare Tarifwechselklausel wird klein geredet. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Der Problemfall: Die unsauber formulierte kleine dynamische Bezugnahmeklausel „Nicht verbandlich organisierte Arbeitgeber sollten die Verwendung kleiner dynamischer Klauseln daher unbedingt vermeiden. Sie entziehen dem Arbeitgeber nahezu jede Möglichkeit, sich von der Tarifentwicklung abzukoppeln und wirken damit rigider als die Verbandsmitgliedschaft selbst. Aus anwaltlicher Sicht wäre eine entsprechende Gestaltung der Bezugnahmeklausel regelmäßig ein grober Beratungungsfehler gegenüber dem Arbeitgeber.“ Prof. Dr. Henssler in: FS Wissmann 2005, 133 (134). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Alles ist Gleichstellungsabrede (alte Sicht) BAG 26.09.2001 – 4 AZR 544/00 Sachverhalt: Die Arbeitnehmerin ist Angestellte in der Wohnungswirtschaft. Ihre Arbeitgeberin war lange Jahre tarifgebunden. Im Arbeitsvertrag heißt es demnach auch: „Soweit nicht abweichend geregelt, gelten … die tarifvertraglichen Bestimmungen für die Angestellten in der Wohnungswirtschaft … in der jeweils geltenden Fassung …“ – Arbeitgeber tritt zu Ende 1998 aus dem Arbeitgeberverband aus und gibt die Tariferhöhung 1999 daher nicht mehr weiter. – Arbeitnehmerin klagt diese ein und verliert vor dem BAG. Kernsatz: „[26] Eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die einschlägigen Tarifverträge in einem vom tarifgebundenen Arbeitgeber vorformulierten Vertrag ist typischerweise als Gleichstellungsabrede zu verstehen. Eine abweichende Auslegung der Klausel als "feste" Bezugnahme in dem Sinne, daß die Anwendbarkeit der Tarifverträge in der jeweiligen Fassung unabhängig von für deren normative Geltung relevanten Veränderungen erfolgen soll, ist nur gerechtfertigt, wenn das in der Vereinbarung seinen Ausdruck gefunden hat oder sonstige Umstände dafür sprechen.“ 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Alles ist Gleichstellungsabrede (alte Sicht) Ist der Arbeitgeber tarifgebunden, wurde die dynamische Bezugnahmeklausel früher immer als eine sog. Gleichstellungsabrede angesehen. – Bessere Bezeichnung: Widerspiegelungszweck der Bezugnahmeklausel. Der Arbeitnehmer sollte also immer so gestellt werden, wie die Arbeitnehmer, die der direkten Tarifbindung kraft Mitgliedschaft unterliegen. Die Klausel sollte letztlich nur die fehlende Tarifbindung des Arbeitnehmers ersetzen. Diese Sichtweise ist durch das BAG mit der Entscheidung vom 14.12.2005 (4 AZR 536/04) aufgegeben worden und wird aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nur noch auf Arbeitsverträge angewendet, die vor dem 1. Januar 2002 abgeschlossen wurden. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Gleichstellungsabrede „Eine arbeitsvertragliche Klausel, die ihrem Wortlaut nach ohne Einschränkung auf bestimmte Tarifverträge eines konkret bezeichneten Gewerbes in ihrer jeweiligen Fassung verweist, ist im Regelfall dahingehend auszulegen, dass die Tarifverträge gerade dieses Gewerbes in der jeweiligen Fassung zur Anwendung kommen sollenund dass diese Anwendung nicht von Faktoren abhängt, die nicht im Vertrag genannt oder sonst für beide Parteien in vergleichbarer Weise ersichtlich zur Voraussetzung gemacht worden sind. Etwaige Motive der Erklärenden haben außer Betracht zu bleiben, soweit sie nicht im Wortlaut oder in sonstiger, für die Gegenseite hinreichend deutlich erkennbarer Weise ihren Niederschlag gefunden haben. Kommt der Wille des Erklärenden nicht oder nicht vollständig zum Ausdruck, gehört dies zu dessen Risikobereich.“ BAG 22.09.2010 – 4 AZR 98/09 – nv BAG 18.04.2007 – 4 AZR 652/05 – und BAG 14.12.2005 – 4 AZR 536/04 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Keine Gleichstellungsabrede bei Verweis auf örtlich fremden Tarifvertrag BAG 21.10.2009 - 4 AZR 396/08 Sachverhalt: Bundesweit tätiges Unternehmen mit Sitz in Hessen vereinbart mit einem Arbeitnehmer für einen Betrieb in NRW: „Alle weiteren, das Arbeitsverhältnis betreffenden Punkte richten sich nach den jeweils gültigen Bestimmungen des Tarifvertrages der Hessischen Metallindustrie.“ Später tritt Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband aus. Arbeitnehmer klagt Tariferhöhungen ein. BAG: Der Arbeitnehmer hat Recht bekommen. – Zitat: Eine „Gleichstellung“ mit Arbeitnehmern, die unter tariflichen Bedingungen beschäftigt sind, die für den Beschäftigungsbetrieb des Arbeitgebers auch bei beiderseitiger Tarifgebundenheit keine Geltung beanspruchen, ist keine Gleichstellung mehr, sondern eine konstitutive Verweisung auf die tariflichen Arbeitsbedingungen in betriebsfremden Arbeitsverhältnissen, die das „Privileg“ der Auslegung als Gleichstellungsabrede für sich nicht in Anspruch nehmen kann. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Im Zweifel ist es keine Tarifwechselklausel (1) BAG 30.08.2000 – 4 AZR 581/99: Sachverhalt: Alt-Arbeitgeber hat Klinik betrieben und war an TV Privatkrankenanstalten gebunden. Arbeitnehmerin ist Küchenhilfe. Im Arbeitsvertrag heißt es: „Im übrigen gelten für das Arbeitsverhältnis der Tarifvertrag für Arbeiter in Privatkrankenanstalten vom 11.12.89 und die diesen Tarifvertrag ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge.“ Alt-Arbeitgeber gliedert die Kantine aus. Betriebserwerber ist der Neu-Arbeitgeber, der schon immer Mitglied in der Hotel- und Gaststätteninnung Berlin und Umgebung e.V. war. Neuarbeitgeber bezahlt Arbeitnehmerin nur noch nach Hotel- und Gaststättentarif. Dadurch sinkt das Einkommen der Klägerin von rund 4.000 DM auf rund 2.000 DM brutto monatlich (!). – Die Arbeitnehmerin verlangt Fortführung der alten Vergütung. Gründe: Die Klage war erfolgreich. Keine Entgeltreduzierung durch Bezugnahmeklausel, da es keine Tarifwechselklausel sei. Keine Entgeltreduzierung nach § 613a Absatz 1 Satz 3 BGB, da keine kongruente Tarifbindung vorliege. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
BAG 30.08.2000 – 4 AZR 581/99 Textauszug zur Tarifwechselklausel: „[21] Regelmäßig erschöpft sich der Gehalt einer auf einen bestimmten Tarifvertrag oder ein bestimmtes Tarifvertragswerk verweisenden Gleichstellungsvereinbarung darin, daß das Arbeitsverhältnis den genannten Tarifverträgen in der jeweils gültigen Fassung einschließlich etwaiger Ergänzungen unterstellt wird, soweit und solange der Arbeitgeber daran gebunden ist. Dagegen ist mit einer Gleichstellungsabrede als solcher nicht zwingend die Rechtsfolge eines Tarifwechsels verbunden, wenn der Arbeitgeber durch Änderung des Betriebszwecks, sei es mit oder ohne rechtsgeschäftlichen Übergang eines Betriebes oder Betriebsteiles, die zwingende und unmittelbare Geltung des bisherigen Tarifvertrages beendet … und einem nunmehr für ihn fachlich zuständigen Verband beitritt, der seinerseits einen "einschlägigen" Tarifvertrag abgeschlossen hat. Denn der neue Tarifvertrag gilt in diesen Fällen auch für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer nicht, wenn keine kongruente Tarifgebundenheit besteht.“ 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Im Zweifel ist es keine Tarifwechselklausel (2) Sachverhalt: Arbeitgeber (Kindereinrichtung) war früher Mitglied im KAV. Im Arbeitsverhältnis zur Klägerin gibt es eine dynamische Bezugnahme auf den BAT („Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem BAT-O … und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen sowie nach den für Angestellte des Arbeitgebers im Gebiet nach Art. 3 des Einigungsvertrages jeweils geltenden sonstigen Regelungen“). Später wechselt der Arbeitgeber zu einem Verband (PATT), der mit einer Nicht-DGB-Gewerkschaft Tarifverträge abschließt. Arbeitgeber rechnet jetzt nach PATT-Tarif ab. Arbeitnehmerin klagt die Differenz ein und gewinnt beim BAG. BAG 22.10.2008 (4 AZR 784/07): „ Die Bezugnahme auf das Tarifwerk einer bestimmten Branche kann über ihren Wortlaut hinaus nur dann als große dynamische Verweisung - Bezugnahme auf den jeweils für den Betrieb fachlich bzw. betrieblich geltenden Tarifvertrag - ausgelegt werden, wenn sich dies aus besonderen Umständen ergibt“ 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Weitere ergänzende Auslegungsregeln Zu den vorgestellten 5 Auslegungsregeln gibt es zwei weitere Ergänzungen. Im Falle der Tarifsukzession (z.B. BAT wird durch TVöD abgelöst) kann man, wenn in der Bezugnahmeklausel die Wendung „… oder die diese ersetzenden Tarifverträge“ fehlt, im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung diesen fehlenden Klauselteil fiktiv einbauen. Verweist die Klausel nur auf Branchentarife besteht die Neigung, einen späteren FirmenTV mit der Gewerkschaft des BranchenTV als davon erfasst anzusehen. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Anwendung der dynamischen Klausel-Typen auf typische Problemlagen Es geht um Verbandaustritt / Verbandswechsel Betriebsübergang Bezugnahme auf Branche und (schlechterer) FirmenTV Mehrfache Tarifbindung des Arbeitgebers 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklauseln und Verbandsaustritt Hier kurz der Überblick Bei statischer Verweisung ändert sich nach dem Verbandsaustritt nichts. Es bleibt bei der Verweisung auf den TV; Bei Gleichstellungsabrede bleibt es bei dem zuletzt gültigen Tarifwerk; die Dynamik fällt weg; das selbe gilt für die Tarifwechselklausel; Bei „unbedingter Dynamik“ wirkt sich der Verbandsaustritt nicht aus. Die Dynamik bleibt erhalten; 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Verbandsaustritt – Was gilt gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern? Wenn im Arbeitsverhältnis bisher direkte Tarifbindung gegeben war, gilt nach dem Verbandsaustritt Folgendes: Der Arbeitgeber bleibt an alle Tarifverträge, die während oder vor seiner Mitgliedschaft abgeschlossen wurden unmittelbar und zwingend gebunden (sog. Nachgeltung nach § Absatz 3 TVG). Gehen diese Tarifverträge durch Neuabschluss o.ä. unter, gelten sie (auf ewig) im Wege der Nachwirkung (§ 4 Absatz 5 TVG) im Arbeitsverhältnis weiter. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Verbandsaustritt bei Gleichstellungsabrede BAG 19.03.2003 – 4 AZR 331/02 – NZA 2003, 1207 Vorgehend ArbG Stralsund, 18.12.2001 – 4 Ca 418/01 Vorgehend Landesarbeitsgericht MV 15.04.2002 – 2 Sa 48/02 Sachverhalt: Kommunale Klinik mit eigener Rechtspersönlichkeit, Mitglied im KAV, stellt Krankenpfleger ein mit dynamischer Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag. Später tritt Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband aus. Arbeitnehmer klagt die nächsten Gehaltserhöhungen nach BAT ein. Gründe: Das BAG hat dem Kläger nicht Recht gegeben (anders noch die Vorinstanzen). Die Bezugnahme habe zwar nicht nur deklaratorische Bedeutung, sie habe aber nur den Sinn der Gleichstellung. Da auch Gewerkschaftsmitglieder nicht mehr an der Tarifentwicklung teilnehmen, gelte das auch für Außenseiter mit Bezugnahmeklausel. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Verbandsaustritt und „unbedingte“ dynamische Bezugnahme BAG 18.04.2007 - 4 AZR 652/05 – NZA 2007, 965 Sachverhalt: Arbeitgeber ist ein DRK-Kreisverband, der Mitglied in der DRK-Tarifgemeinschaft ist. Arbeitnehmerin ist Mitglied ver.di. Ver.di und die Tarifgemeinschaft DRK schließen regelmäßig Tarifverträge. Im Arbeitsvertrag der Parteien – zuletzt neu aufgesetzt 2002 – werden die Tarifverträge der DRK-Tarifgemeinschaft in Bezug genommen. Der Arbeitgeber tritt zum 31.03.2003 aus der Tarifgemeinschaft aus. Im Herbst einigt man sich dort (mal wieder) auf die Übernahme der Entgelterhöhungen aus dem BAT-Bereich. – Arbeitgeber will nicht mehr erhöhen, da er ja ausgetreten sei. Klägerin klagt Differenzlohn ein und gewinnt beim BAG. Leitsatz: Eine einzelvertraglich vereinbarte dynamische Bezugnahme auf einen bestimmten Tarifvertrag ist jedenfalls dann, wenn eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an den in Bezug genommenen Tarifvertrag nicht in einer für den Arbeitnehmer erkennbaren Weise zur auflösenden Bedingung der Vereinbarung gemacht worden ist, eine konstitutive Verweisungsklausel, die durch einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers oder einen sonstigen Wegfall seiner Tarifgebundenheit nicht berührt wird (“unbedingte zeitdynamische Verweisung”). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Verbandsaustritt und „unbedingte“ Bezugnahme – Beispiel 2 BAG 22.10.2008 – 4 AZR 793/07 – Der Fall: Der Altarbeitgeber war nicht tarifgebunden. Der Arbeitsvertrag sieht vor: „Auf das Arbeitsverhältnis finden die jeweils geltenden tariflichen Bestimmungen für die metallverarbeitenden Industrie im Lande NRW Anwendung.“ – Der Neuarbeitgeber nach Betriebsübergang war zunächst tarifgebunden und will nach seinem Verbandsaustritt 2005 die Bezugnahmeklausel daher für sich als bloße Gleichstellungsabrede ansehen. Gründe:Das BAG hat dem Arbeitnehmer Recht gegeben. Die ursprüngliche Klausel sei – schon nach alter Rechtsprechung (!) – als konstitutive Verweisung anzusehen, da der Vorarbeitgeber nicht tarifgebunden gewesen sei. Daran habe sich durch die Tarifbindung des Neuarbeitgebers nichts geändert. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklausel und Verbandsaustritt – Das Hochreckturnen BAG 22.04.2009 – 4 ABR 14/08 – NZA 2009, 1286 Der Fall: Der Betrieb ist eine Klinik, die ehemals von der LVA betrieben wurde. 1999 ist die Klink nach § 613a BGB auf die Arbeitgeberin übergegangen. In einem Personalüberleitungsvertrag (PÜV) dazu hat sich die Arbeitgeberin verpflichtet, BAT (VkA) auf die Arbeitsverhältnisse anzuwenden. Arbeitgeberin ist dann 1999 in den KAV eingetreten und zum Ende 2004 wieder ausgetreten. Zwischen 1999 und 2004 neu eingetretene Arbeitnehmer haben im Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf BAT (VkA) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen stehen. Gegen Ende 2005 kommt der Betriebsrat und verlangt von der Arbeitgeberin, ihn bei der anstehenden Überleitung in den TVöD (VkA) – Stichtag ist Oktober 2005 – zu beteiligen. Wird der Betriebsrat beim BAG Recht bekommen haben? 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklausel und Verbandsaustritt – Das Hochreckturnen Das Hochreckturnen – Die Lösung: Die Vorinstanzen haben den Antrag des Betriebsrats zurückgewiesen, da nicht erkennbar sei, wie es zur Geltung des TVöD gekommen sein sollte. Das BAG sagt, alles falsch und weist zurück. Für die Arbeitnehmer, die zwischen Januar 2002 und Ende 2004 neu eingetreten sind, gelte TVöD schon aufgrund der Bezugnahmeklausel, da der TVöD den BAT „ersetze“ („Tarifsukzession“). Für die vor 1999 eingestellten Arbeitnehmer müsse man erst mal prüfen, wie deren Bezugnahmeklausel auszulegen sei, da nicht selbstverständlich sei, dass die LVA als Vorarbeitgeber unmittelbar an Tarifverträge gebunden sei. Die entsprechende Tarifgemeinschaft gebe es jedenfalls erst sei 1983. Und auch die Arbeitnehmer, die unter den Personalüberleitungsvertrag (PÜV) fallen, könnten sich noch Hoffnungen machen (dazu nächste Folie) 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklausel und Verbandsaustritt – Das Hochreckturnen Die Lösung (Fortsetzung): Was gilt für die Arbeitnehmer, die 1999 vom PÜV begleitet übernommen wurden? Es sei ja richtig, dass der PÜV nicht bindend die Geltung des BAT „und den sie ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen“ vorschreiben könne, da das ein unzulässiger Vertrag zu Lasten Dritter sei, da ja die Tarifentwicklung auch mal zum Schlechteren ausschlagen könne. Aber: Man könne den PÜV ja auch dahin verstehen, dass er dem Arbeitnehmer nur die Option gebe, sich freiwillig an die erwähnten Tarifverträge zu binden. Das sei zulässig und sei hier möglicherweise auch konkludent erfolgt; daher müsse man die PÜV-Klausel näher auslegen. Außerdem solle das LAG prüfen, ob nicht durch die Umgruppierungen 1999 auf den BAT (VkA) eine betriebliche Übung auf Anwendung des BAT entstanden sei (diese müsse dann näher darauf untersucht werden, ob sie im Sinne einer Gleichstellung oder im Sinne einer echten Bindung zu verstehen sei). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahmeklausel und Betriebsübergang Gang der Darstellung Verhältnisse bei direkter Tarifbindung des Arbeitnehmers Verhältnisse bei Inbezugnahme des Tarifwerks 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Betriebsübergang bei kollektiver Tarifbindung Ist der Betriebserwerber (Neuarbeitgeber) an das selbe Tarifwerk gebunden wie der Betriebsveräußerer (Altarbeitgeber), ändern sich die Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers mit direkter Tarifgeltung kraft Mitgliedschaft gar nicht. – Das ergibt sich aus Tarifvertragsrecht und hat mit § 613a Absatz 1 BGB nichts zu tun (BAG 29.08.2001 – 4 AZR 332/00). Ist der neue Arbeitgeber an andere Tarifverträge gebunden, die aber auch von der Gewerkschaft des Arbeitnehmers abgeschlossen wurden (sog. kongruente Tarifbindung), gelten die Arbeitsbedingungen aus den neuen Tarifverträgen unmittelbar und sofort nach dem BÜ (§ 613a Absatz 1 Satz 3 BGB) und zwar unabhängig davon, ob sie besser oder schlechter sind. In allen andere Fällen gilt das Tarifrecht aus der Zeit beim Altarbeitgebers als Vertragsrecht weiter (§ 613a Absatz 1 Satz 2 BGB). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Betriebsübergang bei Bezugnahme auf TV Vorab wieder der Überblick Bei statischer Verweisung auf einen TV bleibt es bei der Geltung dieses TV; TV-Konflikte werden nach dem Günstigkeitsprinzip entschieden. Bei echter Gleichstellungsabrede gelten die alten Tarifrechte weiter, eingefroren auf den Zeitpunkt des BÜ. Bei echter kleiner dynamischer Verweisung bleibt die dynamische Bindung an das verabredete Tarifwerk bestehen. TV-Konflikte sind nach dem Günstigkeitsprinzip aufzulösen. Bei einer Tarifwechselklausel hört die Geltung der alten TV auf und es gelten nur noch die neuen Tarifverträge. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Betriebsübergang mit Branchenwechsel BAG 29.08.2007 – 4 AZR 767/06 Sachverhalt: Arbeitnehmerin ist als Reinigungskraft 1972 in die städtischen Klinik (seinerzeit tarifgebunden) eingetreten. Die Bezugnahmeklausel lautet: „Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach … BMT-G II … in der jeweils geltenden Fassung. Das gleiche gilt für die an [dessen] Stelle tretenden Tarifverträge. Daneben finden die für den Bereich des Arbeitgebers jeweils in Kraft befindlichen sonstigen Tarifverträge Anwendung …” Später tritt Arbeitnehmerin ver.di bei. Noch später wird die Reinigungsabteilung an ein Unternehmen des Reinigungsgewerbes im Wege eines Betriebsteilübergangs abgegeben. Dort gilt ein (schlechterer) allgemeinverbindlicher Tarifvertrag, nachdem nunmehr abgerechnet wird. Arbeitnehmerin verlangt Fortzahlung BMT-G und bekommt beim BAG Recht. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
BAG 29.08.2007 – 4 AZR 767/06 – Lösung BAG sagt, Bezugnahmeklausel sei keine Tarifwechselklausel (nichts Neues), sie verweise daher auch nach BÜ auf BMT-G (allerdings nur noch statisch, da der neue Arbeitgeber nicht mehr an BMT-G gebunden, es ist ja eine Gleichstellungsabrede). Widersprüche zwischen Gebäudereiniger TV (AV) und BMT-G müssten nach Günstigkeitsprinzip geklärt werden, da keine Konkurrenz auf normativer Ebene; Eine analoge Anwendung von § 613a Absatz 1 Satz 3 BGB scheide aus; diese Vorschrift könne nur für ehemals normativ wirkende Normen gelten. An allem ändere sich nichts dadurch, dass die Klägerin kurz vor dem BÜ in die Gewerkschaft ver.di eingetreten sei. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahme auf Branche und schlechterer Firmentarifvertrag Insbesondere nicht tarifgebundene Arbeitgeber beziehen sich in den Bezugnahmeklauseln häufig auf die Branchentarifverträge. Heute, wo man dem Wortlaut wieder mehr Bedeutung beimisst, stellt sich dann die Frage, ob spätere Firmentarifverträge (z.B. Sanierungstarifverträge) von der Bezugnahmeklausel überhaupt erfasst werden. Auch hier hat sich der Standpunkt der Rechtsprechung geändert. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahme auf Branche und schlechterer FirmenTV (1) BAG 23.03.2005 – 4 AZR 203/04 – NZA 2005, 1003(dazu: Bepler, FS AG Arbeitsrecht Anwaltverein 2005, S. 791) Sachverhalt: Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind nicht tarifgebunden. Im Arbeitsvertrag gibt es eine dynamische Verweisung auf das Branchentarifwerk, das auch allgemeinverbindlich ist (AV). Arbeitgeber schließt in der Krise mit Gewerkschaft einen SanierungsTV mit Verzicht auf Sonderzahlung (Weihnachtsgeld). Die klagt Arbeitnehmer mit Verweis auf seine Bezugnahmeklausel und AV ein. Gründe: Das BAG hat dem Arbeitnehmer nicht Recht gegeben. Es hat gesagt, der (schlechtere) FirmenTV verdränge als der speziellere TV den FlächenTV. – Aus der Bezugnahme auf den BranchenTV ergebe sich nichts anderes. Die Bezugnahme sei so auszulegen, dass sie sich auch auf den FirmenTV beziehe und die Konkurrenz der beiden in Bezug genommenen Tarifverträge sei nach Tarifkonkurrenzregeln zu lösen (!). 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Bezugnahme auf Branche und schlechterer FirmenTV(2) BAG 07.07.2010 - 4 AZR 1023/08 - NZA-RR 2011, 30 Sachverhalt: AN ist ver.di Mitglied. Altarbeitgeber hatte (billigen) FirmenTV mit ver.di (Stundenlohn 8,00 Euro). In der Branche gilt zusätzlich ein allgemeinverbindlicher FlächenTV von ver.di (Bewachungsgewerbe Hamburg mit Stundenlohn 8,30 Euro). – Der Betrieb geht nach § 613a BGB auf den Neuarbeitgeber über, der nicht tarifgebunden ist. Der Arbeitnehmer klagt auf Lohn nach allgemeinverbindlichem FlächenTV. Arbeitgeber sagt, FirmenTV gilt nach § 613a Absatz 1 Satz 2 BGB weiter und geht als speziellerer TV vor. Er hat vor dem BAG Recht bekommen. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
BAG 07.07.2010 - 4 AZR 1023/08 – Die Lösung Gründe: Das BAG sagt, die Regelungen des FirmenTV gehen nicht nach § 613a Absatz 1 Satz 2 BGB auf Neuarbeitgeber über, da dort anderer TV gilt und daher § 613a Satz 3 BGB greife. – Eine eventuell gegebene Bezugnahmeklausel ergebe nichts anderes, da diese allenfalls zur vertraglichen Geltung des FirmenTV führe und der FlächenTV daher als stärkere Rechtsquelle vorgehe. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Tarifpluralität und Bezugnahmeklausel BAG 22.10.2008 – 4 AZR 784/07 – Auflösung nach Günstigkeitsprinzip oder nach Tarifkonkurrenzregeln? (dazu auch schon oben) Sachverhalt: Arbeitgeber (Kindereinrichtung) war früher Mitglied im KAV. Im Arbeitsverhältnis zur Klägerin gibt es eine dynamische Bezugnahme auf den BAT. Später wechselt der Arbeitgeber zu einem Verband (PATT), der mit einer Nicht-DGB-Gewerkschaft Tarifverträge abschließt. Im Eintrittsjahr bei PATT war der Arbeitgeber gleichzeitig an BAT-O gebunden (Nachgeltung nach § 3 Absatz 3 TVG) und an PATT-Tarifverträge. Wie wirkt sich das auf die Bezugnahmeklausel aus? 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
BAG 22.10.2008 – 4 AZR 784/07 – Die Lösung Gründe: BAG sagt, Vertrag verweist nach wie vor auf BAT-O, da die Bezugnahmeklausel keine Tarifwechselklauselsei (s.o.) – Im Verhältnis des schuldrechtlich geltenden BAT-O und des normativ geltenden PATT-TV wären auch nicht die Regeln der Tarifkonkurrenz anwendbar, sondern allein das Günstigkeitsprinzip aus § 4 Absatz 3 TVG. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Tarifsukzession (Folie 1 von 4) Unter Tarifsukzession versteht man die Ablösung eines Tarifwerkes, das Tarifvertragspartner geschaffen haben durch ein neues Tarifwerk. Prominentestes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die Ablösung des BAT / BAT-O durch die Tarifwerke TVöD und TV-L (2005 bzw. 2006). Die verschiedenen Bezugnahmeklauseln wirken sich im Falle einer Tarifsukzession unterschiedlich aus. 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Tarifsukzession (Folie 2 von 4) Liegt eine statische Bezugnahme vor, hat die Tarifsukzession keine Auswirkungen, es gilt weiter der konkret in Bezug genommene Tarifvertrag (und zwar auch dann, wenn er untergegangen ist). Die Gleichstellungsabrede und sogar die Tarifwechselklausel verweisen unproblematisch auf das neue Tarifwerk Allein die „unbedingte“ dynamische Verweisung auf ein Tarifwerk könnte Probleme bereiten, da eben BAT nicht gleich TVöD 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011
Tarifsukzession (Folie 3 von 4) Im Falle der Tarifsukzession kommt aber eine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht, wenn es wegen des Untergangs des alten Tarifwerks an einer weiteren lebendigen Entwicklung des Arbeitsverhältnisses auf Basis der Bezugnahmeklausel fehlt. So inzwischen ständige Rechtsprechung des BAG für die Ablösung des BAT durch die Folgetarifwerke. Grundlegend: BAG 19. Mai 2010 – 4 AZR 796/08 3. STRALSUNDER ARBEITSRECHTSTAGE MAI 2011