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16.6.05 Der Natur folgen? Natürlichkeit als Wert Die Bedeutung der Fragestellung Die Beziehung(en) des Menschen zur Natur Bedeutungsdimensionen des Natürlichen Der Wert des Natürlichen. 1. Die Bedeutung der Fragestellung:
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16.6.05 Der Natur folgen? Natürlichkeit als Wert • Die Bedeutung der Fragestellung • Die Beziehung(en) des Menschen zur Natur • Bedeutungsdimensionen des Natürlichen • Der Wert des Natürlichen
1. Die Bedeutung der Fragestellung: • Orientierung des Handelns → anscheinend objektiver Wertmaßstab; Problem: möglicher Sein-Sollen-Fehlschluss • de facto Ablehnung von Neuerungen, z.B. in der Biomedizin, weil sie vermeintlich unnatürlich sind ("yuck-Faktor") → berechtigt?
John Stuart Mill: "'Natur', 'natürlich' und die von ihnen abgeleiteten oder ihnen etymologisch verwandten Ausdrücke haben zu allen Zeiten im Denken und Fühlen der Menschheit eine große Rolle gespielt. Das überrascht nicht, wenn wir bedenken, was diese Wörter in ihrem ursprünglichen Sinne bedeuten. Es ist allerdings bedauerlich, dass man dieser Gruppe von Wörtern, die eine so große Rolle in der ethischen und metaphysischen Spekulation spielen, zahlreiche Bedeutungen beigelegt hat, die von der ursprünglichen Bedeutung zwar verschieden, aber mit ihr doch hinreichend eng verknüpft sind, um zu Begriffsverwirrungen zu führen. Auf diese Weise haben sich diese Wörter mit so viel fremden, meist sehr einflussreichen und zählebigen Vorstellungen vermischt, dass sie seitdem Gefühle wachrufen und bezeichnen, die ihre ursprüngliche Bedeutung keineswegs gerechtfertigt haben würde und die sie zu einer der ergiebigsten Quellen falschen Geschmacks, falscher Philosophie, falscher Moral und sogar schlechter Gesetze gemacht haben." (Mill, Natur, in: ders.: Drei Essays über Religion)
→ "ursprüngliche" Bedeutung bei Mill: "Kollektivname für Tatsachen" → Verwirrung darüber, was "Natur" und "Natürlichkeit" überhaupt bezeichnen → gleichzeitig dienen die Ausdrücke als Legitimationsgrundlage von Wertaussagen
Bsp.: "Heterosexualität ist natürliche und Homosexualität unnatürliche Form der geschlechtlichen Liebe." → vermeintliche Beschreibung von Tatsachen → gleichzeitig Bewertung Probleme: • ist Homosexualität unnatürlich? in welcher Hinsicht? (kommt offenbar in Natur vor) • wäre sie deshalb schlecht/ablehnenswert?
2. Die Beziehung(en) des Menschen zur Natur • grundlegende Ambivalenz: Feind und Freundin, Mörderin und Ernährerin zugleich • pro: Die Natur sorgt durch ihre Früchte für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse • contra: der Mensch hat auch Bedürfnisse, welche durch Bedingungen in seiner Umwelt gefährdet werden. Bsp.: Schutz vor Kälte
Idealtypen: a) Mutter-Kind-Verhältnis: Mensch als Spross der Mutter Natur; zivilisationskritische und naturromantische Bewegungen, Stichworte: "Die Natur weiß es besser"; "Zurück zur Natur" b) Herr-Knecht-Verhältnis: "Macht Euch die Erde untertan"; Futuristismus: "Tod dem Mondenschein" (Marinetti)
Bsp.: mythologischer Beginn der Menschheitsgeschichte: Garten Eden: "Augen geöffnet"; Austritt aus Garten = Eintritt in das Reich der Werte (Bewertungen nun notwendig) Vorher: natürlichen Bedürfnisse erfüllt, aber keine eigenen Handlungszwecke (sozusagen blind); Sicherheit, aber auch Festgelegtheit auf ein bestimmtes Leben. Austritt aus dem Garten Eden der Eintritt in das Reich der Freiheit. Kurz, der Mensch wird erst wirklich zum Menschen, wenn er das Paradies verlässt
→ Die Natur muss vom Menschen in vielen Hinsichten bearbeitet und letztlich manchmal bekämpft werden, um alle seine Bedürfnisse zu erfüllen → für Menschen ist es natürlich, künstlich zu sein (Hellmuth Plessner) → Problem: gibt es Handlungsorientierung unabhängig von menschlichen Interessen?
Natur: Reich des bloßen Seins, nicht des Sollens • Erst der Mensch bringt Werte in die Welt • "Mensch ist Maß aller Dinge" (Protagoras), indem er nämlich das Maß überhaupt in die Welt bringt (bedeutet keine Maßlosigkeit) • aber: was ist richtiges Maß/ angemessen? • kann das Natürliche bei der Bestimmung Hilfestellung geben?
Skepsis gegenüber der Orientierung an der Natur: Mill: "Um es ohne Umschweife zu sagen: Fast alles, wofür die Menschen, wenn sie es sich gegenseitig antun, gehängt oder ins Gefängnis geworfen werden, tut die Natur so gut wie alle Tage. Das, was menschlichen Gesetzen als die verbrecherischste Handlung gilt, das Töten, übt die Natur einmal an jedem lebenden Wesen und in einer beträchtlichen Zahl von Fällen nach langen Qualen, wie sie nur die allerschlimmsten menschlichen Ungeheuer, von denen wir wissen, ihren Mitmenschen je absichtlich zugefügt haben."
3. Bedeutungsdimensionen des Natürlichen fünf unterschiedliche Bedeutungen von "Natürlichkeit" 1) das Biologische 2) das Selbstverständliche 3) das Nicht-Artifizielle 4) das Nicht-Kulturelle 5) das Nicht-Technische
ad 1) Das Natürliche als das Biologische: • alles, was die Natur hervorgebracht hat bzw. hervorbringt (Bsp.: Berge, Kokosnüsse, Schnee, aber auch Erdbeben und Krankheiten) • biologische Vorgänge: "natürlicher Drang"; Schmetterlinge schlüpfen aus Raupen • Naturgesetzmäßigkeiten; sonst unnatürliches bzw. übernatürliches Phänomen
Probleme für Wertfrage: • jedes Phänomen wird potentiell zu einem natürlichen • der Mensch ist ebenso wie alles andere von der Natur hervorgebracht und den Naturgesetzen unterworfen → was Mensch durch natürliche Kreativität hervorbringt wäre auch natürlich • was die Natur hervorbringt kann uns manchmal schaden
ad 2) Das Natürliche als das Selbstverständliche: Gewohntes, Konventionelles, Unhinterfragtes, statistisch Normales Probleme für Wertfrage: • Veränderlichkeit, Relativität (z.B. von Konventionen) • Verbreitetes, statistisch Normales etc. kann selbst schlecht sein; warum ist Ungewohntes schlecht?
ad 3) Natürlichkeit als das Nicht-Artifizielle • ungezwungen, ungekünstelt, nicht affektiert, authentisch (Bsp.: "natürliches Mädchen") • Ein natürlicher Mensch verstellt sich nicht, er ist ganz er selbst, er ruht in sich selbst; Rousseau: "edler Wilder" (Naturzustand) • Bsp. für Unnatürlichkeit: Ludwig XIV., Sonnenkönig, das "Zivilisierte" als Gegenbegriff
Probleme für Wertfrage: • unkultiviertes Leben (des Wilden) als Vorbild? • Mensch ist artifizielles (künstliches) Wesen, da er Fähigkeiten besitzt, die ihn von der Natur entfernen • andere Deutung: der Mensch soll in Harmonie mit sich selbst leben, sich nicht verstellen → aber dann wäre kein externer Maßstab des Handelns gegeben, auf den man sich ausrichten könnte (keine Unabhängigkeit von menschlichen Interessen)
ad 4) Natürlichkeit als das Nicht-Kulturelle: • vom Menschen hervorgebrachte und beeinflusste Dinge (Kultur) vs. Unbelassenes, Ursprüngliches • Bsp.: Garten = nicht natürlich • Problem der Abgrenzung: es gibt praktisch nichts völlig Ursprüngliches mehr (Bsp.: Lawinenabgang, Überschwemmung = natürlich?)
Probleme für Wertfrage: • warum soll das Ursprüngliche, Unbelassene in irgendeiner Weise hochwertiger sein als das von Menschen manipulierte? • gerade die unbelassene und unmanipulierte Natur scheint für den Menschen gefahrvoller und lebensfeindlicher zu sein
alternative Deutung: • gut ist eine dem Menschen natürliche (gemäße) Umgebung und Lebensweise (→ Diskussion über Natur des Menschen; Gesundheit) • z.B. unbeengte Umgebung gilt als gut für den Menschen, nicht weil er das besonders angenehm findet, sondern weil ihm das seinen biologischen Bedürfnissen entspricht → sinnvolle Deutung der Wertthese (natürlich = gut), denn was natürliche Bedürfnisse erfüllt, erscheint gut
Problem: • gibt es strikt natürliche – nicht vom Menschen hervorgebrachte Bedürfnisse? • warum nicht von natürlicher Lebensart entfernen? (Bsp.: Eremit)
ad 5) Natürlichkeit als das Nicht-Technische: • Natürliches selbstorganisiert • das Künstliche hingegen durch von außen auferlegte Zwecke bestimmt (Produkt); Bsp: Aristoteles: Weidenbett • Material eines Produkts kann der Natur entstammen, Herstellung aber mit Absichten verbunden • Natur: auch Zwecke? inhärentes Telos? z.B. Funktionen des Organismus • "Ablesen" von Zwecken in der Natur? objektiver Orientierungsmaßstab? Bsp.: Bionik
Probleme: • keine Zwecke (bewusst gesetzte Ziele) in der Natur, sondern blinde Mechanismen; Evolutionstheorie; kein "Designer" • Produkte des Menschen von Absicht (Zweck) bestimmt, "Lösungen" der Natur nicht, sondern Zufallsprodukte
4. Der Wert des Natürlichen • Natur ohne Zwecke = zweckfrei →kann uns nicht Zwecke vorgeben (kein Orientierungsmaßstab) • aber: gerade Zwecklosigkeit des Natürlichen ist wichtig → zwei Bedeutungen von "zweckfrei": • ohne Zwecke, zwecklos • frei für Zwecke, die herangetragen werden - → "Erlaubnis", Natur zu bearbeiten → Dignität des Natürlichen liegt gerade darin, dass es nicht vom Menschen bestimmt ist
These: Problematisch wird die Entfernung von Natürlichem dann, wenn die Zweckfreiheit (Offenheit) der Natur beseitigt wird, indem menschliche Zwecke nicht bloß an die Natur herangetragen werden, sondern in sie hinein (Art von Kategorienfehler) → Natur sollte zweckfrei bleiben, kein Produkt werden Bsp: Tiere, die natürlicherweise Pflanzenfresser sind, zu Fleischfressern zu machen; Menschen, die ihre Zwecke selbst bestimmen, durch Klonen auf bestimmte festlegen zu wollen
es ist falsch, Zwecke aus der Natur ablesen oder ihr Zwecke zuteilen zu wollen • wie stark ist dieses Argument? → Gebot der Klugheit, nicht der Moral • auch eigenes Leben nicht Zwecken vollständig unterordnen; Moritz Schlick: Sinn des Lebens in zweckfreien Tätigkeiten
Resümee: • Bezug auf Natur/Natürlichkeit spielt in Wertungen häufig eine Rolle • Verhältnis Mensch-Natur ist ambivalent • 'Natürlichkeit' ist ein Begriff mit verschiedenen Bedeutungsdimensionen • Natur/Natürlichkeit kann nicht auf direktem Wege Wertmaßstab sein (sonst Sein-Sollen-Fehlschluss) • die Zweckfreiheit der Natur sollte als wertvolles Charakteristikum gelten