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Pflichtvorlesung im Öffentlichen Recht 3. Studiensemester Wintersemester 2010/11. Europarecht I Prof. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice Humboldt-Universität zu Berlin. § 6 Vollzug des europäischen Rechts. Loyalitätspflichten nach Art. 4 III EUV
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Pflichtvorlesung im Öffentlichen Recht 3. Studiensemester Wintersemester 2010/11 Europarecht IProf. Dr. Dr. h.c. Ingolf PerniceHumboldt-Universität zu Berlin
§ 6 Vollzug des europäischen Rechts
Loyalitätspflichten nach Art. 4 III EUV Umsetzung der EU-Richtlinien: Art. 4 III EUV, Art. 288 III, 291 AEUV Verwaltungsvollzug: Grundsatz mitgliedstaatlicher Zuständigkeit Pflicht der Mst. zum Vollzug vgl. Art. 291 I, 197 I und III 1 AEUV. Art. 298 AEUV: offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung. Verwaltungszusammenarbeit: Pflichten (Art. 291 AEUV) und gemeinsame Grundsätze (Art. 197 AEUV), Zollwesen: Art. 33 AEUV, RFSR: Art. 74, 70 und 89 AEUV Achtung des Grundrechts auf gute Verwaltung (Art. 41 GRCh) Der europäische Verwaltungsverbund, zB. Wettbewerbsnetzwerk, Regulierungsverbund - näher dazu zuletzt. Die Verwaltung, Beih. 10 (2010) Allgemeine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten
Hintergrund: Einheitliche Geltung des Europarechts versus Autonomieschonung Artikel 4 Abs.2 S.1 EUV: Die Identitätsklausel Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Art. 5 Abs. 3 u. 4 EUV: Subsidiarität und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Nationale Verfahrensautonomie: Grundsatz EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet sind deshalb die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen freilich diese Bedingungen nicht ungünstiger gestaltet werden als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen... Anders wäre es nur, wenn diese Verfahrensregeln und Fristen die Verfolgung von Rechten, die die innerstaatlichen Gerichte zu schützen verpflichtet sind, praktisch unmöglich machten.
Mittelbarer indirekter Vollzug – Merksätze: 1. Mitgliedstaatliche Behörden vollziehen europäisches Recht und wenden dabei innerstaatliches Verfahrensrecht (materielle Regelungen, Verwaltungsverfahren, Prozessordnung) an, vgl.Milchkontor-Grundsatz (s.u.) • 2. Grenzen der nationalen Verfahrensautonomie ergeben sich aus Art. 4 III EUV und dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Zu beachten sind insbesondere das: • Effizienzgebot (effet utile) und der • Grundsatz der Gleichwertigkeit (Äquivalenzgebot). 3. Zu beachten ist ferner die Charta der Grundrechte der EU, vgl. Art. 6 I EUV sowie Art. 51 I GRCh
Anwendung: Rückforderung rechtswidriger Beihilfen – GrundsatzEuGH, verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633 – Milchkontor. 19 Wie der Gerichtshof im Einklang mit diesen Grundsätzen wiederholt ausgesprochen hat (...), müssen die nationalen Gerichte Rechtsstreitigkeiten über die Wiedereinziehung zu Unrecht aufgrund des Gemeinschaftsrechts geleisteter Zahlungen in Ermangelung gemeinschaftlicher Vorschriften nach ihrem nationalen Recht entscheiden, jedoch vorbehaltlich der durch das Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen, wonach die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten nicht darauf hinauslaufen dürfen, dass die Verwirklichung der Gemeinschaftsregelung praktisch unmöglich wird, und das nationale Recht im Vergleich zu den Verfahren, in denen über gleichartige, rein nationale Streitigkeiten entschieden wird, ohne Diskriminierung anzuwenden ist. • Keine grds. Bedenken gegen eine Anwendung von § 48 VwVfG.
Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht Zollkodex (VO 2913/92 für die einheitliche Anwendung des europäischen Zollrechts durch die 27 Mitgliedstaaten an ihren Grenzen, insbes. Art. 5 ff.) Kartellverordnung 1/2003 für die Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrags durch die Kommission und die Behörden/Gerichte der Mitgliedstaaten Verordnung 659/1999 EG über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags
Art. 108 III AEUV. Die Kommission wird von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Artikel 107 mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat. Zur Durchführung die oben genannte Verordnung 659/1999, die die Rechtsprechung des EuGH kodifiziert und ergänzt.
Rückforderung rechtswidriger Beihilfen i.L.v. Art. 108 III AEUVEuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997 I-1591 – Alcan. 24. Die Rückforderung der Beihilfe findet grundsätzlich nach Maßgabe des einschlägigen nationalen Rechts statt; jedoch darf dessen Anwendung die gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung nicht praktisch unmöglich machen... 25. Insoweit widerspricht es zwar nicht der Rechtsordnung der Gemeinschaft, wenn das nationale Recht im Rahmen der Rückforderung das berechtigte Vertrauen und die Rechtssicherheit schützt; da die Überwachung der staatlichen Beihilfen durch die Kommission in Art. (88 Abs.3 EG n.F.) zwingend vorgeschrieben ist, darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe jedoch grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Einhaltung des darin vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde. Einem sorgfältigen Gewerbetreibenden ist es regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, dass dieses Verfahren eingehalten wurde. => Modifizierte Anwendung von § 48 VwVfG im Lichte des EuR wegen der Einschaltung der Kommission nach Art. 88 Abs.3 EG (vgl. BVerwGE 106, 328).
Grenzen der Bestandskraft I: SonderfallEuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004 I-837 – Kühne & Heiz. 26. Nach den Akten liegen folgende Umstände vor. Erstens hat die Verwaltungsbehörde nach nationalem Recht die Befugnis, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen. Zweitens erlangte die Verwaltungsentscheidung ihre Bestandskraft erst infolge eines Urteils eines nationalen Gerichts, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar sind. Drittens beruhte dieses Urteil auf einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die, wie ein später ergangenes Urteil des Gerichtshofes zeigt, unrichtig war und die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof angerufen wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs.3 EG erfüllt war. Viertens wandte sich die Klägerin, unmittelbar nachdem sie Kenntnis von diesem Urteil des Gerichtshofes erlangt hatte, an die Verwaltungsbehörde. 27. Unter solchen Umständen ist die Verwaltungsbehörde nach dem in Artikel 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet, ihre Entscheidung zu überprüfen...
Grenzen der Bestandskraft II: RegelfallEuGH, Rs. C-2/06, Slg. 2008 I-411 – Kempter. 37 Wie jedoch der Gerichtshof in Erinnerung gerufen hat, ist diese Rechtsprechung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu lesen, der zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört. Insoweit ist festzustellen, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen... (sc. eintritt), zur Rechtssicherheit beiträgt und das Gemeinschaftsrecht daher nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. 39 Wie das vorlegende Gericht in Erinnerung ruft, geht aus den Rn. 26 und 28 des Urteils Kühne & Heitz hervor, dass der EuGH als eine der Voraussetzungen, die eine solche Überprüfungspflicht begründen können, insbesondere den Umstand berücksichtigt hat, dass das Urteil des letztinstanzlichen Gerichts, das zur Bestandskraft der angefochtenen Verwaltungsentscheidung führte, in Anbetracht einer nach seinem Erlass ergangenen Entscheidung des EuGH auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhte, die erfolgte, ohne dass der Gerichtshof angerufen wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war.