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Vorlesung Medizin-Soziologie

Vorlesung Medizin-Soziologie. Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs/ Soziologische Modelle der Krankheitsentstehung Prof. Dr. Olaf v.d. Knesebeck November 2008. „Wenn Du arm bist, musst Du früher sterben.“. Gilt das auch heute noch?. Gliederung. Was ist soziale Ungleichheit?

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Presentation Transcript


  1. Vorlesung Medizin-Soziologie Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs/ Soziologische Modelle der Krankheitsentstehung Prof. Dr. Olaf v.d. Knesebeck November 2008

  2. „Wenn Du arm bist, musst Du früher sterben.“ Gilt das auch heute noch?

  3. Gliederung Was ist soziale Ungleichheit? Soziale Ungleichheit und Gesundheit

  4. 1. Was ist soziale Ungleichheit? Soziale Ungleichheit bedeutet, dass Menschen • aufgrund ihrer Stellung im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge • von begehrten materiellen und/oder immateriellen Gütern • regelmäßig mehr oder weniger erhalten als andere. Der Begriff der ‘individuellen Ungleichheit’ hingegen bezieht sich auf Differenzierungen • durch “naturgegebene” Merkmale (z.B. aufgrund der genetischen Ausstattung) • oder individuell erworbene Merkmale (z.B. bestimmte Fertigkeiten).

  5. 1. Was ist soziale Ungleichheit? Konzepte sozialer Differenzierung: • Stände • Klassen • Schichten

  6. Stände • gesellschaftliche Stellung wurde in vorindustriellen Gesellschaften durch familiäre Herkunft festgelegt • zentral: Zuweisung von Rechten, Pflichten, Lebensweisen durch Recht, Gesetz, nicht hinterfragbare Tradition

  7. Klassen • allgemein: gesellschaftliche Gruppe, deren Angehörige sich durch ein Statusmerkmal von Angehörigen einer anderen Gruppe unterscheiden (dichotomer Gesellschaftsaufbau) • bei Karl Marx: in industrialisierten Gesellschaften entscheidet die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel über • Klassenzugehörigkeit, • Position im politischenHerrschaftsgefüge, • objektive Lebens-bedingungen • und subjektives Bewusstsein („das Sein bestimmt das Bewusstsein“). • zentral: ökonomisch orientiert, Bezug zu Herrschaft

  8. Soziale Schichten: Bevölkerungsgruppen, deren Angehörige • sich hinsichtlich prägnanter sozio-ökonomischer Merkmale in einer vergleichbaren Lage befinden, • die auf einem Kontinuum von „oben“ und „unten“ (vertikal) innerhalb des Gesellschaftsaufbaus verortet werden kann, • und die ähnliche Lebenschancen und -risiken aufweisen(hier vor allem Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken). Abgrenzung zu den Konzepten ‚Stand‘ und ‚Klasse‘: • Stand: Normierung der Standeszugehörigkeit und der damit verbundenen Lebensweise (nicht der Fall bei Schicht) • Klasse nach Marx: eindimensional (Verfügungsgewalt über Produktionsmittel), Fokus auf Erklärung von Herrschaftsverhältnissen und gesellschaftlichen Konflikten (nicht der Fall bei Schicht: eher deskriptive Ausrichtung)

  9. 1. Was ist soziale Ungleichheit? Moderne westliche Gesellschaften: • keine Standesgesellschaften; • Klassenkonzept von Karl Marx nicht sinnvoll anwendbar (Herrschaftsverhältnisse sind zu einem großen Teil unabhängig von der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel)  Soziale Schichten als wesentliches Konzept der Analyse sozialer Ungleichheit

  10. Zentrale Statusmerkmale in modernen westlichen Gesellschaften nach Auffassung der Schichtungs-forschung: • Bildung, • Berufliche Stellung, Berufsprestige, • Einkommen, Vermögen, Besitz • (‚meritokratische Triade‘)

  11. Klassenzugehörigkeit und Mortalität auf der Titanic (%) 2. Soziale Ungleichheit und Gesundheit

  12. Lebenserwartung nach monatlichem Bruttoeinkommen (Euro) in Deutschland IGKE 2006

  13. 10-Jahres-Mortalität (%) nach beruflicher Stellung (Whitehall I-Studie), N=17.000 Marmot et al. 1984

  14. Schulbildung und Lebenserwartung in Westdeutschland (1984-1993) Männer Frauen Ohne Abitur 57,0 61,6 Mit Abitur 60,3 65,5 Klein 1996

  15. Verhältnis der Sterberaten zwischen manuellen und nicht-manuellen (= 1.0) Berufsgruppen (Männer 30-59 Jahre), in drei Perioden (rate ratio) Dänemark Mackenbach & Bakker 2002

  16. Soziale Ungleichheit und Morbidität • Höhere Risiken in den unteren sozialen Schichten zeigen • sich bei den meisten Erkrankungen, z.B.: • Herz-Kreislauferkrankungen • Diabetes • Lungenkrebs • Depression • Ausnahmen (höhere Erkrankungsrisiken in höherensozialen Schichten): • Allergien • Brustkrebs Knesebeck 2007

  17. Schematische Darstellung des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität hoch Morbidität & Mortalität niedrig hoch niedrig Sozioökonomischer Status

  18. Erklärungen für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit • Drift Hypothese („Krankheit macht arm.“) • Hypothese der sozialen Verursachung („Armut • Macht krank“) • Versorgungssystem (Zugang, Inanspruchnahme, Qualität) • Gesundheitsschädigende Verhaltensweisen • Materielle und psychosoziale Faktoren(familiäre und berufliche Belastungen)

  19. Wartezeit für Facharztbehandlung in Abhängigkeit von der Krankenversicherung Ratio GKV/PKV Werktage Allergietest 1,4 17,6 Augenuntersuchung 2,9 17,0 MRT des Knies 16,8 9,5 Gastroskopie 4,9 24,8 Hörtest 2,1 4,6 Lüngen et al. 2008

  20. Soziale Schicht und Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen: NRW (Odds Ratios* und 95% Konfidenzintervalle) Männer Frauen Oberschicht 1,00 1,00 Mittelschicht 0,93 (0,59-1,47) 0,71 (0,49-1,03) Unterschicht 0,37 (0,20-0,72) 0,41 (0,27-0,63) * Kontrolliert für Alter Richter et al. 2002

  21. Impfungen in den letzten 10 Jahren (%) Bayrische Bevölkerung Kinder- lähmung Hepatitis A Hepatitis B Tetanus Röckl-Wiedmann et al. 2002

  22. Nicht-Teilnahme an U1- bis U8-Untersuchungen nach Status der Eltern (%) Schubert 1996

  23. Erklärungen für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit • Drift Hypothese („Krankheit macht arm.“) • Versorgungssystem (Zugang, Inanspruchnahme, Qualität) • Gesundheitsschädigende Verhaltensweisen • Materielle und psychosoziale Faktoren(familiäre und berufliche Belastungen)

  24. Weitverbreitete gesundheitsschädigende Verhaltensweisen • Fehlernährung • Bewegungsmangel • Rauchen • (starker) Alkoholkonsum

  25. Anteil der Raucher nach Schultyp 2.979 Schüler (12-13 Jahre) Süddeutschland % Scholz & Kaltenbach 1995

  26. Schichtspezifische Verteilung von Gesundheitsverhaltenbei 2561 Kindern; Kiel Obesity Prevention StudyLangnäse et al. (2002) Minuten TV/Tag Ungünstige Ernährung % Aktiv im Sportverein % Sozialschicht bei Geburt

  27. BMI bei 5- bis 7-jährigen Kindern nach sozialer Schicht und Gewichtsstatus der Eltern 18 Übergewicht der Eltern 17 beideElternteile 16 einElternteil 15 keinElternteil 14 niedrig mittel hoch Soziale Schicht

  28. Soziale Schicht und kardiovaskuläre Risikofaktoren: Prävalenzrate (%) bei erwachsenen Frauen in Deutschland Maschewsky-Schneider 1997

  29. Soziale Schicht und kardiovaskuläre Risikofaktoren (Erwachsene, Deutschland, untere vs. obere Schicht: Odds Ratios) Helmert et al. 1995

  30. Einkommen und seltener Konsum ausgewählter Nahrungsmittel bei Frauen: Odds Ratios Helmert et al. 1997

  31. Alkoholkonsum pro Tag bei Erwachsenen (obere vs. untere Schicht) Mielck 2000

  32. Erklärungen für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit • Drift Hypothese („Krankheit macht arm.“) • Versorgungssystem (Zugang, Inanspruchnahme, Qualität) • Gesundheitsschädigende Verhaltensweisen • Materielle und psychosoziale Faktoren(familiäre und berufliche Belastungen)

  33. Soziale Verteilung der Luftschadstoffbelastung in der Außenluft Quelle: Bolte, Kohlhuber 2006

  34. Sozialschicht der Eltern und Anteil der Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht (< 2500g), GB und Wales1986-1992 Pattenden et al. 1999

  35. Sozialschicht der Eltern und durchschnittliche Größe im Alter von 7 Jahren; Jungen der 1958 Kohortenstudie, GB Power & Matthews, 1997

  36. Anforderungs-Kontroll-Modell(R. Karasek) Niedriger Distress hoch aktiv Entscheidungs- Spielraum/ Kontrolle passiv gering hoher Distress! geringhoch quantitative Anforderungen

  37. Modell beruflicher Gratifikationskrisen(J. Siegrist) • Anforderungen • - Verpflichtungen • Lohn, Gehalt • Wertschätzung • Aufstiegsmöglichkeiten,Arbeitsplatzsicherheit Veraus-gabung Belohnung Erwartung (‘übersteigerte Verausgabungsbereitschaft‘) Erwartung (‘übersteigerte Verausgabungsbereitschaft‘)

  38. Mortalitätsrisiko (Herz-Kreislauf-Krankheiten) in Abhängigkeit von psychosozialen Arbeitsbelastungen Nmax=812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre Terzile (Belastung): 1= keine; 2 = mittlere; 3 = hohe Anforderungs-Kontroll- Modell Modell beruflicher Gratifikationskrisen Kivimäki et al. 2002

  39. Soziale Ungleichheit Unterschiede in den Bewältigungs- möglichkeiten (z.B. soziale Unterstützung) Unterschiede in gesundheitlichen Belastungen (z.B. physische/ psychische Belastungen am Arbeitsplatz) Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung (z.B. Zahnersatz, Arzt-Patienten-Kommunikation) Unterschiede im Gesundheitsverhalten (z.B. Ernährung, Rauchen, Compliance) Gesundheitliche Ungleichheit

  40. Zusammenfassung • Die wichtigsten Erklärungsfaktoren für den • sozialen Gradienten von Gesundheit sind: • schichtspezifische Belastungen vor allem in Familie und Beruf, • schichtspezifische Verteilungen gesundheits- schädigender Verhaltensweisen.

  41. Zusammenfassung Da der Einfluss sozialer Ungleichheit primär durch verhaltensbezogene, materielle und psychosoziale Faktoren und weniger durch Merkmale der Kranken- versorgung im engeren Sinn vermittelt wird, ergeben sich praktische Konsequenzen vor allem im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung.

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