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Die Tierrechtsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt, 10.03.2013. Können Tiere Rechte haben?. Mainstream: Nein Tiere können keinen Gesellschaftsvertrag schließen, keine Pflichten erkennen. Prämisse: Rechtssubjekt = Pflichtsubjekt Folgerung:
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Die Tierrechtsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Frankfurt, 10.03.2013
Können Tiere Rechte haben? Mainstream: Nein Tiere können keinen Gesellschaftsvertrag schließen, keine Pflichten erkennen. Prämisse: Rechtssubjekt = Pflichtsubjekt Folgerung: Menschen haben keine direkten Pflichten gegen Tiere, nur indirekte (s.Kant)
Mindermeinung: Tiere haben Rechte Ulpian (170 – 228) „Jus naturale est, quod natura omniaanimalia docuit; nam ius istud non solumhumani generis proprium, sed omniumanimalium, quae in terra, quae in marinascuntur, avium quoque commune est.“ „Es gibt ein natürliches Recht, das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat, denn dieses Recht gehört nicht nur den Menschen, sondern allen Lebewesen, die auf dem Lande, im Wasser oder in der Luft leben.“
Mindermeinung: Tiere haben Rechte • Tiere haben das (natürliche/göttliche) Recht, nicht gequält zu werden, Augustinus Leyser (1683-1752) , Karl Ferdinand Hommel (1722-1781) „Tierschutz“, erstmals Strafen f. Tierquäler • Tiere sind Rechtssubjekte/Personen, da sie Interessen haben (Nelson, Schwantje) „Tierrechte“ – Vegetarismus, Veganismus
An Tierrechten orientierte Organisationen Gesellschaft zur Förderung des Tierschutzes und verwandter Bestrebungen (1907-1918) Bund für radikale Ethik (1919-1934) - Magnus Schwantje Internationaler Jugendbund/ Sozialistischer Kampfbund (IJB/ISK) 1917-1945 – Leonard Nelson Teilweise: Vegetarische Vereine – DVB, DVG: 1867/1892 ff – 1935/36
Bund für radikale Ethik • 15.3.1907 „Gesellschaft zur Förderung des Tierschutzes und verwandter Bestrebungen“, Vorbild „Humanitarian League“, cc. 500 Mitglieder, Zs. „Ethische Rundschau“, Broschüren, Vorträge • 1.1.1919 - 20.2.1934 „Bund für radikale Ethik, cc. 800 Mitglieder, „Mitteilungen des Bundes für radikale Ethik“, Auflösung Februar 1934, Dez. 1934 Emigration M.S.
Biographie Magnus Schwantje • * 3.6.1877 Oldenburg • Höhere Schule bis 14 ½ Jahre • Buchhandelslehre (Verarmung der Eltern) • Buchhändler (Angestellter) in München u. Wien • Abendschule + Weiterbildung (Sprachen) • Privatsekretär des Musikwissenschaftlers Richard Hohenemser • Ab 1902 Redner für Tierschutzorganisationen in Berlin
1902 – 1906 Redner für den Berliner Tierschutzverein und den „Internationalen Verein“ (gegen die Vivisektion) • Mehrere hundert Vorträge u.a. vor Arbeiter- u. Gewerkschaftsvereinen, Bildungs-, Naturheil- u. Ethischen Gesellschaften • Zusammenarbeit mit Ludwig und Margare-the Quidde (L. Quidde, Historiker, Pazifist, Friedensnobelpreis 1927)
1898 „Das edle Waidwerk und der Lustmord“ 1901 „Das Recht der Laien gegenüber den Ärzten“ (Demokratische Kontrolle der Fachleute, medizinische Information der „Laien“, gesunde Lebensführung, Hygiene, soziale Aspekte) Seit 1902: Verwendung des Wortes „Ehrfurcht vor dem Leben“ (im Druck nachgewiesen in: Vegetarische Warte 16, 1905). 31.01.1903 Disputation in der Universität Bern
„Verwandte Bestrebungen“ (1909) - „sociale und strafrechtliche Reformen, insbesondere gegen die Todesstrafe - Bekämpfung des Alkoholismus - Erhaltung des Friedens, Antimilitarismus - Erweiterung der Frauenrechte - Kinderschutz und Erziehungsreform, - - Reform der Lebens- und Heilweise“
Radikale Ethik und Radikaler Tierschutz • Radikale Ethik geht an die Wurzel (radix) gesellschaftlicher Übel • Zusammenhang der Gewalt gegen Menschen mit der Gewalt gegen Tiere • „Radikaler Tierschutz“ = (Tierrechte) = zentral für „radikale Ethik“ • „Radikaler Tierschutz“ = Vegetarismus, Antivivisektion, Antijagd
Radikale Ethik als Kritik der Gewalt • direkte Gewalt (Krieg, Schlachten, Todesstrafe) • strukturelle Gewalt • - soziale Ungerechtigkeit, (Armut, „Randgruppen“) • - Diskriminierung von Frauen • - Gewalt in der Erziehung, im Strafvollzug • - Diskriminierung (Geistig) Behinderter • Gewaltfördernde Ideologien • - Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, („Sozialdarwinismus“) • - Tierverachtung („Speziesismus“)
Antispeziesismus „Die Ansicht, daß eine Handlung, die einem Wesen schadet, das einer anderen Gattung als der des Handelnden angehört, nach andern Grundsätzen beurteilt werden müsse als eine, die einem Angehörigen der Gattung des Handelnden schadet, ist ganz unbegründet.“ (Schwantje 1950a: 31f).
Ideologiekritik • „Gerade weil der Mensch von den Tieren großen Nutzen empfängt, verachtet er sie. Die heutige Tierverachtung hat dieselbe Ursache wie die Unterschätzung der Arbeiter, der Frauen, der Neger und anderer unterdrückter und ausgebeuteter Menschen. Immer wenn die Menschen andere Menschen unterdrücken und ausbeuten wollen, pflegen sie sich Ansichten über diese Mitmenschen zu suggerieren, die ihnen die Ausbeutung erleichtern.“ (1928)
Argumente gegen Fleischessen • Tierethik und Tierrechte (Leben/Leiden) • Psychologie/ Sozialpsychologie: Gewöhnung an - Grausamkeit, verminderte Empathiefähigkeit - Egoismus: Fremdschädigung für minimalen Eigennutzen - gewaltsame Konfliktlösungen = kriegerische Politik • Ökonomie/ Politik: Fleischproduktion verursacht - Ressourcen-/Raumverschwendung, kriegerische Politik - Landflucht, Lohndrückerei = mehr soziale Ungleichheit - Überflüssige gesellschaftliche Arbeit (statt Kultur) - Ungerechtigkeit der Verachtung des Schlächters, - Schlachterlehre = Kindesmisshandlung • Ästhetik • Gesundheit
Pazifismus und Vegetarismus als Bundesgenossen • Thema in der Ethischen Rundschau • Autoren der Friedensbewegung in der ER • Begrüßung des V. Deutschen Friedens-kongresses Berlin 1912 • Statt „Gott strafe England“ Friedensgruß • Friedenshefte der ER • Keine Teilnahme am 1. Weltkrieg • Freundschaft mit Hans Paasche
BfrE und Friedensbewegung • 1916 „Tiermord und Menschenmord, Vegetarismus und Pazifismus“ (Ascona) • Mitbegründer „Bund der Kriegsdienstgegner“ • Rede über „Sozialismus und Pazifismus“ VIII Dts. Pazifistischer Kongress 1919 Berlin • Antrag an DFG 1919 wg. Reform des naturkundlichen Unterrichts (s. Eugenie Liebich in diesem Archiv) • Mitarbeit im „Deutschen Friedenskartell“ • 1922 „Das Recht zur Gewaltanwendung“ • 1927 „Tierschlachtung und Krieg“ (Demokratischer Friedenskongress Würzburg) • 1929 „Radikaler Tierschutz und Kriegsbekämpfung“ (TS-Kongress Wien)
Bertha von Suttner Hans Paasche Ludwig Quidde Otto Umfried Leonard Nelson Emil Julius Gumbel Friedrich W. Förster Adolf Richter Willi Eichler Walter Hammer Johannes Ude Arthur Kalisch Viktor Fraenkl Paul Geheeb Anita Augspurg Lida G. Heymann Ludwig Gurlitt Leopold Katscher Richard Feldhaus Walter von Gyzicki Pazifisten im BfrE/ der TR-/Vegetarischen Bewegung
Schriften zu Tierrechten • 1919 „Gründe gegen die Vivisektion“ • 1921 „Hat der Mensch das Recht, Fleisch zu essen?“ (2. 1923) • 1942 „Sittliche Gründe gegen das Fleisch- essen“ Flugblätter und Vorträge www.magnus-schwantje-archiv.de Tiere sind leidensfähig, haben daher Interessen, sind daher Rechtssubjekte, Natur ist keine Norm
Politische Positionen Vertiefung der Individualethik Zusammenarbeit (Mitgliedschaft) mit ISK, Herstellung „Der Funken“ Beteiligung an Aufrufen: Für die Freiheit der Kunst (1925) Für die Fürstenenteignung (1925) Gegen Strafbarkeit der Homosexualität (1925) Flugblatt gegen Hindenburg (1925) Für Wiederzulassung des Rotfrontkämpferbundes (1929) Aufsatz gegen die Fridericusbriefmarke
Frauenfrage • Für Frauenwahlrecht (Berichte über Frauenbewegungen anderer Länder in der ER) • Anerkennung der Arbeit von Frauen im TS • Wichtigkeit der Berufsausbildung • Geistige und moralische Fähigkeiten von Frauen werden gleich geschätzt • Kritik an der Unterschätzung der Frauen • (M.S. persönlich „Antinatalist“/ Pessimist)
Kinder und Jugendliche • ER = Publikationen v. Reformpädagogen • Adele Schreiber und Schwester Johanna Arendt (gegen Kinderhandel) • Für Schulreformen gg. Prügelstrafe • Gg. Militarisierung der Jugend, Kriegsspielzeug • Gg. Einsatz von Kindern bei Treibjagden, • „Breslauer Sittenskandal“ • Bedeutung des Lernens: „Der erste Schritt zur Grausamkeit“ (1908)
Biographie Magnus Schwantje: „Hungerstreik“ im 1. Weltkrieg 1933 2 x Befragung, Sept. 1934 Verhaftung durch Gestapo, Verhör im Columbiahaus Dezember 1934 Schweizer Exil 1935 Publikationsverbot für Deutschland Keine Arbeits-, befristete Aufenthaltserlaubnis („heimliche Arbeit“ für TS, große Armut) 1950 Rückkehr in die Bundesrepublik Keine Anerkennung als politisch Verfolgter Unterstützung durch ehemalige ISK-Mitglieder + 11. September 1959
Leonard Nelson (1882-1927) • Philosoph, Mathematiker Göttingen • Begründer des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes • Philosophische Begründung von Tierrechten • Politisch: Einbeziehung von Tieren in Kritik an Ausbeutung/ Sozialismus • Lebenspraxis: Vegetarismus im ISK
Nelson: Zitate zu Tierrechten • Begründung, dass „alle Wesen, die Interessen haben“, Subjekte von Rechten sind. Subjekte von Pflichten sind alle, „die darüber hinaus der Einsicht in die Anforderung der Pflicht fähig sind.“ (Kritik an Kant) • Das heißt, dass entweder Menschen und Tiere Rechte haben oder dass sie gleich rechtlos sind. Daher • „folgt das Verbot der Tierquälerei unmittelbar aus dem Sittengesetz. Wer nämlich das Quälen eines Tieres für möglich hält, setzt voraus, daß die Tiere Interessen haben. Er braucht sich daher nach dem Sittengesetz nur die Frage vorzulegen, wie er selbst in einer der Lage des Tieres analogen Situation behandelt zu werden wünschen würde.“
„Ja, die der Behandlung, die dieses Problem der Ethik erfahren hat, würde ein vernichtendes Zeugnis für die Kräfte des menschlichen Verstandes abgeben, wenn nicht von vorne-herein klar wäre, daß hier weniger der Irrtum als ein Interesse im Spiel ist.“ (GS 5:164) • „Es ist rein zufällig, daß der Mensch in der Lage ist, diese seiner Willkür ausgesetzten Wesen als Mittel zu seinen Zwecken benutzen zu können.“ (GS 5:168) • „Wer über diese Forderungen lacht, der weiß nicht, was Sozialismus bedeutet."
IJB – ISK Internationaler Jugendbund, Internationaler Sozialistischer Kampfbund • „Wer die Forderung der ausbeutungsfreien Gesellschaft ehrlich zu Ende denkt, der wird Vegetarier“ (Willi Eichler) • Vegetarismus im ISK verbindlich, Tabak- und Alkoholmeidung aus Gesundheitsgründen (Arbeitsfähigkeit, Disziplin) • Ausschluss aus KPD und SPD („Sektierertum“), Mitglieder cc. 600, Sympathisanten bis 1000 • effektivste Widerstandsarbeit gegen NS, Vegetarische Gaststätten ermöglichen Widerstandsarbeit • nach 1945 SPD, Vegetarismus meist privat gelebt
Vegetarische Organisationen + Tierrechtsargumente • Deutscher Vegetarierbund (DVB) *1892-1935, 1904 1500 Mitgl., Zs. „Vegetarische Warte“ • Deutsche Vegetarische Gesellschaft (Georg Förster, Zusammenarbeit mit Schwantje), Dresden (1913 – 1935) Zeitschrift „Vegetarische Presse“
Hochvegetarismus = Veganismus • Ablehnung von Milch, Eiern, Honig • Kleidung aus Pflanzenstoffen (Bezug: Baltzer) • Lederersatz (VW 1897 – engl. Schuhe, Sattlermeister Paech Eden 1932) • Ablehnung der Jagd (vgl. Hammer 1914) • Ablehnung von Zoo + Zirkus • Ablehnung von Tierversuchen + Impfung • DVB = sieht sich als „einzig wirklicher Tierschutzbund“, vertritt • „unbedingte Ehrfurcht vor dem Leben“
Ethischer / Gesundheitsvegetarismus Der Deutsche Vegetarierbund betont…, daß ihm die Lösung der Ernährungsfrage immer erst in zweiter Linie steht, während ihm die ethische Frage die allein wirklich wesentliche ist“ (Vegetarische Warte 5, 1931) Das alte Schlagwort „nichts vom toten Tier“ hat sich als höchst gefährlich und somit als unhaltbar erwiesen, der neuen Parole „gar nichts mehr vom Tier“ allein gehört die Zukunft! (WV 3,1931) Alkohol = kleineres Übel, weil er nur den Menschen schädigt, der ihn freiwillig trinkt, während der Milchausschank Tiermord bedingt (VW 5,1932)
Geschichte der Organisationen nach 1933 • ISK illegal, im Widerstand • BfrE seit 20.2.1934 aufgelöst • Auflösung der Vegetariervereine z.T. Febr.1935,1.1.1936 • „Gleichschaltung“ Deutsche Gesellschaft für Lebensreform (1934 München) • Deutsche Gesellschaft für Lebensreform lehnt Vegetarismus als „Weltanschauung“ wegen Pazifismus ab, begrenzt akzeptiert als reine Ernährungsform mit moderatem Fleischkonsum
„Rehburger Formel“ (1946) „Der Vegetarismus ist die Lehre, dass der Mensch aus ethischen und biologischen Gründen ausschließlich zum Pflanzen-esser bestimmt ist. Sein stärkstes Motiv ist die Überzeugung, dass möglichst kein Tier für die menschliche Existenz getötet oder geschädigt werden soll.“
Nach 1950 • Praktisch vielfach Rückkehr zur Formel „Nichts vom toten Tier“ • England 1944 Donald Watson: „vegan“ • Seit 1990-er Jahren zunehmende vegane + Tierrechtsorientierung • Verwandte Bestrebungen: Kritik an Massentierhaltung, Futtermittelimporten, Klimadiskussion durch Ökologiebewegung
Offene Fragen: • Seit wann kann von einer Tierrechtsbewe-gung gesprochen werden? (vor Singer!) • Korrektur der These von historischer Distanz von Vegetariern/Veganern, Tierschützern und Tierrechtlern • Begriffe Tierrechte und Tierschutz – vgl. Schwantje: „radikaler Tierschutz“ – eher fließend
Begriff der sozialen Bewegung … „ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsfor-men das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.“ (Raschke 1985: 77)
Argumente für Bewegungsbegriff • Kollektiver Akteur: Organisationen + Individuen • Mobilisierung erkennbar • Kontinuität (1867 ff, 1907-1934, 1916-1945) – zunehmende Aktualität • Hohe symbolische Integration: kein Fleisch/ keine tierlichen Produkte (+ Alkohol, Tabak) • Geringe Rollenspezifikation (Alltagshandeln), Vernetzung, Internationalität • Variable Organisations- und Aktionsformen • Ziel: Grundlegender Sozialer Wandel • Selbstbeschreibung Schwantje: („Tierschutzbewegung“ )
Tierrechts“bewegung“ (?)Gegenargumente • Zu geringe Zahl von Akteuren (Roscher) • Vgl. „Reformhausbewegung“ (Fritzen), Gandhibewegung (Linse) • Zu geringe Mobilisierung, allg. Unverständnis • Unterbrechung der Wirkung durch historische Ereignisse/ soziale Entwicklung • Grundlegender Sozialer Wandel nicht erreicht, Lage der Tiere qualitativ + quantitativ verschlechtert
Danke Für Ihre Aufmerksamkeit