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Auf dem Weg in die Prekarität? Empirische Befunde zu den Beschäftigungsbedingungen im liberalisierten Briefmarkt. Präsentation zur Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung „Wettbewerb und Prekarität“ 24.05.2007 – Berlin – Museum für Kommunikation Michael Schwemmle Input Consulting GmbH
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Auf dem Weg in die Prekarität?Empirische Befunde zu den Beschäftigungsbedingungen im liberalisierten Briefmarkt Präsentation zur Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung„Wettbewerb und Prekarität“24.05.2007 – Berlin – Museum für Kommunikation Michael SchwemmleInput Consulting GmbH www.input-consulting.com
Die empirische Grundlage: Studie „Liberalisierung und Prekarisierung …“ Süddeutsche Zeitung vom 27.01.2007 Frankfurter Rundschau vom 27.01.2007 taz vom 27.01.2007
Ziel und Leitfragen der Studie • Ziel: • Belastbare Befunde zur Qualität der Beschäftigung bei den neuen Briefdienstleistern (Lizenznehmer) hinsichtlich • Beschäftigungsstabilität • Arbeitsbeziehungen (Interessenvertretung, Tarifverträge) • Einkommen • Leitfragen: • Ist prekäre Beschäftigung im Briefmarkt auf dem Vormarsch? • Gleitet ein Hort traditionell gesicherter und auskömmlich dotierter Arbeit in die Zone der Prekarität ab?
Zur Methodik der Studie • Sekundäranalysen: • Berichte, Marktuntersuchungen Bundesnetzagentur • Arbeitsverträge von Lizenznehmern • 218 Stellenanzeigen der Bundesagentur für Arbeit (Online-Jobbörse KW 30/06) für „Postzusteller“ • Presseberichte, Blogs u.a. • Primärerhebungen: • Schriftliche freiwillige Befragung aller 960 Lizenznehmer (BNetzA 30.06.2006) – 55 auswertbare Rückläufe • 16 ExpertInneninterviews • Ein Verbesserungsvorschlag: Regelmäßige Vollerhebung von Löhnen, Arbeitszeiten, Urlaub durch die Bundesnetzagentur!
Beschäftigungsverhältnissebei den neuen Briefdienstleistern • Der Anteil regulär sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse im deutschen Briefmarkt ist seit 1999 rückläufig, der Anteil geringfügiger Beschäftigung am Gesamtmarkt hat sich zwischen 1999 und 2004 mehr als verdoppelt. • Der Anteil von Minijobs an allen Arbeitsplätzen bei den neuen Anbietern beträgt 62,3% (2004) – regulär sozialversicherungspflichtige, langfristig angelegte Arbeitsverhältnisse sind weitgehend atypisch. • Der Anteil von Minijobs liegt bei den Lizenznehmern damit höher als im traditionell von geringfügiger Beschäftigung geprägten Reinigungsgewerbe (56,3%) oder in der Gastronomie (52,8%).
Arbeitsbeziehungen bei den neuen Briefdienstleistern • Bei den Lizenznehmern verfügen nur 3,5% aller „betriebsratsfähigen“ Unternehmen über eine betriebliche Interessenvertretung; dies hat seine Ursache u.a. im oft massiven Widerstand der Geschäftsleitungen. • Eine Regulierung von Arbeitsbedingungen mittels tarifvertraglicher Vereinbarungen findet bislang nicht statt. • Mangels ausreichender „Primärmacht“ sind auch individuelle und informelle Chancen der Beschäftigten, Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen zu nehmen, äußerst gering ausgeprägt.
Arbeitseinkommen bei den neuen Briefdienstleistern (I) • Durchschnittlicher Stundenlohn (Median) bei den neuen Briefdienstleistern • Westdeutschland 7,00 € • Ostdeutschland 5,90 € • Durchschnittliches monatliches Brutto-Entgelt (Median; 38,5-Stunden-Woche) bei den neuen Briefdienstleistern im Falle einer Vollzeittätigkeit • Westdeutschland 1.169 € • Ostdeutschland 985 € • Durchschnittliches monatliches Netto-Entgelt (alleinstehende Person, kirchensteuerpflichtig) im Falle einer Vollzeittätigkeit • Westdeutschland 866 € • Ostdeutschland 757 €
Arbeitseinkommen bei den neuen Briefdienstleistern (II) • Die durchschnittlichen Brutto-Entgelte bei den Lizenznehmern liegen um 40,9% (Westdeutschland) bzw. um 50,2% (Ostdeutschland) unter dem Einstiegsgehalt für Zustellkräfte bei der DP AG. • Das durchschnittliche Netto-Gehalt eines alleinstehenden Beschäftigten liegt für Westdeutschland um nur 10 Euro über und für Ostdeutschland um 99 Euro unter der Armutsgefähr-dungsgrenze (60% des mittleren Äquivalenzeinkommens - Median). • Ein Großteil der Löhne bei den Lizenznehmern ist auch im Falle einer Vollzeittätigkeit nicht existenzsichernd, viele Beschäftigte haben deshalb Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II („De-facto-Kombilohn“).
Zentrale Ergebnisse der Studie • Die Beschäftigung bei den Lizenznehmern ist in hohem und steigendem Ausmaß durch Prekarität gekennzeichnet. • Die Mehrheit der neuen Briefdienstleister verfolgt bislang ein Geschäftsmodell, das im Kern auf den Kostenvorteilen prekärer Beschäftigung basiert. • Das Arbeitsmarktsegment der Briefdienstleister ist in puncto Beschäftigungsbedingungen von einer erheblichen Asymmetrie zwischen dem Incumbent Deutsche Post AG und dessen Wettbewerbern geprägt. • Trotz rechtlicher Vorkehrungen zur Eindämmung prekärer Beschäftigung im Briefmarkt sind die entsprechenden Regulierungsansätze in Deutschland bis dato ohne Wirkung geblieben.
Reaktionen auf die Studie • Eine kleine Typologie: • „Das stimmt doch überhaupt nicht – die Verhältnisse bei den Lizenznehmern sind besser als behauptet!“ • „Das mag ja stimmen, ist aber unproblematisch – in anderen Branchen sind die Verhältnisse noch schlechter!“ • „Die Post macht es doch auch nicht anders!“ • „Das stimmt, das ist auch problematisch, aber man kann nichts dagegen tun!“ • „Das stimmt, das ist problematisch, da muss und da kann man was tun!“ • Eine positive Zwischenbilanz:Die zuletzt genannte Sichtweise dominiert bei weitem. Die Debatte ist in Bewegung geraten, zunehmend problemnah und lösungsorientiert.
Prekarität – Definition und Dimensionen • Relationale Definition: • Prekarität ist dann gegeben, „wenn sich die Erwerbslage von anderen, als ‚normal’ oder ‚regulär’ wahrgenommenen Beschäftigungsverhältnissen durch strukturelle Benachteiligungen unterscheidet, die den Zugang zu Ressourcen und Rechten … betreffen. Es handelt sich hierbei um Beschäftigungsformen, die durch eine Verallgemeinerung sozialer Unsicherheitserfahrungen gekennzeichnet sind.“ (Kraemer / Speidel 2004) • Prekarisierung meint die Ausweitung prekärer Beschäftigung, auch durch „Rückkopplungseffekte“ auf (noch) stabile Segmente • Relevante Dimensionen: • Beschäftigungsstabilität • Einkommen • Teilhabe (kollektive Interessenvertretung)
Armutsgefährdungsgrenze • Den Konventionen der amtlichen Sozialberichterstattung der Europäischen Union zufolge „gilt jemand als armutsgefährdet, dessen Äquivalenzeinkommen weniger als 60% des mittleren Äquivalenzeinkommens (Median) des jeweiligen Mitgliedstaats beträgt. Diese 60%-Grenze wird allgemein als Armutsgefährdungsgrenze (oder Armutsrisikogrenze) bezeichnet. … Die Armutsgefährdungsgrenze lag im Jahr 2004 in Deutschland bei einem jährlichen Äquivalenzeinkommen von 10.274 Euro (oder 856 Euro pro Monat). Dies sind 60% des Median-Äquivalenzeinkommens.“ (Statistisches Bundesamt 2006, S. 17) • Berechnet man auf der Grundlage der von uns ermittelten Brutto-Durchschnittslöhne die Netto-Einkünfte der Beschäftigten der neuen Briefdienstleister, so betragen diese für einen alleinstehenden, kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer 866 Euro pro Monat für Westdeutschland bzw. 757 Euro pro Monat für Ostdeutschland. Somit liegen die bei den Lizenznehmern im Durchschnitt erzielbaren monatlichen Nettolöhne im Westen um nur 10 Euro über und im Osten um 99 Euro unter der Armutsgefährdungsgrenze.
Liberalisierung und Prekarisierung– Bedingungen • Die Liberalisierung des Briefmarktes ist Voraussetzung, aber nicht alleinige Ursache der Prekarisierung – eine Öffnung des Marktes muss nicht zwangsläufig zur Ausweitung prekärer Beschäftigung führen. • Der Erfolg des Geschäftsmodells der neuen Briefdienstleister in Deutschland basiert auf weiteren Bedingungen, namentlich • der hohen Arbeitslosigkeit mit ausgeprägten regionalen Schwerpunkten; • der arbeitsmarktpolitischen Erleichterung und Subventionierung geringfügiger Beschäftigung; • den staatlichen Transferzahlungen an Niedriglohnbezieher; • der mangelnden gewerkschaftlichen Organisationsmacht; • der Zurückhaltung der Bundesnetzagentur bei der Anwendung des regulatorischen Instrumentariums (soziale Lizenzauflagen). • Bei unverändertem Fortbestand der genannten Bedingungen wird sich die Prekarisierung im Falle einer weiteren wettbewerblichen Öffnung des Briefmarktes fraglos verschärfen.
Prekarisierung – negative Konsequenzen • Die Ausweitung prekärer Beschäftigung ist mit negativen Konsequenzen verbunden für • viele der betroffenen Arbeitnehmer, die häufig in permanenter Unsicherheit und Existenznot leben; • für die sozialen Sicherungssysteme, die auf der Finanzierungs- wie auch auf der Ausgabenseite unter wachsenden Druck geraten, • die Qualität des Wettbewerbs, der weniger auf Innovations-, Produktivitäts- und Servicekonkurrenz und mehr auf Lohn- und Sozialdumping ausgerichtet ist. • Angesichts massiver Personalkostenvorteile der Lizenznehmer gegenüber dem Marktführer drohen mittelfristig zusätzlich negative „Rückkopplungseffekte“ auf Anzahl und Qualität der Arbeitsplätze bei der DP AG.
Handlungsoptionen • Die rasante Ausweitung und die negativen Konsequenzen prekärer Beschäftigung begründen die Notwendigkeit geeigneter Gegenmaßnahmen. • Im Bereich des Briefmarktes könnten u.a. folgende Optionen prinzipiell denkbar und potenziell zielführend sein: • Aussetzung bzw. Verlangsamung der geplanten Marktöffnung; • Flankierung weiterer Liberalisierungsschritte durch effektive Anwendung des Regulierungsinstruments der sozialen Lizenzauflagen; • verstärkte Berücksichtigung sozialer Standards bei der Auftragsvergabe öffentlicher Instanzen (Tariftreueklauseln); • tarifvertragliche Regulierung der Beschäftigungsbedingungen bei den neuen Briefdienstleistern; • Durchsetzung allgemeiner oder branchenspezifischer Mindestlöhne.