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Sprache und Selbstorganisation : Von der biologischen zur kulturellen Evolution der Sprache. Wolfgang Wildgen (Universität Bremen). Linguistisches Kolloquium im Rahmen des „Festivals der Sprachen“, Teerhof, Bremen, 18.09.2009. Inhalte. 1 Was heißt „Selbstorganisation“?
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Sprache und Selbstorganisation :Von der biologischen zur kulturellen Evolution der Sprache Wolfgang Wildgen (Universität Bremen) Linguistisches Kolloquium im Rahmen des „Festivals der Sprachen“, Teerhof, Bremen, 18.09.2009
Inhalte • 1 Was heißt „Selbstorganisation“? • 2 Inwieweit ist die Sprache, zumindest in einigen Bereichen ein selbstorganisiertes System? • 3 Szenarien einer biologischen Selbstorganisation der menschlichen Sprachfähigkeit • 4 Exkurs: Die mögliche Struktur einer Protosprache • 5 Kulturelle Sprachevolution und Selbstorganisation • 6 Modelle der „Selbstorganisation“ • 7 Schlussbemerkungen
Was heißt „Selbstorganisation“? Das Gegenteil von Selbstorganisation ist eine simple kausale Kette, die von einem Erstbeweger ausgehend das Endergebnis (das beobachtbar ist) erzeugt. Etwas metaphysischer, aber nach dem gleichen Schema: Gott bewegt den äußersten Himmel, dieser den nächsten usw.; in der sublunaren Welt wird der Mensch bewegt. Wenn man sich auf einige zentrale Merkmale konzentriert, dann heißt „Selbstorganisation“: • Das Ganze zeigt eine einfache Dynamik trotz der unüberschaubaren Vielfalt einzelner Teile und Prozesse. • Die kausalen Wirkungen erfolgen in viele Richtungen gleichzeitig und ihre Effekte überlagern sich, wobei neue Strukturen hervortreten (Emergenz). • Es gibt Kreisprozesse, d. h. die Wirkungen werden mit den Ursachen zurückgekoppelt; dabei können neutrale Vermittler (so genannte Katalysatoren) auftreten.
Selbstorganisationsprozesse in der Sprache: Ein Überblick • Evolutionäre Prozesse. Sieht man von der Hypothese einer göttlichen Detailsteuerung ab, so kommen eigentlich nur Selbstorganisationsprozesse in Frage. Dabei herrschen allerdings komplizierte Rand-bedingungen, die im Rahmen einer modernen Evolutionstheorie zu beschreiben sind. • Die romantische Sprachwissenschaft versuchte, Sprachen wie Organismen zu behandeln und sogar die Evolutions-theorie Darwins zur Beschreibung der Ausdifferenzierung von Sprachfamilien heranzuziehen (siehe die Stammbäume von Sprachen und Spezies bei Schleicher 1863). Die Selbstorganisationstheorie kann die Gründerintuition der Philologen des frühen 19. Jh.s in einem geeigneten Rahmen realisieren.
Der Spracherwerb wurde schon seit den Arbeiten von Piaget als Selbstorganisationsprozess verstanden (er spricht von „Formen kognitiver Selbstregulationen, die flexibel und konstruktiv sind“ (Furth, 1972: 275). • In der neueren komparatistischen Forschung stehen Grammatikalisierungsprozesse im Vordergrund, Untersuchungen zum Sprachwandel „in progress“ behandeln das Zusammenwirken von inneren und äußeren Kräften beim Sprachwandel oder wählen die „hidden hand“-Metapher, die ein historischer Vorläufer der Selbstorganisationstheorien ist. Die Anwendung von Modellen der Selbstorganisation in diesem Bereich ist aber noch kaum entwickelt.
In diesem Vortrag nicht behandelt: • In der Lautproduktion und -rezeption spielen sich komplexe, hochkooperative Prozesse ab. In diesem Bereich können gut entwickelte Modelle der Selbstorganisation angewandt werden (vgl. Kelso, 1997 und Oudeyer 2006). • Ziemlich einfach lässt sich der Selbstorganisationscharakter bei der spontanen Erzeugung („Aktualgenese“) sprachlicher Strukturen beobachten. Dazu gehören sowohl Innovationen im Lexikon als auch Makroformen wie die Erzählung und der Diskurs. Bei der Reifung des Gehirns spielen sich komplizierte Selbstorganisationsprozesse ab. Es ist keineswegs so, dass das Wachstum direkt durch den genetischen Code gesteuert ist, vielmehr werden Neuronen "im Überschuss" produziert, deren Überleben dann durch lokal sehr unterschiedliche Mechanismen reguliert wird, wodurch eine plastische und funktional adaptierte Struktur entsteht. Diese Struktur des Gehirns ist die Basis für eine interaktive, soziale Formung des Denkens und der Sprache in den Prägungsphasen.
Szenarien einer biologischen Selbstorganisation der menschlichen Sprachfähigkeit Während die Abtrennung der zum Menschen führenden Evolutionslinie von derjenigen der heutigen Primaten (Schimpansen, Orang-Utan, Gorilla) fast 10 Millionen Jahre (MJ) zurückliegt, sind menschenähnliche Formen mit dem Typ des Homo erectus ab 2 MJ belegt; genetische Berechnungen an heute lebenden menschlichen Populationen lassen einen gemeinsamen Ausgangspunkt der genetischen Differenzierung vor etwa 400.000-200.000 J.v.h. vermuten.
Drei große Phasen der Migration und biologischen/kulturellen Evolution
Szenario A: Das Szenario einer Evolution der Sprache als Nebeneffekt (spandrel) anderer evolutionärer Prozesse. Die Evolution betrifft zuerst kognitive Fähigkeiten (im Wesentlichen Motorik und Wahrnehmung) im Zusammenhang der Entwicklung des aufrechten Ganges, des frontal orientierten Gesichtes und der Mobilität und verfeinerten Kontrolle der Hände. Diese Entwicklungen wurden von einem Gehirnwachstum begleitet, das seinerseits eine Vergrößerung des Beckens (besonders bei Frauen) und eine Art regulärer „Frühgeburt“ des Menschen als notwendige Anpassungen voraussetzte. Als Nebeneffekt dieser wohl unter Selektionsdruck entstandenen Veränderungen entstand ein Sprachpotential (das bei der Selektion nicht selbst eine Rolle gespielt haben muss).
Szenario B: Sprache als Ergebnis von Isolation und genetischem Drift, das Bottle-Neck-Szenario. Auf der Basis des bereits in der Tierkommunikation verfügbaren Verhaltensrepertoires und einer großen Variation dieses Repertoires konnten sich isolierte Teilgruppen auf eine sehr spezielle Variante der Lautkommunikation konzentrieren. Dieser Prozess könnte sich wiederholt haben, wobei nach der Isolation jeweils eine „sprachstarke“ Variante überlebt und sich ausgebreitet hätte. Wenn die anderen isolierten Gruppen aussterben, kann eine iterierte Bottle-Neck-Situation relativ schnell die „sprachstarke“ Variante durchsetzen. Ist das Merkmal der Sprachkapazität einmal ausreichend ausgeprägt, kann es als Fitness-Vorteil im normalen darwinistischen Mutation-/Selektions-Mechanismus konsolidiert bzw. optimiert werden. Als Koevolution müssen Gehirnwachstum und lange Prägungs- bzw. Lernphasen parallel entstehen, da sonst die zerebralen und sozialen Mindestbedingungen für den Spracherwerb nicht gegeben sind.
Szenario C: Sprache als Ergebnis einer schnellen sexuellen Selektion, das „runaway“-Szenario. Eine schnelle, auch „run-away“-Evolution genannt, könnte durch eine innerartliche Koevolution weiblicher Präferenzen (auch männlicher) und der Förderung passender Merkmale durch sexuelle Selektion erfolgt sein. Es kann zu einem „Wettrüsten“ – etwa zwischen Männchen – kommen. Die sexuelle Selektion geht aber nicht nur vom (passiven) Weibchen aus. Wird etwa die Sozialstruktur derart verändert, dass das Männchen mehr in die Brutpflege investieren muss, wird die Auswahl geeigneter Männchen reduziert, d.h. die Weibchen müssen „aufrüsten“ und um die „besten“ Männchen konkurrieren, so dass deren Präferenzen als Kriterien der sexuellen Selektion zum Tragen kommen.
Szenario D: Die Explosion der Nachahmung wird als Basis eines schnellen Anstiegs der Repräsentations-formen angenommen, die durch die Entfaltung der Sprachfähigkeit stabilisiert und vermehrt werden. Dieses Szenario geht davon aus, dass eine bestimmte neuronale Ausstattung charakterisiert durch die Existenz von „Spiegel-Neuronen“ das Beobachten fremden Verhaltens, die Übertragung auf den eigenen Körper und damit das Fremdverstehen und Verhaltenslernen potenziert. Die Anlage dazu existiert bereits bei Primaten, ermöglicht in der weiteren Entwicklung jedoch eine neue Dimension sozialen Lernens und damit die Herausbildung von „Traditionen“. Die Sprache wäre das Medium, welches zur besseren Organisation dieser Traditionen benötigt wird.
Szenario E: Die Lautsprache als Folge der Evolution menschlicher Werkzeuge und als Konkurrenz zu einer „Hand-Sprache“. Dieses funktionalistische Szenario wurde bereits von Condillac (1746) unter der Überschrift „Le langage d’action et celui des sons articulés considérés dans leur origine“ skizziert. Durch die neueren Forschungen zur Sprachähnlichkeit der Taubstummensprachen bekam diese vielfach kritisierte Theorie neue Nahrung. Armstrong, Stokol und Wilkox (1995) sprechen von einer Ablösung des „hand-talk“ durch einen “speech-alone-talk“. Die „Hand-Sprache“ kann man außerdem mit der Entwicklung von Steinwerkzeugen seit etwa 2 MJ und deren Differenzierung bis zum Aufkommen der Metallbearbeitung in Zusammenhang bringen. Sie ist zeitlich zumindest koextensiv mit dem möglichen Zeitraum der Sprachevolution.
Szenario F: Sprache als Medium kultureller Symbole. Unter der Annahme, dass die kognitive Evolution im Wesentlichen sprachunabhängig erfolgt sei, wäre eine relativ späte Ausbildung der lautsprachlichen Kommunikation vorstellbar. In diesem Fall könnte man anstelle der Kommunikation und Sozialstruktur von Primaten (etwa von Schimpansen) die Sozialstruktur traditioneller Stammeskulturen, z.B. in Südafrika, Nordsibirien oder Australien, als Ausgangsbasis nehmen. Livingstone (1983) geht davon aus, dass der Vorteil für die Entwicklung einer hochspezialisierten menschlichen Laut-Sprache nicht ausreichend gewesen wäre. Dagegen sei die Raumaufteilung konkurrierender Gruppen, wenn sie ohne ausgedehnte Pufferzonen und ständige Aggression auskommen wollen, auf ein symbolisches Medium angewiesen. Livingstone verdeutlicht das Prinzip an der Kariera-Population in Nordaustralien. Es herrscht ein exogames Prinzip, d.h. die Frauen werden mit benachbarten (klar definierten) Gebieten ausgetauscht. Die Territorien selbst sind durch den Besitz von Totem-Orten symbolisch besetzt und werden durch eine sakrale Instanz stabilisiert.
Exkurs: Die mögliche Struktur einer Protosprache • Proto-Phonetik (Phonologie), wobei die auditive von der produktiven Phonetik/Phonologie zu unterscheiden ist, • Protopragmatik und Protosemantik (Umsetzung des erweiterten ökologischen und sozialen Wissens in eine Form der sozialen Kommunikation). • Protosyntax (sowohl von Wörtern als auch von Sätzen); der Ausgangspunkt ist die Entstehung von Morphemfolgen bzw. das Anwachsen des Lexikons (z.B. jenseits von 30-50 Wörtern). Die Protosemantik und Protosyntax bilden eventuell eine noch nicht differenzierte Protosemantax.
Protophonetik (auditiv und produktiv) MacNeillage und Davis (2000) gehen von einfachen Bewegungen der Backenmuskulatur und der Lippen aus, wie sie für das Kauen, Beißen, für Lippenbewegungen (Saugen; bei Schimpansen auch Lippengestik) vor der Sprache verfügbar waren. Silben einer Protosprache • CV – koronaler Konsonant + frontaler Vokal, z.B. te–te–te • CV – labialer Konsonant + zentraler Vokal , z.B. ba–ba– ba • CV – dorsaler Konsonant + hinterer Vokal , z.B. go–go– go • CVC – labialer Konsonant – Vokal – koronaler Konsonant: , z.B. bat, bod, pet, …
Protosemantik Hierarchie der Situationsdistanz • Das indexikalische Zeichen (z.B. Rauch für Feuer; Donner für Blitzschlag) beinhaltet zwar eine zeitliche und räumliche Distanz (Blitz und Donner werden zeitlich oft viele Sekunden getrennt wahrgenommen, da das Licht schneller ist als der Schall). Im Prinzip sind kausale Verbindungen aber schon auf der Stufe der höheren Primaten einsehbar. • Das ikonische Zeichen bezieht sich auf eine dem Benützer interne Ähnlichkeitsmatrix, löst sich also vom raumzeitlichen Kontext; außerdem können die Ähnlichkeitsdimensionen aus einer großen Vielfalt an Möglichkeiten ausgewählt werden. In Bereichen wie der Form- und Prozesswahrnehmung können die Raster allerdings so spezies-typisch einheitlich sein, dass auch die ikonische Beziehung stark motiviert ist.
Das Symbol schließlich maximiert die Unabhängigkeit von Situation und Individuum, ist minimal oder gar nicht motiviert und entspricht dem Prototyp des arbiträren Zeichens bei Ferdinand de Saussure. Die jeweiligen Auswahlchancen, die sich vom Index über das Ikon zum Symbol in ihrem Informationsgehalt steigern, haben als Preis, dass sie im Gedächtnis verstetigt werden müssen, und dass dieses Gedächtnis sozial geteilt werden muss, damit die Verständigung zuverlässig ist.
Protopragmatik und kulturelle Techniken • Für die Protopragmatik ist die kognitive Planung und Ausführung komplexer Handlungen wichtig. Diese motorischen Programme sind die mögliche Basis der Beherrschung komplexer symbolischer Gestalten, z.B. in der „Sprache“ komplexe Wörter, Sätze, Texte. Aus der Pragmatik komplexer zeitlich geordneter Gestalten könnten sich semantisch-syntaktische Muster, wie sie auch morphologisch komplexe Wörter, Sätze und Texte aufweisen, entwickelt haben.
Die präziseren Abschlagtechniken des Homo erectus (in seiner weiteren Evolution) sind gegliedert und beinhalten bis zu 50 einzelne Schritte. Diese Technik wurde neben der Verarbeitung von Holz und Knochen zur Grundlage von sog. „Industrien“, d.h. es wurde große Serien gleichartiger Objekte hergestellt. • Beim Cro-Magnon-Menschen kommen sehr kleine Instrumente (etwa Pfeilspitzen, Nadeln) hinzu; die Technik des Abdrückens der Kanten erlaubt außerdem schärfere Instrumente bzw. deren Nachschärfung. Erst im Neolithikum kommen das Schleifen von Stein (nicht in Tasmanien) und dann natürlich die Metalltechniken (Gold, Silber, Kupfer, Bronze, Eisen usw.) hinzu.
Protosyntax In vielen (minimalistischen) Sprachverwendungen sind verzichtbar : • Rekursivität (wie Mehrfachattribute und wiederholte Subordinationen). • Positionelle Flexibilität im Sinne der Transformations-grammatik. Als zentrale Eigenschaften einer Protosyntax bleiben: • Struktur: Der Satz ist keine zufällige Abfolge von Elementen; es gibt Regeln der Satzordnung (die Techniken können verschieden sein). • Hierarchie: Es gibt mehr als eine Ebene, auf der solche Strukturen (siehe oben) existieren.
Von der biologischen zur kulturellen Selbstorganisation • Die Sprachfähigkeit als solche wurde nicht mehr modifiziert, da jede Sprache von allen heutigen Menschen im Kindesalter erlernbar ist. Die weitere „Evolution“ betrifft in erster Linie die kulturelle Organisation und die weiteren bzw. abgeleiteten symbolischen Formen: Religion (Mythos), Wissenschaft/Technik, Kunst und spezielle Sprachformen, wie Schriftsprachen, neue Medien usw. In diesem Kontext stellt sich die Frage: Sind Veränderungen der sozialen Organisation, wie sie etwa die paläolithische Höhlenmalerei (37-16.000 J. BP) oder die neolithische Revolution mit Ackerbau und Viehzucht mit sich brachten, oder auch die Organisation der frühen Reiche in Mesopotamien und Ägypten (ab 5000 BP) wirklich „Evolutionen“, welche im Kulturellen die biologische Evolution fortsetzen?
Wendet man diese Fragestellung auf jetzt stattfindende und beobachtbare Prozesse an, stößt man auf die negative Antwort, das von Labov diskutierte Darwin-Paradox: • „The evolution of species and the evolution of language are identical in form, although the fundamental mechanism of the former is absent in the latter“ (Labov, 2001: 15) Gemäß einer bereits kurz nach Darwins Schrift (1859) von August Schleicher (1863) formulierten These verhalten sich Sprachen scheinbar wie Spezies, d.h. sie erzeugen „genetische Stammbäume“. Wörter und sprachliche Konstruktionen werden verdrängt, ersetzt (ausgelesen). Es ist aber die fast einhellige Meinung moderner Typologen (Humboldt sprach wie Herder noch von einer Höherentwicklung der flektierenden Sprachen), dass sich Sprachen insgesamt in ihrer Leistungsfähigkeit nicht unterscheiden, also nicht direkt oder nachweisbar einem Adaptations- oder Selektionsdruck unterliegen. Greenberg (1959: 69) sagt: • „Taking linguistic change as a whole, there seems to be no discernible movement toward greater efficiency such as might be expected if in fact there were a continuous struggle in which superior linguistic innovations won out as a general rule.“
Spätestens in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens gab es eine Schicht von Priestern, Schriftkundigen und Gelehrten, durch die symbolische Formen, wie der Mythos, die Schriftsprache und die Kunst, gezielt gestaltet wurden, d.h. es gab Pläne und Absichten. Allerdings sind deren Akteure wiederum viele und sie handeln insgesamt als Teilsystem eines größeren kulturellen Systems. Die Summe ihrer Entscheidungen muss deshalb jeweils in ein Gleichgewicht mit vielen Kräften gebracht werden und die Bedingungen verändern sich in historischer Zeit. So kam es z.B. beim Wechsel der Dynastien (und der Hauptstädte) in Ägypten jeweils zu religiösen und künstlerischen Umbrüchen. Echnaton versuchte eine religiöse Revolution in Richtung eines Monotheismus (als Sonnekult) und scheiterte, während vergleichbare monotheistische Tendenzen von Moses nach dem Auszug aus Ägypten in Palästina verwirklicht werden konnten. Die Schriftsysteme der mesopotamischen und ägyptischen Kulturen wurden von den Seevölkern (z.B. den Phöniziern, später den Griechen) adaptiert und schließlich zur Alphabetschrift umgeformt, die sich dann in vielen Varianten über die Welt ausbreitete.
Selbstorganisation in der Kreolgenese • In der Kreolgenese einer Sklavenhalter- oder Plantagengesellschaft steht einer Mehrheit nicht organisierter (da aus vielen Ethnien und Sprachen stammender), meist sehr jungen und deshalb kulturell schwachen Sklaven eine Minderheit von Europäern gegenüber, von denen außerdem nur wenige mit den Sklaven in intensive Kommunikation treten (so etwa Missionare oder Mitglieder von staatlichen Kommissionen zur Kontrolle der Kolonisation). In dieser Situation kann eine kleine Gruppe halbwegs zweisprachiger Sklaven, die zwischen Kolonisatoren und Sklaven und zwischen Neuankömmlingen und bereits in der Kolonie sozialisierten Sklaven vermitteln, eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie sind quasi der Kristallisationspunkt, an dem sich eine Vielfalt unstabiler Behelfssprachen (auf beiden Seiten) zu einem brauchbaren Kommunikationsinstrument formt, das dann als Sprachangebot von den folgenden Generationen weiter ausgebaut und konsolidiert wird.
In einer anderen ebenfalls typischen Kolonialsituation findet der Kontakt nur in begrenzten Situationen (z.B. am Arbeitsplatz, etwa im Hafen) statt (siehe das China-Coast Pidgin). Die Muttersprachen der Arbeiter und ihre Ursprungskultur werden von dem Erwerb der Zweisprache (des Pidgin) nur unwesentlich beeinflusst (etwa über Entlehnungen). In vielen Fällen entstehen die Städte aber erst dadurch, dass eine Handelszone (ein Hafen) geschaffen wird. Die aus dem Hinterland einströmenden Bewohner etwas in Papua Neuguinea haben keine gemeinsame Sprache und eines (oder mehrere bei eine Konkurrenz von Städten) der vorübergehend entstandenen Pidgins wird zum Kreol ausgebaut. Dies ist die Situation, welche von der Standardhypothese: Pidgin > erweitertes Pidgin > Kreol abgedeckt wird.
Die Entstehung von Kreolsprachen als Muster der Organisation von Sprachsystemen Aus den Englischen „by and by“ entstanden folgende Formen: • baimbai – temporales Adverb vor dem Verb • bai – Futurindikator /em bai I go / = ich werde gehen • Reduzierung /em bi-i go / = ich werde gehen Sankoff und Laberge (1973) konnten Eltern und ihre Kinder in der Entwicklung des Tok Pisin, einer nach der Unabhängigkeit von Papua Guinea zum Kreol (schließlich zur Nationalsprache) entwickelten Kontaktsprache, beobachten.
Die Kinder folgen ihren Eltern in der Tendenz und verstärken diese lediglich. • Korrelation der Kinder und Eltern bei der Akzent-reduktion der Futur-Markierung bai im Tok Pisin. • vgl. Labov, 2001: 425
Selbstorganisationsprozesse in der Sprachgeschichte • Es galt lange als akzeptiert, dass die historische Linguistik eine maximale Zeit-Tiefe von 8 000 bis 10 000 Jahren hat, da zu viel Rauschen in den Daten sei, um zuverlässig weiter zurück zu gelangen. Immerhin wurden Sprachfamilien wie das Eurasiatische (Greenberg) oder gar das Nostratische (Dolgopolsky) vorgeschlagen, die jenseits dieser Grenze liegen. Genetische Analysen haben zudem für die Rekolonisation Europas nach der letzten Eiszeit aus einem Refugium in Südfrankreich/Nordspanien die Zeitspanne zwischen 15 000-10 000 angesetzt. Die Erstbesiedlung Amerikas und damit der Ursprung der von Greenberg Amerind genannten Sprachfamilie liegt auch jenseits der 10 000-Jahre-Grenze (Erstbesiedlung 15-50 000 J. v.h.; vgl. Cavalli-Sforza, 1996: 81). Abb. 2 zeigt Renfrews Hypothese einer Ausbreitung der franko-kantabrischen Bevölkerung nach der letzten Eiszeit.
Langzeitentwicklungen und Rekonstruktionen Ausbreitungswege einer franko-kantabrischen Bevölkerung von 15 000-10 000 J.v.h. (vgl. Renfrew, 2000: 478). Auf sie folgen nach der neolithischen Revolution in Kleinasien Ausbreitungsgradienten von Südosten nach Westen und von Nordosten nach Westen.
Karte der ersten Hauptkompo-nente der Gen-Variation in Europa (nach Cavalli-Sforza 2001: 116) als sput einer Migration von Südosten nach Westeuropa. Ein zweiter Gradient führt aus dem Nordosten nach Nordeuropa Parallel zu diesem genetische Gradienten könnten sich indo-europäische Sprachen nach Westeuropa ausgedehnt haben (Hypothese von Cavalli-Sforza).
Gibt es „Fortschritte“ in der Sprachgeschichte der letzten Jahrtausende? Vorschläge von Bichakjian (2002) • Obstruenten ersetzen glottalisierte Konsonanten, • Lange und kurze Vokale ersetzen Laryngale (der Grund wäre die leichtere neuromuskuläre Kontrolle der Artikulation), • Verlust des Duals und Abbau von Genusmarkierungen, • Ersatz von Aspektmarkierungen durch Tempus-markierungen, • Bevorzugung der Subjekt-Kategorie mit Passivierung gegen andere (Ergativ-Konstruktionen), • Bevorzugung von Kopf-Erst- gegenüber Kopf-Letzt-Positionen.
Universalien des Sprachwandels und Grammatikalisierungsprozesse • Da die Grammatikalisierung ein Prozess des Verlustes (semantischer) Information ist, ist sie gerichtet und irreversibel. Gleichzeitig muss der Verlust (dem ein organisatorischer Gewinn für das grammatische System entspricht) kompensiert werden. Der Sprachwandel stellt sich somit als eine komplexe Koppelung von Prozessen auf verschiedenen Ebenen mit Erhaltung der Gesamtinformation dar. Längerfristig kann solch ein zyklischer Ausgleichsprozess aber zur funktionalen Umgestaltung des Systems führen. • Wichtiger als die allgemeinen Verlustprozesse sind Prozesse, die das Gesamtsystem längere Zeit in einem stationären Fließgleichgewicht bleibt.
Zwei Typen von Ressourcen • a) Starre Strukturen. Sie halten ein Grundinventar von Kategorien stabil, für die jeweils Sprachformen gefunden werden müssen. Man kann von einer tiefenkategorialen Stabilität der Sprache sprechen (Position von Seiler). • Kontextabhängige pragmatische Strukturen, z.B. die Skala: Ich (Sprecher) du/er (Hörer) oder ein Inventar von Sprechakt-Typen (Searle- Hypothese).
Fazit zum Sprachwandel Die Selbstorganisation des Sprachwandels hat mindestens zwei Ebenen: (1) die des Systems, das im Wesentlichen restrukturiert wird und dazu ein Potential hat; (2) die der Sprachgemeinschaft, die sich in ihrer Zusammensetzung durch Migration veränderter kann und durch den Generationen-wechsel eine ständige Variationsquelle aufweist, deren Folgen sozial kanalisiert werden (Selektion). Das Potential wird einerseits durch die Sprachfähigkeit, andererseits durch die langfristige Systementwicklung bestimmt. Der Wandel hat Kosten (z. B. das Verwischen von Bedeutungsunterschieden durch den Lautwandel oder den Verlust von Lexemen bei der Grammatikalisierung). Diese können kompensiert werden; allerdings können auch Situationen entstehen, in denen das semantische und pragmatische Potential (die Gesamtinformation) verändert wird.
Modelle der „Selbstorganisation“ • Die Position einer abgeschlossenen Selbstbezüglichkeit, die dem klassischen Strukturalismus (F. de Saussure, L. Hjelmslev) implizit ist. Demnach wäre etwa das System Sprache ein geschlossenes System, das sich zwar unter äußeren Einflüssen selbst neu organisiert und einen Grad der Ökonomie und Ordnung (Symmetrie, Regelhaftigkeit) anstrebt, insgesamt aber nicht aus größeren Systemzusammenhängen hervorgeht oder bezüglich solcher emergent ist. Charakteristisch für die Position, die auch Chomsky seit Jahrzehnten hartnäckig vertritt, ist die Weigerung, Fragen zur historischen (sozialen, kulturellen) Genese oder gar der Evolution zu stellen oder zu behandeln. Lediglich der Spracherwerb, als Eintritt des Kindes in das bestehende System, ist begrenzt relevant. Dass die Kinder dabei partiell die Sprache neu erfinden, wird ausgeschlossen; Phänomene, wie die Kreolgenese, wo eine neue Sprache entsteht, werden als Effekt einer Biogrammatik verstanden (vgl. Bickerton, 1981).
Die Morphogenese-Position, die René Thom in Anlehnung an den Biologen Charles Waddington vertreten hat und die dem Begriff der Selbstorganisation, wie ihn kybernetisch inspirierte Forscher, z.B. von Foerster u.a., vertreten, gegenüber steht. Thom nimmt an, dass es sehr grundlegende Formgebungsprinzipien gibt, die sozusagen „hinter“ den Darwin’schen Mechanismen wirksam sind und welche mögliche Evolutionsrouten vorbestimmen. Die Darwin’sche Evolution wählt quasi über einen Zufallsgenerator und einen Selektionsfilter (der sich selbst sehr variabel mit den ökologischen Nischen verändert) aus der durch Morphogenese beschränkten Alternativenmenge aus. Die längerfristig hervortretenden Muster spiegeln aber weniger den Zufallsprozess oder die Umgebungsvariation, sondern eher die Beschränkungen für mögliche Evolutionswege wider.
Das Modell für die Evolution von Leben von Eigen und Schuster (1969) stellt das Konzept des Hyperzyklus ins Zentrum. Prozesse der Katalyse und der Autokatalyse ermöglichen eine schnelle und radikale Selbstorganisation auf molekularer Ebene. Inwieweit dieses molekulare Modell auf höhere Lebensformen und die Sprache übertragbar ist, muss geprüft werden. Letztlich muss der Begriff der Katalyse soweit verallgemeinert werden, dass er auf Phänomene der Sprache und Kultur anwendbar ist. Die Quasi-Dinglichkeit der symbolischen Medien, die Sprache als akustisches Ereignis, das Bild als visueller Input, könnte wie ein Katalysator wirken, insofern diese „Dinge“ in der Kommunikation nicht verbraucht werden. Die Art, wie Zeichen und Symbole zwischen Geist und Welt vermitteln, d.h. inwiefern sie eine vermittelnde Funktion haben, beide Ebenen in einem Dritten vereinen, muss genauer aufgeklärt werden.
Schlussbemerkungen • Viele dem Selbstorganisationsansatz entgegen gesetzte Fragestellungen haben sich in den letzten Jahrzehnten als Sackgassen erwiesen und bieten damit eine indirekte Bestätigung für die Notwendigkeit eines Selbstorganisations-ansatzes: • Dass die Sprache keine nachträglich eingesetzte Ausstattung des Menschen durch Gott ist, hat bereits Herder (1770) überzeugend dargestellt. Sie ist auch keine vom angeborenen Sprachorgan physikalisch determinierte Struktur (wie uns Chomsky lange glauben ließ). • Der Sprachwandel verläuft nicht nach ewigen Gesetzen, die in Physik und Physiologie ihr Fundament haben (siehe die Lautgesetze der Junggrammatiker um 1870). Saussure hat aus dem Scheitern des Programms der Junggrammatiker eine voreilige Konsequenz gezogen, und geglaubt, der Sprachwandel sei wissenschaftlich gar nicht zu erklären.
Eine kurze Bibliographie • Bichakjian, Bernard H., 2002. Language in a Darwinian Perspective. Lang, Bern. • Cavalli-Sforza, Luigi Luca, 2001. Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation, dtv, München. • Chaudenson, Robert, 2003. La Créolisation: Théorie applications, implications. L’Harmattan, Paris. • Dunbar, Robin, 2003. The Origin and Subsequent Evolution of Language, in: Morten H. Christiansen und Simon Kirby (Hg.), Language Evolution. Oxford U.P., Oxford (Kap. 12: 219-234). • Greenberg, Joseph Harold, 1966. Language Universals: with Special Reference to Feature Hierarchies. Mouton, Den Haag. • Labov, William, 2001. Principles of Linguistic Change, vol. 2: Social Factors. Oxford: Blackwell. • Livingstone, Frank B., 1983. Evolutionary Theory, Human Adaptations, and the Evolution of Language, in: Eric de Grolier (Hg.), Glossogenetics. The Origin and Evolution of Language. Harwood Academic Publishers, London: 163-184. • MacNeilage, P.F. und B.L. Davis, 2001. Motor Mechanisms in Speech Ontogeny: Phylogenetic, Neurobiological and linguistic Implications, in: Current Biology 11: 696-700. • Renfrew, Colin, 2000. At the Edge o Knowability: Towards a Prehistory of Languages, in: Cambidge Archeological Journal 10:1: 7-34. • Schleicher, August, 1863. Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, Bohlau, Weimar. • Thom, René, 1983. Mathematical Models of Morphogenesis. New York: Horwood (Wiley). • Wildgen, Wolfgang, 2004. The Evolution of Human Languages. Scenarios, Principles, and Cultural Dynamics. Reihe: Advances in Consciousness Research, Benjamins, Amsterdam. • Wildgen, Wolfgang, 2007. Evolutionary Pragmatics, in: Handbook of Pragmatics (hg. von Jan-Ola Östman und Jef Verschueren unter Mitarbeit von Eline Versluys). Benjamins, Amsterdam, 2007: http://www.fb10.uni-bremen.de/homepages/wildgen/pdf/05wild.pdf.