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Entwicklungen des Jugendstrafrechts in Europa - ein Vergleich. Frieder Dünkel , Universität Greifswald 2008. Gliederung. 1. Reformtendenzen des Jugendstrafrechts im internationalen Vergleich Leitlinien der Jugendstrafrechtsreform aus der Perspektive internationaler Menschenrechtsstandards
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Entwicklungen des Jugendstrafrechts in Europa - ein Vergleich Frieder Dünkel, Universität Greifswald 2008
Gliederung 1. Reformtendenzen des Jugendstrafrechts im internationalen Vergleich • Leitlinien der Jugendstrafrechtsreform aus der Perspektive internationaler Menschenrechtsstandards • Typologien von Jugendstrafrechtssystemen und Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit im internationalen Vergleich • Die Empfehlungen des Europarats zu “New ways of dealing with juvenile delinquency and the role of juvenile justice” von 2003 • Der Entwurf der „European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions and Measures“ von 2008 • Ausblick
1. Reformtendenzen des Jugendstrafrechts im internationalen Vergleich • Die 1960er und 1970er Jahre: • Die Entwicklung stand maßgeblich unter den Leitworten der vier D’s! • diversion, • decriminalization, • deinstitutionalization (insbesondere von sog. status offenders), • due process
Reformtendenzen im internationalen Vergleich (2) • Die Entwicklung in den 1980er Jahren war geprägt von einem Ansatz des „im Zweifel weniger“, • minimum intervention model, • d. h. der möglichst weitgehenden Vermeidung von Strafverfahren (Diversion) und Strafe, insbesondere Freiheitsstrafe, • Freiheitsstrafe als „ultima ratio“. • In den 1980er, vor allem aber 1990er Jahren aber auch: • Verschärfungen des Jugendstrafrechts, vgl. z.B. England, Niederlande, Frankreich:
Reformtendenzen im internationalen Vergleich (3) • England/Wales: „no more excuses“ („responsibilisation“, „getting tough on crime and on the causes of crime“) und der Criminal Justice and Public Disorder Act von 1998; • z. T. widersprüchliche Tendenzen i. S. d. der vier „R’s“: 1. Restitution (Reparation, Wiedergutmachung), 2. Restorative Justice (Verfahren der Aussöhnung, Täter-Opfer-Ausgleich), 3. Responsibilisation (Verantwortlichmachung des Jugend-lichen und ggf. der Erziehungspersonen, „parenting order“), 4. Retribution (Vergeltung),
Reformtendenzen im internationalen Vergleich (4) • z. B. wenn ambulante Maßnahmen hart („tough“) und „glaubwürdig“ („credible“) ausgestaltet werden sollen; • aus dem „community treatment“ der 1960er Jahre wird „community punishment“(„neo-correctionalist model“, vgl. Cavadino/Dignan 2005). • Das neo-liberale Modell als „Leitmotiv“ des 21. Jahrhunderts? • Aber: Die „European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions or Measures“, die im Juni 2008 beschlossen werden, halten am klassischen Modell eines moderaten und rechtsstaatlichen Jugendstraf-rechts fest! (s. hierzu unten 5.)
Einzelbeispiele aktueller Reformen • Belgien 2006: • Der seit 1965 entwickelte wohlfahrtsrechtliche Ansatz wurde mit der Reform von 2006 beibehalten und durch Elemente der Restorative Justice fortentwickelt. • Die Strafmündigkeit bleibt bei 18, ausnahmsweise 16 Jahren. • Neue Sanktionen des Jugendschutzgesetzes: • Wiedergutmachung (durch Übernahme der Verantwortung, nicht im strafrechtlichen Sinn) • Gemeinnützige Arbeit, Erziehungstraining, Täter-Opfer-Ausgleich, Familienkonferenzen
Dänemark • 1998: Einführung der sog. Jugendvertragsstrafe(youth contract) • Der Jugendliche verpflichtet sich zu bestimmten Leistungen, der Teilnahme an Erziehungs-/Trainings-/Aus-bildungsmaßnahmen etc.; die Staatsanwaltschaft stellt dann das Verfahren ein (= Diversionsregelung) • 2001: Einführung einer spezifischen Jugendstrafe (d. Gericht) • Dreiphasenmodell: sichere Unterbringung, offene Wohnunterbringung, Nachsorge in Freiheit • Dauer der gesamten Sanktion: 2 Jahre, davon maximal 18 Monate in Phase 1 + 2, maximal 12 Monate in Phase 1
Griechenland • Reform 2003: • Strafmündigkeit bzw. Jugendstrafrecht: 12-17 13-18 • Erstmals Möglichkeit der staatsanwaltlichen Diversion, • ggf. in Verbindung mit Täter-Opfer-Ausgleich, Wiedergutmachung, erzieherischen Sanktionen • Erweiterung des Katalogs erzieherischer Maßnahmen des Jugendgerichts • Einschränkung der unbestimmten Dauer ambulanter Erziehungsmaßnahmen • Abschaffung der zeitlich unbestimmten Jugendstrafe (wie in Deutschland 1990) • Strafrestaussetzung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe
Nordirland • Reformen 2000/2002: • Neue Orientierung bei 10-17-Jährigen: Restorative Justice und Youth Conferences • Diversionary Youth Conferences und • Court-ordered Youth Conferences • Folge: Jugendlicher verpflichtet sich in einem Konfe-renzplan (= Vertrag) zu bestimmten Leistungen etc. • Insgesamt stark erzieherisch und wohlfahrtsrechtlich orientiertes System. • Aber seit 2004 auch: Anti-Social-Behaviour-Order!
Frankreich • Reformgesetze von 2002, 2004 und 2007 sehen verschiedene Strafschärfungen, insbesondere für Wiederholungstäter, und die Beschleunigung der Verfahren vor. • 2002: Beschleunigte Verfahren, Erziehungsmaßnahmen schon für 10-12-Jährige, geschlossene Heime (centres éducatifs renforcés) für mindestens 13-Jährige • Beschluss des Baus spezieller Jugendstrafanstalten (établissements pour mineurs), Umsetzung erst seit 2007 • 2004: Einschränkungen der Diversion durch stärkere Berücksichtigung von vorangegangenen Auffälligkeiten
Frankreich (2) • 2007: composition pénal, d. h. gütliche Übereinkunft zwischen dem geständigen Täter, dem Staatsanwalt und i. d. R. dem Opfer, das unmittelbar Wiedergutmachungs-leistungen erhält, • Verschärfungstendenz: bei mindestens 16-jährigen Wiederholungstätern kann die sonst obligatorische Strafmilderung entfallen.
Schweiz • Die Reform des schweizerischen Jugendstrafrechts kann als beispielhaft für ein moderates „wohlfahrtsorientiertes“ Jugendstrafrecht angesehen werden, das noch stark an der klassisch-dominanten Funktion des Jugendrichters festhält. • Vorrang des Erziehungsgedankens einschließlich wiedergutmachender Elemente (restorative justice) • Prinzip der minimalen Intervention • Freiheitsentzug als „ultima ratio“ und ggf. von relativ kurzer Dauer (s. u.) • Vollzug in eindeutig erzieherisch oder therapeutisch geprägten Heimen, kein Jugendstrafvollzug wie in Deutschland
Mittel- und Osteuropäische Länder • Einführung einer spezialisierten Jugendgerichts-barkeit und von spezialisierten Sozialen Diensten der Justiz (Bewährungshilfe, Jugendhilfe) • Milderungen der Sanktionierung • Ausbau von Alternativen zum Freiheitsentzug, u. a. Täter-Opfer-Ausgleich, („Wiedergutmachende Strafrechtspflege“) • Orientierung an internationalen Menschenrechtsstandards (vgl. z. B. Litauen)
2. Leitlinien der Jugendstrafrechtsreform aus der Perspektive internationaler Menschen- rechtsstandards • siehe Höynck/Neubacher/Schüler-Springorum, Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001 • Weltweit: • Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit (United Nations Standard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice, sog. Beijing-Rules) von 1985 • Die Richtlinien der Vereinten Nationen für die Prävention von Jugendkriminalität (United Nations Guidelines for the Prevention of Juvenile Delinquency, sog. Riyadh-Guidelines) von 1990
Internationale Menschenrechtsstandards • Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug (United Nations Rules for the Protection of Juveniles Deprived of their Liberty) von 1990 • Model Law on Juvenile Justice • Die „Kinderrechtskonvention“ der Vereinten Nationen (Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989, Convention on the Rights of the Child), in Deutschland 1992 ratifiziert und in Kraft getreten.
Leitlinien der Jugendstrafrechtsreform • Europa: • Frühere Empfehlungen des Europarats (1987), die als Leitlinien die Erziehung, Resozialisierung, geringst mögliche Intervention, den Vorrang von Alternativen zur Freiheitsstrafe und zur U-Haft hervorheben, • denen insoweit mit die aktuellen Europaratsempfehlungen in der Recommendation 2003 (20) entsprechen (s. u.).
Leitlinien der Jugendstrafrechtsreform (2) • Aktuelle Tendenzen in Mittel- und Osteuropa: • Ablehnung und Aufgabe des „sowjetischen“ Modells • Orientierung und Versuch der Angleichung an westeuropäische Standards • Aufbau einer eigenständigen Jugendgerichtsbarkeit • Einführung neuer alternativer Sanktionen • Implementationsprobleme bei ambulanten Maßnahmen • Einfluss des österreichischen und deutschen Jugendstrafrechts • Beispiele: Strafmündigkeitsalter, Heranwachsendenregelungen
3. Typologien von Jugendstrafrechtssystemen • Wohlfahrtsmodell • Justizmodell • Restorative justice (mediation, family conferencing etc.) • Modell der minimalen Intervention (Vorrang der Diversion) • Neo-liberales System neo-correctionalist approach (Jim Dignan) • Nirgendwo wurde ein Modell „pur“ etabliert.
Typologien von Jugendstrafrechtssystemen (2) • Grundrechteauch in Wohlfahrtsmodellen • International vergleichend:Konvergenz der unterschiedlichen Modelle? • Kombinationen des Wohlfahrts- und Justizmodells einschließlich dem Prinzip der minimalen Intervention und Elementen der „restorative justice“
Charakteristika des Wohlfahrtsmodells • Erziehung statt Strafe als „Leitmotiv“ • Keine strafrechtliche Verantwortlichkeit • Starke Position und weites Entscheidungsermessen des Jugendrichters.
Charakteristika des Wohlfahrtsmodells (2) • Anknüpfungspunkteerzieherischer Interventionen sind typischerweise straffälliges ebenso wie auffälligesVerhalten (z. B. „Verwahrlosung“, „Gefährdung“). • Tendenziell zeitlich unbestimmte Sanktionen, deren Beendigung vom eingeschätzten Erziehungserfolg abhängt. • Das Verfahren ist informell ohne ausgeprägte verfahrensrechtliche Garantien. • Letztere sind nicht notwendig, da der Jugendrichter als „Ersatzvater“ im wohlverstandenen (besten) Interesse des Jugendlichen entscheidet.
Charakteristika des Justizmodells • Demgegenüber knüpft das Justizmodellausschließlich an straffälligem Verhalten entsprechend der allgemeinen Strafgesetze an. • Die Reaktionen sind tatschuldproportional und zeitlich bestimmt. • Erzieherische Bedürfnisse rechtfertigen keine unverhältnis-mäßigen Sanktionen • Das Verfahren sieht die gleichen Garantien wie das Erwachs-enenstrafverfahren vor, • Entscheidungen werden in einem förmlichen Verfahren von (dem Anspruch nach spezialisierten, vgl. § 37 dJGG) Juristen getroffen. • Sozialarbeiter, Psychologen, Pädagogen u.ä. beraten die Juristen bei der Entscheidungsfindung
Charakteristika des Restorative Justice Model • Betonung auf außergerichtlicher Konfliktlösung • Reintegration durch Maßnahmen unter Beteiligung von Täter, Opfer und Gesellschaft (z.B. „re-integrative shaming“, vgl. J. Braithwaite 1989) • Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich, Famlien-Gruppenkonferenzen und andere „kommunitarische“ Ansätze, die die Bindungen in der örtlichen Gemeinde stärken sollen
Charakteristika des Restorative Justice Model (2) • Straftaten werden nicht als rechtliches Problem gesehen, sondern als Konflikt, der durch die betroffenen Parteien und ihr soziales Umfeld gelöst werden kann. • Alle „Sanktionen“ zielen darauf ab, den gesellschaft-lichen Frieden und die Versöhnung zwischen Opfer und Täter wiederherzustellen.
Das „Minimum intervention model“ • Betonung auf außergerichtlicher Verfahrenserledigung, insbesondere Diversion (um Stigmatisierung zu vermeiden, „labeling“) • Vorrang der Non-Intervention (da Jugendkriminalität i.d.R. auch ohne Sanktion episodenhaft bleibt) • Prinzip der Subsidiarität von Kriminalsanktionengegenüber erzieherischen Sanktionen: • „Erziehung statt Strafe“, • ambulante anstatt stationäre (freiheitsentziehende) Sanktionen
Das „neo-correctionalist model“ • Bestrafung nach Grundsätzen des „just deserts“ • Erzieherische Ziele werden nicht gänzlich aufgegeben, allerdings beinhaltet die Betonung der Risikoabschätzung (risk assessment) auch: • geschlossene Einrichtungen der Jugendhilfe und des Jugendstrafvollzugs, insbesondere für Wiederholungstäter („persistent“ oder „violent offenders“).
Das „neo-correctionalist model“ (2) • Besonderer Wert wird auf das Prinzip der „Verantwort-lichkeit“ gelegt („responsibility“), • Nicht nur bezogen auf junge Straftäter, sondern auch bezogen auf seine Eltern/Erziehungsberechtigten • „parenting orders“ • Traditionell nicht kriminelles Verhalten wird „kriminalisiert“: • Die Anti-Social-Behaviour-Order erfasst schlicht gemeinlästiges bzw. auffälliges Verhalten unterhalb der Schwelle strafrechtlich relevanten Verhaltens. • Ausgehverbote u. ä. werden mit curfew orders durchgesetzt und ggf. „kriminalisierbar“!
4. Die Empfehlungen des Europarats („New ways of dealing with juvenile delinquency and the role of juvenile justice“) von 2003 • Die Europaratsempfehlung 2003 (20) enthält einen „Mix“ von Wohlfahrts-, Justiz-, Restorative-justice-, Minimum- intervention- und neo-liberalen Orientierungen, • ein Warenhaus der Jugendkriminalrechtspolitik? • Gefahren und Vorteile. • Selbst wenn man einen Grundkonsens einer europäischen Jugendstrafrechtsphilosophie annehmen kann, hat dieser doch keinen harmonisierenden Effekt auf die Festlegung von Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit gehabt.
Tabelle 1: Vergleich der Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Europa
* Nur Strafmilderungen im allg. Strafrecht ** Bestrafungsmündigkeit - Jugendstrafvollzug; *** Nur für Straßenverkehrsdelikte **** Nur für einige besonders schwere Delikte ***** Anwendung des Jugendrechts, keine strafrechtliche Verantwortlichkeit i. e. S. ****** Nur erzieherische Maßnahmen (sanctions éducatives)
Sonderregelungen für Heranwachsende im europäischen Vergleich Bosnien, Däne- mark, Deutschland, Finnland, Frank- reich, Griechenland, Irland, Italien, Kro- atien, Litauen, Öster-reich, Polen, Portu- gal, Russland, Schott-land, Serbien, Slowakei, Schweden, Schweiz, Tschech. Rep. Ungarn, A, BOS, CR, CZ, D, LIT, SK * kein spezielles Jugendstrafrecht, aber Transfer ins Jugendhilferecht Bulgarien,England/Wales, Estland, Lettland, Spanien Länder ohne spezielle Regelungen für Heranwachsende
Die Empfehlungen des Europarats („New ways of dealing with juvenile delinquency and the role of juvenile justice“) von 2003 im Einzelnen • Zur Recommendation 2003 (20) siehe www.coe.int: • Ziele: • Vorbeugung von Kriminalität und Rückfall, • Resozialisierung und Wiedereingliederung von Straftätern und • Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen von Verbrechensopfern.
Recommendation 2003 (20) • Der strategische Ansatz: • Das Jugendstrafrechtssystem ist als Teilsystem in einer breiteren gemeindeorientierten Strategie zur Vorbeugung von Jugendkriminalität zu sehen, die den Kontext von Familie, Schule, Nachbarschaft und Gleichaltrigengruppe, in dem Jugendkriminalität entsteht, berücksichtigt (Nr. 2 der Recommendation).
Recommendation 2003 (20) (2) • Die Ressourcen der Jugendstrafrechtspflege sollen auf schwere, gewalttätige und wiederholte Jugendkrimi-nalität (serious, violent and persistent offending), ggf. in Verbindung mit Alkohol und Drogenproblemen, konzentriert werden (Nr. 3). • Es müssen geeignetere und effektivere Maßnahmen der Vorbeugung und Wiedereingliederung auch für junge Migranten, gruppenorientierte Täter, junge Mädchen und noch nicht Strafmündige entwickelt werden (Nr. 4).
Recommendation 2003 (20) (3) • Sanktionen sollten soweit möglich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Wirkungsforschung beruhen • „what works, with whom and under what circumstances“, Nr. 5). • Besondere Aufmerksamkeit der Jugendkriminalpolitik ist den Konsequenzen für ethnische Minderheiten zu widmen, • deshalb sollen die Verantwortlichen zu sog. impact statements verpflichtet werden (Nr. 6).
Recommendation 2003 (20) (4) • Als „neue Antworten“ schlägt die Empfehlung vor: • Die Ausweitung der Diversion sollte fortgesetzt werden, • dabei ist die Tatproportionalität (der Verhältnismäßig-keitsgrundsatz) zu wahren und • die Freiwilligkeit des Täters zu beachten (Nr. 7).
Recommendation 2003 (20) (5) • Bezogen auf schwere, gewalttätige und wiederholte Jugendkriminalität sollten ambulante (verhältnismäßige) Sanktionen fortentwickelt werden (ggf., soweit nicht kontraproduktiv, auch unter Einbeziehung der Eltern in die Verantwortlichkeit), • insbesondere auch auf Wiedergutmachung und Aussöhnung mit dem Opfer ausgerichtete Maßnahmen (Nr. 8, 10).
Recommendation 2003 (20) (6) • In Anbetracht der verlängerten Ausbildungszeiten und Statuspassagen ins Erwachsenenleben sollten die Sanktionen des Jugendstrafrechts bei Heranwachsenden entsprechend der Reifeentwicklung angewandt werden können(Nr. 11). • Im übrigen betonen die Empfehlungen an verschiedenen Stellen, die Notwendigkeit von auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgenden Interventionen (risk assessment, evidence based interventions) und • der empirischen Evaluation.
Recommendation 2003 (20) (7) • Obwohl auch „neo-korrektionalistische“ Gedanken (z. B. bzgl. der Haftung von Eltern) anklingen, bleibt die Empfehlung Rec (2003) 20 der Tradition eines mode-raten (Stichwort: minimum intervention) Erziehungs-strafrechts verhaftet, das auch bei schwerwiegenderer Kriminalität auf ambulante erzieherische Sanktionen setzt.
Recommendation 2003 (20) (8) • Der in populistischen Wahlkämpfen immer wieder aufkommende Ruf nach mehr Härte (siehe das Beispiel Hessen im Januar 2008) kann sich damit jedenfalls nicht auf die Empfehlungen des Europarats berufen! • Die Implementation der Europaratsempfehlungen soll unter Beachtung von Qualitätsstandards in enger Zusammenarbeit der örtlichen Träger der Prävention und Intervention erfolgen. • Ein ständiges „monitoring“ wie die Verbreitung („dissemination“) guter Praxismodelle gehören ebenfalls zu den neuen Strategien.
5. Die „European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions and Measures“ (ERJOSSM) von 2008 • Im April 2008 hat eine Expertengruppe in Zusammenar-beit mit dem Penological Council des Europarats die Arbeiten an einer Empfehlung des Europarats abge-schlossen, die Mindestgrundsätze für Jugendliche und Heranwachsende unter ambulanten und stationären Maßnahmen (d. h. auch im Jugendstrafvollzug) entwickelt. Die Regeln werden am 8.10.2008 verabschiedet werden. • Damit werden Leitlinien für den Vollzug ambulanter und jeglicher freiheitsentziehender Sanktionen (Untersuchungshaft, Heimerziehung, Jugendstrafvollzug, psychiatrische Unterbringung u. ä.) gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden formuliert
„European Rules for Juvenile Offenders Subject to Sanctions and Measures“ (2) • In 20 sog. „Basic Principles“ werden auch Grundsätze für die Orientierung eines „Europäischen Jugendstrafrechts“ aufgestellt, die sich an den früheren Leitprinzipien des Europarats und der UN orientieren: • Ziel:“To uphold the rights and safety of juvenile offenders subject to sanctions or measures and to promote their physical, mental and social well-being when subjected to community sanctions and measures or any form of deprivation of liberty.”
Leitprinzipien der ERJOSSM • Achtung der Menschenrechte • Soziale Integration, Erziehung und Rückfallprävention als alleinige Ziele • Nur zeitlich bestimmte Sanktionen von möglichst kurzer Dauer (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) • Vorrang der minimalen Intervention (Diversion und Täter-Opfer-Ausgleich) • Keine erniedrigenden Sanktionen und Vollzugsformen (z. B. bei gemeinnütziger Arbeit) • Freiheitsentzug als ultima ratio und so kurz wie möglich
Leitprinzipien der ERJOSSM (2) • Prinzip der Beteiligung und Mitwirkung der Jugendlichen und ihrer Eltern • “Multi-disciplinary and multi-agency approach”, d. h.Zusammenarbeit von Polizei, JGH, Jugendstaatsanwalt-schaft, Jugendgericht, ggf. auch Schule, Psychologen, Drogenberatung etc. • Beispiel in Deutschland: Häuser des Jugendrechts • Heranwachsende sollen in das Jugendstrafrecht einbezogen werden, wenn dies geeignet erscheint (u. a. wenn sie ihrem Reifegrad Jugendlichen gleichzustellen sind). • Vorbild: deutsche Regelung und Praxis!
Leitprinzipien der ERJOSSM (3) • Ausreichendes Personal, um sicherzustellen, dass die Maßnahmen wirkungsvoll sein können. • Ein Mangel an Geld kann niemals Einschränkungen von Grundrechten rechtfertigen. • Sufficient resources and staffing shall be provided to ensure that interventions in the lives of juveniles are meaningful. Lack of resources shall never justify the infringement of the human rights of juveniles.
Leitprinzipien der ERJOSSM (4) • Grundlegendes Prinzip für die Anordnung und den Vollzug aller Sanktionen und Maßnahmen: • Das Jugendstrafrecht muss auf wissenschaftlich anerkannten und evaluierten Formen der Intervention basieren! („evidence based“) • D. h. z. B. für Deutschland: • Warnschussarrest und andere Formen eines „short sharp shock“ sind nicht legitimierbar! • Die Erhöhung von Höchststrafen ist nicht legitimierbar! • Andererseits: das Konzept eines moderaten und besonne-nen Umgangs, wie er für die deutsche Jugendstrafrechts-pflege typisch ist, wird bestätigt.
9. Ausblick • Jugendkriminalität ist nach wie vor weniger besorgnis-erregend als manche Medien suggerieren. • Der Anstieg der Jugendgewalt ist – soweit ein solcher überhaupt angenommen werden kann – im Dunkelfeld weit weniger spektakulär als im Hellfeld, • d. h. das Anzeigeverhalten hat sich verändert. • Bei den Verurteiltenzahlen ist der Anstieg deutlich geringer als auf polizeilicher Ebene, • d. h. es werden häufiger weniger schwere Gewalttaten angezeigt, die später wegen Geringfügigkeit eingestellt werden (Diversion).
Ausblick (2) • Im übrigen verdienen Kinder und Jugendliche eher als Opfer denn als Täter der Gewalt die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. • Jugendkriminalität ist nach wie vor in aller Regel episodenhaft und weniger schwer. • Gleichwohl bedarf es bei einer kleinen Gruppe erheblich und mehrfach Belasteter der (u. U. frühzeitigen) norm-verdeutlichenden Reaktion. • Die klassischen Formen der Jugendhilfe und ambulanter Erziehungshilfen sind zumeist ausreichend und erfolgreich. • Wenn stationäre Unterbringung unerlässlich erscheint, sollte diese in einem erzieherischen (therapeutischen) Milieu (Heimerziehung oder sozialtherapeutischer Jugendstraf-vollzug) stattfinden (vgl. das Vorbild der Schweiz).
Ausblick (3) • Die Tendenzen der Jugendkriminalpolitik in Europa sind – soweit sie auf eine Ausweitung der erzieherischen Resozialisierungsan-gebote einschließlich einer Verstärkung der Wiedergutmachung („restorative justice“) gerichtet sind – zu begrüßen. • Insofern kommt den aktuellen Empfehlungen des Europarats von 2003 und von 2008 eine richtungsweisende Funktion zu. • Die in einigen Ländern erkennbaren neo-liberalen, vorwiegend auf Bestrafung und Vergeltung ausgerichteten Ansätze sind keine sinnvolle Strategie und widersprechen diesen Empfehlungen.