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DEMOKRATISCHE STRUKTUREN VOR UND NACH LISSABON. Prof. Dr. Christa Tobler, LL.M. Europa Institute der Universitäten Basel (Schweiz) und Leiden (Niederlande) Kaderschulung Kanton Zürich “Europäische Union kompakt ” 22. April 2010, Europainstitut Zürich.
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DEMOKRATISCHE STRUKTUREN VOR UND NACH LISSABON Prof. Dr. Christa Tobler, LL.M. Europa Institute der Universitäten Basel (Schweiz) und Leiden (Niederlande) Kaderschulung Kanton Zürich “Europäische Union kompakt” 22. April 2010, Europainstitut Zürich Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M. Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) christa.tobler@unibas.ch r.c.tobler@law.leidenuniv.nl http://www.europa.unibas.ch http://www.europainstituut.leidenuniv.nl
Hintergrund (1) Gründung der Europäischen Gemeinschaften • Europäische Integration als “top down”-Projekt (Pläne von Politikern und hohen Beamten: Schuman, Monnet, Spaak). • Die drei Europäischen Gemeinschaften als von Staaten gegründete internationale Organisationen, nicht als demokratisch gedachte Gemeinwesen: • Basierend auf Entscheidungen von Regierungen. • Ratifizierung nach innerstaatlichem Recht mit unterschiedlichem Demokratiegehalt. • Zu beachten: Gemeinschaftsrecht enthielt keine Vorgaben über den Demokratiegehalt auf nationaler Ebene - vgl. z.B. Irland sowie heute die Tories im UK.
Hintergrund (2) Aber: mehr als ein klassischer Staatsvertrag • Wichtige Rolle des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im System des Gemeinschaftsrechts. • Der EuGH in Van Gend en Loos (1963):Der EWG-Vertrag ist “mehr als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten begründet”, vielmehr Rechte und Pflichten auch für die Einzelnen. • Führt logisch zur Frage nach dem Demokratiegehalt.
Hintergrund (3) Organstruktur: die “Parlamentarische Versammlung” • Repräsentiert das Volk. • Indirekt demokratisch beschickt:Bestand ursprünglich aus Delegierten der nationalen Parlamente (noch keine direkten Wahlen). • Schwache Rolle im Gesetzgebungsprozess: • Verschiedene Verfahren, insbes. Konsultationsverfahren [siehe die Tafeln von Tobler/Beglinger zum EU-Recht, www.eur-charts.eu]: rein beratende Rolle, keine Entscheidungsbefugnisse. • Trotzdem - der EuGH in Roquettes Frères (1980) zur Rolle des Parlaments in diesem Verfahren: Rolle des Parlaments muss respektiert werden; sie spiegelt “ein grundlegendes demokratisches Prinzip”.
Demokratiedefizit (1) Kritik: z.B. das deutsche Bundesverfassungsgericht • Ausgangspunkt: • Rechtsstreit um Exportlizenzen von Maismehl: ein vom Gemeinschaftsrecht eingeführtes Depotsystem (Landwirtschaftsrecht). • Verwaltungsgericht: System verletzt die deutsche Verfassung. • Fall geht via das sog. Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH - Internationale Handelsgesellschaft (1970): Vorrang des Gemeinschaftsrechts; Grundrechte als allgemeine Grundsätze. • Zurück beim nationalen Gericht - die berühmte Solange I-Entscheidung (Internationale Handelsgesellschaft, 1974): • EWG “entbehrt noch eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind”. • [EWG hat noch keinen kodifizierten Grundrechtskatalog.]
Demokratiedefizit (2) Kritik: z.B. das führende Lehrbuch Craig/De Búrca (Auswahl von Kritikpunkten) • Unresponsive to democratic pressures: voters cannot change the government. • Executive dominance: • Dominance of the Council [of Ministers] and of the European Council. • Difficulty of national parliaments to exercise effective control. • By-passing of democracy: in particular complex committee structure (delegation of powers to the Commission). • Distance: things happen in Brussels instead of in the Member States. • Transparency (decision-making behind closed doors) and complexity.
Mehr Demokratie (1) Europäisches Parlament: Wahl der Abgeordneten • Direktdemokratische Wahlen seit 1979, eingeführt durch Vertragsänderung (1976). • Positive Reaktion des deutschen Bundesverfassungsgericht in Solange II (1986). • Aber:Bis heute kein einheitliches Verfahren, obwohl auf Gemeinschafts-/Unionsebene seit langem vorgesehen ...
Mehr Demokratie (2) Europäisches Parlament: Gesetzgebungsprozess • Steigender Einfluss in der Gesetzgebung: • Einführung neuer Verfahren. • Insbes. das Zustimmungsverfahren (1986) [siehe Tafeln zum EU-Recht]. • Insbes. das Mitentscheidungsverfahren (1992; seit der Lissaboner Revision “ordentliches Gesetzgebungsverfahren”) [siehe Tafeln zum EU-Recht]: • Vetorecht • Formelle Rolle als mitgesetzgebende Instanz • Stetige Ausweitung des Anwendungsbereichs, insbes. des Mitentscheidungsverfahrens, durch spätere Vertragsrevisionen.
Mehr Demokratie (3) Maastrichtvertrag (1992): Bürgerinnen und Bürger • Einführung des Unionsbürgerrechts. • Demokratische Rechte der Bürgerinnen und Bürger (nebst Wahlrecht): • Anrufung des Ombudsmannes des Europäischen Parlaments (1995-2003 Jacob Söderman, seit April 2003 Nikiforos Diamandouros). • Petitionen an das Parlament. • Schreiben an andere Organe. • Teilnahme an Kommunalwahlen in anderen Mitgliedstaaten.
Erklärung von Laeken Noch “mehr Demokratie” • Erklärung von Laeken von 2001 zur Zukunft der Europäischen Union. • Zielsetzung für weitere Reformen:“Mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz”. • Im Übrigen:Thema Demokratie ist gerade auch aus schweizerischer Sicht von besonderem Interesse.
Lissabon-Vertrag Relevante Änderungen: Übersicht • Neuer Teil mit “Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze” • Einfluss des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren • Rolle der nationalen Parlamente • Bürgerinnen und Bürger: sog. Initiativrecht • Unverändert:Demokratie als Grundprinzip bzw. Grundwert, alt Art. 6 EU, heute Art. 2 EUV.
Demokratische Grundsätze (1) Ausgangspunkt: Art. 9 EUV • “Die Union achtet in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Mass an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird. • Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.”
Demokratische Grundsätze (2) Repräsentative Demokratie • Art. 10 EUV: • Arbeitsweise der EU beruht auf der repräsentativen Demokratie. • Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. • Sie haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. • Wichtigkeit der politischen Parteien auf Unionsebene. • Art. 11 EUV:Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern und den Organen, einschliesslich Initiative (siehe später). • Art. 12 EUV:Rolle der nationalen Parlamente (siehe später).
Das Europäische Parlament Mehr Einfluss in Gesetzgebungsverfahren • Ordentliches Gesetzgebungsverfahren (“Mitentscheidungsverfahren”): • Neue offizielle Bennennung. • Grösserer Anwendungsbereich: • Insbes. im Bereich der besonderen Kompetenzbestimmungen [siehe Tafeln zum EU-Recht]. • Allg. Kompetenzbestimmungen:Art. 114 AEUV als Regel, Art. 115 AEUV als Ausnahme. • Zustimmungsverfahren:Ausweitung des Anwendungsbereichs, z.B. für Verträge mit Drittstaaten (vgl. Hearing im Europäischen Parlament vom März 2010 betr. EWR und Schweiz).
Die nationalen Parlamente (1) Explizite Nennung im EUV, Art. 12 AEUV • Werden von den EU Organen unterrichtet, u.a. über Gesetzgebungsentwürfe. • Sorgen dafür, dass der Grundsatz der Subsidiarität gemäss Protokoll beachtet wird (siehe später). • Beteiligen sich im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts an den Mechanismen zur Bewertung und Durchführung der Unionspolitiken; werden in die politische Kontrolle von Europol und Eurojust einbezogen. • Beteiligen sich an den Verfahren zur Vertragsänderung. • Beteiligen sich an der interparlamentarischen Zusammenarbeit nationale Parlamente - Europäisches Parlament.
Die nationalen Parlamente (2) Politische Überwachung des Grundsatzes der Subsidiarität • Grundsatz der Subsidiarität für nicht ausschliessliche Kompetenzen der EU, Art. 5 Abs. 3 EUV. • Für die Rolle der nationalen Parlamente - Protokolle: • Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU • Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit • Neu: Art. 7 und 8 des Prot. Nr. 2: • Ausspielen der “gelben Karte”: die nationalen Parlamente können die Kommission dazu zwingen, einen Gesetzesvorschlag zu überprüfen. • “Orange Karte”: die Angelegenheit geht unter bestimmten Umständen an den “Unionsgesetzgeber” (Rat und Europäisches Parlament). • In letzter Instanz kann die Sache sogar zum EuGH gelangen.
Initiativrecht (1) Art. 11 Abs. 4 EUV • “Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen. • Die Verfahren und die Bedingungen, die für eine solche Bürgerinitiative gelten, werden nach Artikel 24 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt.”
Initiativrecht (2) Verfahren und Bedingungen • Vorschlag der Kommission vom 31. März 2010 “für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative”, KOM [2010] 119 endg. • Entstehungsgeschichte: • Umfassende öffentliche Anhörung. • Verabschiedung eines Grünbuches (Diskussionspapier, noch ohne konkrete Vorschläge) am 11. November 2009, KOM[2009] 622 endg. • Über 300 Antworten. • Öffentliche Anhörung am 22. Februar 2010. • Ergebnis führte zum Vorschlag für die Verordnung.
Initiativrecht (3) Kontext laut Kommission • Generell:“Eine völlig neue Dimension der partizipatorischen Demokratie” durch die Stärkung der Unionsbürgerschaft und das Recht der Bürgerinnen und Bürger zur Beteiligung am demokratischen Leben der Union. • Initiative: • Verbesserung der demokratischen Arbeitsweise der Union, indem Bürgerinnen und Bürger verschiedener Mitgliedstaaten gemeinsam ein Anliegen unterstützen. • Aber: setzt nur Themenschwerpunkte; berührt nicht das Initiativrecht der Kommission. • Immerhin: die Kommission muss das Anliegen ernsthaft prüfen.
Initiativrecht (4) Organisation und Anmeldung der Initiative • Organisator, Art. 3: • Natürliche Person mit Unionsbürgerrecht und Alter für das aktive Wahlrecht zum EP. • In einem EU-Mitgliedstaat niedergelassene juristische Person. • Anmeldung geplanter Initiativen, Art. 4: • Im Onlineregister der Kommission. • In einer der Amtssprachen der EU (z.Z. 23). • Keine Registrierung von Initiativen, welche missbräuchlich oder nicht ernsthaft sind oder sich eindeutig gegen die Werte der EU richten - bedingt eine Vorprüfung durch die Kommission! • Online Veröffentlichung der geplanten Initiative.
Initiativrecht (5) Unterstützungskundgebungen • Sammlung von Unterstützungskundgebungen, Art. 5 ff.: • Mit dem Formular nach Anhang III, auch elektronisch (erfordert eine weitere, noch zu erlassende Verordnung mit technischen Spezifikationen; siehe auch Art. 14). • Zeitraum: höchstens 12 Monate nach Registrierung der Initiative. • Berechtigte Bürgerinnen und Bürger: • Unionsbürgerschaft, Art. 3 Abs. 2. • Herkunft, Art. 7 Abs. 3:Mitgliedstaat, der das in der Unterstützungskundgebung angegebene Ausweispapier ausgestellt hat. • Mindestalter, Art. 3 Abs. 2:Das erforderliche Alter für Wahlen zum Europäischen Parlament.
Initiativrecht (6) Zulässigkeit von geplanten Initiativen, Art. 8 • Bei Erreichen von 300’000 Unterschriften Antrag an die Kommission auf Entscheidung über die Zulässigkeit der geplanten Initiative, mit Formular gemäss Anhang. • Kommission entscheidet innert zweier Monate: • EU-Rechtsakt zu diesem Thema möglich? • Befugnis der Kommission, einen Vorschlag zu unterbreiten? • Mitteilung an Organisator und Veröffentlichung der Entscheidung.
Initiativrecht (7) Mindestzahlen • Vorgabe des Vertrages: 1 Million Bürgerinnen und Bürger. • Verordnungsentwurf: • Mitgliedstaaten, Art. 7 Abs. 1:Die Unterzeichnenden müssen aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten stammen (d.h. z.Z. aus 9 Mitgliedstaaten). • Bürgerinnen und Bürger, Art. 7 Abs. 2 - Anhang I: • Z.B. Deutschland: 72’000 • Z.B. Frankreich: 55’500 • Z.B. Rumänien: 24’750 • Z.B. Niederlande: 19’500 • Z.B. Litauen: 9’000 • Z.B. Lettland: 6’750 • Z.B. Zypern: 4’500
Initiativrecht (8) Überprüfung und Zertifizierung • Unterstützungskundgebungen, Art. 9: • Antrag durch den Organisator an die Mitgliedstaaten. • Für die Personen, deren Ausweispapier aus den jeweiligen Staaten kommen. • Bescheinigung innerhalb höchstens drei Monaten. • Kostenlos! • Vorlage der Initiative an die Kommission, Art. 10:Mit Formular. • Überprüfung durch die Kommission, Art. 11: • Unverzügliche Veröffentlichung auf der Website. • Prüfung und Mitteilung über die Schlussfolgerungen der Kommission, zum weiteren Vorgehen und zu den Gründen hierfür.
Initiativrecht (9) Datenschutz, Haftung, Weiterentwicklung • Datenschutz: • Schutz personenbezogener Daten gemäss der Richtlinie 95/46/EG. • U.a. Vernichtung der Unterstützungsbekundungen. • Zivil- oder strafrechtliche Haftung der Organisatoren für Verstösse gegen die Verordnung, Art. 13:Sache der Mitgliedstaaten (Pflicht!). • Schliesslich - Weiterentwicklung der Verordnung: • Überprüfung der Anhänge durch die Kommission, Art. 15 ff. • Überprüfung der Verordnung, Art. 21:Bericht der Kommission über die Umsetzung.
Initiativrecht (10) Weitere Schritte • Durchführung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 294 AEUV. • Im Falle der Annahme der Verordnung tritt sie am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft, Art. 22 der Verordnung. • Später:Ein weiteres Gesetzgebungsverfahren für die zusätzliche Verordnung über elektronische Unterstützungskundgebungen (innerhalb von 12 Monaten nach Inkrafttreten der Grundverordnung).
Würdigung Von Laeken zu Lissabon • Zur Erinnerung:In der Erklärung von Laeken von 2001 zur Zukunft der Europäischen Union verpflichtete sich die EU auf u.a. mehr Demokratie. • Ziel erreicht?Zu beachten: “mehr Demokratie” ist ein relatives Ziel, nicht ein absolutes. Insofern ist das Ziel durchaus erreicht worden. • Nicht erreicht - aber auch nicht beabsichtigt:Europäisches Parlament als der Unionsgesetzgeber.